Globalisierungskritik, wie weiter? Antwort #36

Ein G-8-Treffen ist insofern ein Ritual der Globalisierung, als dass sich solche globalen Massenevents in die Tradition der Wallfahrt einschreiben. 70 Millionen Hindus pilgerten im Januar 2007 ins indische Allahabad. Deutlich weniger aber immer noch beachtliche fuenf Millionen Katholiken kamen zum Weltjugendtag 1995 nach Manila und ebenso viele zur Beisetzung von Papst Johannes Paul II. im April 2005 nach Rom. Die groesste Mekkawallfahrt fand im Januar 2005 mit 2,5 Millionen Pilgern statt. Dies zeigt zunaechst: Die globale Vernetzung durch Kommunikations- und Transportmittel legt nicht nur die technologische Grundlage fuer Welthandel und Finanzmarkt, sondern auch fuer globale Wallfahrtsereignisse.

Ausserdem zeigt dies: Die altbekannte Rede von einer globalen Netzwerkgesellschaft, die auf den lokalen Widerstand religioe- ser Identitaeten trifft, stimmt so nicht. Religion ist als solches eine gestaltende Kraft der Globalisierung. Der Berliner Politik- wissenschaftler Otto Kallscheuer vertritt, nicht ohne Augen- zwinkern, ohnehin die metaphysische Position, dass die ganze Sache mit der Globalisierung ein Projekt Gottes zur Einigung der Menschheit darstellt. Was faengt nun eine saekulare Agnostikerin, die Alternativen zur neoliberalen Variante der Globalisierung sucht, mit diesem Pilgerphaenomen an? Sie macht sich zum Beispiel nach Santiago de Compostela auf.

Eine andere Moeglichkeit schlaegt seit einiger Zeit Juergen Habermas vor. Saekulare wie religioese Buergerinnen sollen sich gemeinsam bemuehen, religioese Semantiken so zu uebersetzen, dass mit ihnen Gegenmittel zu den Pathologien einer neoliberal entgleisenden Modernisierung gefunden werden koennen. Es geht hier nicht um schnelle Loesungen, sondern um das Erschliessen grundlegender Potentiale. Eine Moeglichkeit, dieses Spiel mit der Figur der Pilgerschaft zu beginnen, ist der Zusammenhang von Lebenspilgerreise und Wallfahrt. Pilger machen sich als Wallfahrer zu konkreten, unterschiedlichen, ja umstrittenen Pilgerzielen auf.

Sie steuern diese Ziele aber im Selbstverstaendnis einer staendigen Pilgerschaft an, die dereinst ihr grosses Ziel fuer alle im Himmel findet. Aus diesem Zusammenspiel laesst sich ein grundsaetzliches Argument entwickeln. Aehnlich wie die flexiblen Arbeitsnomaden der Globalisierung sind Pilger unterwegs. Im Blick auf die himmlische Utopie erschliesst sich jedoch eine Dimension des Unterwegsseins, die aus der materialistischen Enge des Nomaden herausfuehrt.

Bestaendiges Unterwegssein muss den Menschen nicht auf ein Sichern des Minimums festlegen, sondern erlaubt es auch im prekaeren Unterwegssein den Menschen von der himmlischen Fuelle her zu denken und das fuer die ganze heterogene Pilgergemeinschaft der Menschheit. Aus dieser Perspektive sind auch die konkreten Ziele zu bewerten, vielleicht auch die von G-8-Treffen.

[Anm. d. Red.: Der Verfasser dieses Beitrags ist Lehrbeauftragter am Geschwister-Scholl-Institut fuer Politische Wissenschaft und Max Weber Fellow am Europaeischen Hochschulinstitut in Florenz.]

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