Gemeinschaft neu denken

Heute wird das Wort Gemeinschaft mit Kommunitarismus in Verbindung gebracht, wenn nicht sogar darunter subsumiert. Ich weiss nicht genau, wann das Wort Kommunitarismus in Umlauf kam, aber es duerfte nicht lange her sein und wurde gepraegt um eine zunehmende Anzahl von intellektuellen sowie politischen Tendenzen und Bewegungen in Rechnung zu stellen, deren Wesensmerkmal darin besteht, eine akzentuierte Aufwertung der identitaeren Zugehoerigkeit zu einer Gemeinschaft zu propagieren: Eine >Gemeinschaft<, die sich in meisten Faellen ueber ethnisch-nationale oder ethnisch-religioese Kriterien definiert, mit unterschiedlichen Dosen linguistischer, religioeser und historischer, mitunter auch sexueller und generationeller Zugehoerigkeitsmerkmale.

Dabei hatte das Wort Gemeinschaft urspruenglich eine kritische Absicht: Es hat die Stigmatisierung von Ideologien angestrebt, in deren Zentrum die Idee der kommunitaeren Zugehoerigkeit stand. Diese Kritik forderte also zumindest implizit einen wenn nicht kosmopolitanen Geist, so doch wenigstens einen Geist, der nicht um die Repraesentation einer >Gemeinschaft< zentriert war.

Das Wort scheint mir heute einiges von seiner kritischen Kraft verloren zu haben und allzu gemaechlich die Referenz zu Gemeinschaften als bequemer sozio-ideologischer Index zu benennen und auf eine Tendenz zu verweisen, vor der man mehr oder weniger in die Knie geht, zutiefst jene zerstoererischsten Effekte befuerchtend, die sie haben kann. Wenn sich die kommunitaere Zugehoerigkeit durch diverse Formen des Ausschlusses uebersetzen muss, welche sich nicht in Kriterien der Zugehoerigkeit erschoepfen und/oder durch Formen der aggressiven Expansion und Annektion von Personen, Guetern oder Territorien, dann ist die kommunitaristische Ideologie in der Tat bedrohlich. Und sie ist es in jeder Massnahme oder Forderung einer >Gemeinschaft<, die sich auf dem impliziten oder – schlimmer noch – unbewussten Grund eines Gefuehls des Verlusts oder der Zerbrechlichkeit dieser Gemeinschaft formt. Wenn sich eine Kollektivitaet mit sich selbst in eins gesetzt fuehlt – in ihrer Sprache, in ihrer politischen und kulturellen Verfassung, etc. -, hat sie nicht das Beduerfnis sich zu bekennen. Wenn im Gegensatz dazu die Evidenz ihrer Konsistenz und ihrer Natur und reellen Existenz abgeschwaecht oder verloren ist, kommt das Beduerfnis auf, sie zu reklamieren.

Der Kommunitarismus ist die im Grunde genommen aussichtslose ideologische Forderung einer fantasmatischen >Gemeinschaft<. Und diese Fantasmen sind immer bedrohlich. Wichtig ist aber der Grund, aus welchem das Fantasma Gestalt annimmt: Der Grund ist der Verlust der Fixpunkte vorheriger Gemeinschaften, die viel weniger identitaer ausgerichtet waren, wenn man so sagen darf. Gemeinschaften des Landes, der Regionen, der Doerfer, der Sprachen, sowie der Religionen, Kulturen, welche aber nicht an eine Idee oder ein Bild >DER Gemeinschaft< appelliert haben. Es ist ein wenig vergleichbar mit den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts: die Voelker, die sich in jener Epoche als >Nationen< und als >Nationalstaaten< konstituierten, hatten bereits ihre >Volkspersoenlichkeiten<: aber die Geburt der Nationen hatte die uns bekannten Kriege zufolge. Derweil hat die >Unabhaengigkeit< der jungen Nationen die Progressisten in ganz Europa begeistert!

