Gleichheit vs. Gemeinsamkeit

Ich moechte mich im Folgenden auf das Nachdenken ueber das >Gemeinsame< konzentrieren. Zum Einen gehe ich der Ueberlegung nach, was eigentlich Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen ausmacht, sei es beruflich oder privat. Dieses >Gemeinsame< liegt meiner Ansicht nach weder in geteilten Kindheitserinnerungen noch ist es in abstrakten Interessen auszumachen.

Gemeinsames entsteht aus elementaren, aehnlich gelagerten Erfahrungen. Erfahrungen, die in der Kindheit und Jugend liegen koennen, aber nicht muessen. Erst in einem nachgelagerten Prozess entwickeln sich hieraus Interessengebiete, die scheinbar von konkreten Erlebnissen abgekoppelt sind. Als Zweites interessiert mich der Begriff der >Gleichheit<, der nun in der Tat auf einer abstrakten Ebene ansetzt. Auf den ersten Blick scheint die >Gleichheit< der >Gemeinsamkeit< sehr aehnlich. In ihrer Wirkung laufen beide allerdings nahezu auf das Gegenteil hinaus: Waehrend Gemeinsamkeit ueber Konsens hergestellt wird, ist die Konsequenz aus dem Postulat der Gleichheit Dissens. Doch dazu spaeter mehr.

Bleiben wir zunaechst konkret. Die Einsicht, dass man einigen Personen naeher kommt als anderen, ist fuer jeden Menschen grundlegend. Ich glaube, dass diese Erfahrung in erster Linie mit gemeinsamen Interessen und / oder einer aehnlichen Sicht auf die uns umgebenden Dinge zusammen haengt. In Anlehnung daran, wie Klaus Theweleit in seinem Buch >Objektwahl< unterschiedliche Paarbildungsstrategien in der Liebe beschrieben hat, wuerde ich vermuten [ohne es bisher genauer untersucht zu haben], dass aehnliche Strategien bei der Wahl von Freundschaften und anderen Beziehungsformen existieren. [Da wir davon ausgehen koennen, dass auch jede berufliche Verbindung heute in Mustern ehemals strikt privater Beziehungen funktioniert, sprechen wir eigentlich von jedweder Bindung, die ein Mensch eingeht.] Damit modifiziere ich ein wenig Dietmar Daths Annahme, dass es in einer interessanten Freundschaft ein gemeinsames abstraktes Interesse, hinausgehend ueber geteilte Kindheitserfahrungen, geben sollte. Ich kann mir ein >abstraktes< Interesse nicht vorstellen: Interessenlagen – und seien sie noch so abstrakt – fallen nicht vom Himmel, sondern bilden sich immer aufgrund von Erfahrungen. Mit Sicherheit gibt es unterschiedliche Verknuepfungstypen, unterschiedlichen Arten der >Objektwahl< fuer eine Beziehung [Theweleit macht in der Liebe mindestens sieben oder acht verschiedene Strategien der Paarbildung aus]. Aber sie fussen auf Konkretion – und sei es in der Tat >das Grillen im Garten< [Dath].

Wenn man juenger ist, ergibt sich freundschaftliche Verbundenheit mit Sicherheit intuitiver und unbewusster und gewinnt erst mit der Zeit an Kontur und Artikuliertheit. Was sich aendert, ist – glaube ich – in erster Linie das Bewusstsein darueber, warum man eine Position mit jemand anderem teilt oder gar eine Freundschaft aufbaut, waehrend die Themen selbst sich zwar vielleicht modifizieren, einen aber das ganze Leben lang begleiten. Wie beim Freud’schen >Durcharbeiten< sucht man sich lediglich immer neue Ausdrucksformen und Gefaesse fuer sie. Die Fragestellungen werden universaler, wenn man zunehmend in der Lage ist, persoenliche Erfahrungen zu >abstrahieren< und zu den Erfahrungen anderer in Beziehung zu setzen. Ein Beispiel: Was in der Jugend eine diffuse Faszination fuer Geschichte und Revolution sein mag, koennte sich bei einem jungen Erwachsenen in das Interesse an >Widerstand< und den Ursachen von >Terror< entwickelt haben, aus dem sich spaeter das Nachdenken ueber Subjektivitaet in einer Gesellschaft herauskristallisiert. Auf einer anderen Achse funktioniert diese Entwicklung genauso: Was vielleicht zu Beginn noch an die je konkrete deutsche, amerikanische oder afrikanische Geschichte gebunden ist, wird zunehmend internationalisierter und anschlussfaehiger an fremde Erfahrungshorizonte.