Das, was ich versuche als >Gemeinschaft< zu verstehen, birgt keine Bedrohung fuer die Gesellschaft in sich. In der Tat wuerde ich gerne versuchen zu denken, dass das Gemeinsam-Sein kein Gemeinwesen ist, das heisst, dass es kein Sein, keine Substanz, kein gemeinschaftliches Subjekt ist. Es gibt nicht so etwas wie >das Deutschland< oder >den Islam<, auch nicht >die elsaessische Kultur< oder >die maskuline Homosexualitaet< als Essenz einer Realitaet sui generis. Man sollte hier resolut nominalistisch sein: Es existieren nur Singularitaeten, was nicht sagen will Individuen – ein Individuum koennte als eine Vielzahl von Singularitaeten durchgehen, im Umkehrschluss kann eine Gruppe, beispielsweise eine Gruppe der Militanten oder der Freunde, eine Singularitaet sein. Kollektive Wesen, Gemeinschaften, bestehen in Namen, die deshalb sicherlich nicht des Sinns beraubt sind, die man aber dennoch als Namen, Indizes, Markierungen, Einfluesterungen zu behandeln hat.

Die Idee einer Gemeinschaft ist die einer Interioritaet, die von einer rein sozialen Exterioritaet zu unterscheiden ist. Aber diese Interioritaet hat nichts Vergleichbares von der Interioritaet eines psychischen Subjekts [wenn es so etwas gibt] an sich. Gemeinsam-sein, das bedeutet Mit-Sein oder Mitdasein, wie sich mit Heidegger sagen liesse. >Mit< bedeutet weder drinnen noch draussen, sondern Seite an Seite und in der Naehe. Was ist diese Naehe? Die kleinstmoegliche Distanz, aber dennoch Distanz. Die Naehe des >Gemeinsamen< ist jene Naehe, die von der Tatsache herruehrt, dass wir von einander losgeloest sind – losgeloest und ohne Verschmelzung oder Verwechselung, ohne mystische >Kommunion< zumindest im gelaeufigsten Sinne des Wortes. Eine Losgeloestheit allerdings, die nicht frei ist von unterschiedlichen Verbundenheiten und Angliederungen: durch die Sprache, den Affekt, das Verhaeltnis [rapport], das unseren allgemeinen Zustand ausmacht. Wir sind nicht Wesen der Autarkie, sondern Wesen des Verhaeltnisses. Im Verhaeltnis haben wir sowohl eine individuelle oder persoenliche als auch gemeinschaftliche Existenz. In der Tat sind beide ununterscheidbar. Ich bin >gemeinsam<, wenn ich allein bin mit mir und ich bin es auch auf der Strasse, im Stadion oder im Zug. Was uns im Verhaeltnis zustoesst, ist das, was man >Sinn< nennt: Es ist die Tatsache, dass es Sinn gibt und dass es ihn nur im Austausch unter Vielen gibt.

Es gibt keinen Sinn fuer ein isoliertes Wesen. Und dieser Sinn ist niemals von sich aus universell, er verteilt sich unverzueglich in Zonen, in Bezirke, in Gruppierungen von Sinn: Sprachen, Sitten, Verhaltensweisen, etc. Eine solche Gemeinschaft teilt eine Modalitaet des Sinns. Allerdings gilt es zu beruecksichtigen, dass es keinen finalen Sinn gibt, weder fuer eine Gemeinschaft, noch fuer die Gesamtheit aller Gemeinschaften. Denn Sinn gibt es nur in der Zirkulation der Austauschstroeme und nicht in einer imaginaeren [fantasmatischen] Konklusion. Nun aber bin ich ueberzeugt, dass die reellen Gemeinschaften – seien sie Gemeinschaften des Dorfes oder des Stadtteils, des Metiers oder des Alters, des Kultes oder der Kultur – auf sehr spontane Weise diese Zirkulation und diesen Austausch regeln. Nur wenn sie sich verloren fuehlen, neigen sie dazu sich in einer ersten und letzten Bedeutung, in einer Essenz und manchmal auch in einer Rasse oder in einem Volk [in der substanziellen Bedeutung des Wortes] oder auch in einem religioesen Gemeinwesen aufzustellen.

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