Ueber mich selbst kann ich sagen, dass mich immer schon der Diskurs der Psychoanalyse und das Zustandekommen von Politik und deren Funktionsweisen interessiert haben, auch wenn ich das als Jugendliche so nicht haette ausdruecken koennen. Es waere zu einfach zu sagen, dass meine Mutter und mein Vater beide depressiv und mein Elternhaus von einem vollstaendigen Mangel politischer Reflexion gepraegt gewesen seien – und dass daraus jeweils in der Gegenbewegung das Interesse am Verstehen psychischer Vorgaenge und deren Rolle fuer soziale Interaktion sowie das starke Beduerfnis nach einer eigenen Haltung zur historischen wie aktuellen Ereignissen und Verhaeltnissen entstanden sei. Aber mit Sicherheit haben meine fruehen Erfahrungen einen grossen Anteil an den Themen, die mich heute beschaeftigen. Meine persoenliche Wahrnehmung ist, dass man sich diesen – zum Teil traumatischen – Erfahrungen stellen muss, um zum eigenen >Begehren< zu finden, wie der franzoesische Psychoanalytiker Jacques Lacan es ausdruecken wuerde. In diesem Punkt entdecke ich bei Menschen, die mich interessieren, immer wieder eine aehnliche Haltung.

Was wir aber bei aller Freude darueber, Gleichgesinnte gefunden zu haben, nicht vergessen sollten, ist, dass innerhalb des Konsenses keine Veraenderung moeglich ist. [Weiter-]Entwicklung findet nur dann statt, wenn in die Struktur mit ihren notwendigen Wiederholungen, in denen man lebt, ein Ereignis hereinbricht, das auf einmal diese Strukturen selbst in Frage stellt. Dieses Ereignis, das einen Dissens herstellt, wird von Philosophen wie Jacques Ranciere oder Alain Badiou Politik genannt. Denn, wenn man davon ausgeht, dass, unabhaengig davon, wo und in welchen Verhaeltnissen jemand geboren wird, jeder Mensch grundsaetzlich mit der Faehigkeit zum eigenstaendigen Denken, das heisst, mit Intelligenz ausgestattet ist, also >gleich< ist, dann hat man die Freiheit, diese Verhaeltnisse selbst in Frage zu stellen. Jacques Ranciere hat in vielen seiner Publikationen gezeigt, dass und wie unsere westlichen Gesellschaften auf einem hierarchischen Verstaendnis aufgebaut sind, die von der Annahme von Ungleichheit ausgehen. Aus der Analyse dieser Strukturen hat er das Axiom der Gleichheit entwickelt. An unterschiedlichen Beispielen zeigt er auf, wie nicht die Struktur unserer Gesellschaft als Ganzes angegangen werden muss, sondern wie jeder Einzelne in je singulaeren Situationen in diese Struktur eingreifen kann.

Kunst ist ein besonders geeigneter Ort, um zu eigenem Denken zu kommen, weil aesthetisches Erleben nur in der direkten, persoenlichen und singulaeren Erfahrung des Einzelnen mit einem Kunstwerk moeglich ist. Das heisst fuer jeden, dass die Kunst einem nichts erklaeren muss noch kann – der aktuelle Trend in der Museumspaedagogik beispielsweise geht meiner Meinung nach in die voellig falsche Richtung und entmuendigt den Besucher, weil er nicht das Vertrauen in die eigene Intuition und Gedankenwelt foerdert, sondern vermittelt, wie dieser Kunst zu verstehen hat. Ich hingegen glaube, dass man ein Angebot wahrnimmt, wenn man sich mit Kunst konfrontiert. Man sucht einen Ort auf, an dem man der Notwendigkeit zum Selberdenken nicht ausweichen und entkommen kann. Das ist der Grund, warum ich Ausstellungen mache: Ich nutze den Umgang mit und das Nachdenken ueber Kunst, um ueber Dinge zu lernen, in denen ich kein Spezialist bin. Wer daran teilnehmen moechte, ist jederzeit herzlich eingeladen.

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