Gemeinsam sitzenbleiben

Streiten wir über Bildung, geht es meist um Methoden. Dabei ist eine viel grundlegendere Diskussion über das gesellschaftliche Zusammenleben notwendig – findet die Künstlerin Susanne Stövhase. Doch reden allein reicht nicht. Deshalb ist sie selbst aktiv geworden und hat 2002 eine freie Schule mitgegründet und aufgebaut.

Meine Schulbiografie war stark durch die 70er Jahre geprägt. Uninspirierte Schule, Lehrermangel, und Normorientierung. Viele von uns SchülerInnen widersetzten sich der Selbstgefälligkeit der Gesellschaft und verweigerten sich dem herrschenden Leistungsdenken – eine Klasse meiner Schule blieb damals kollektiv sitzen.

Den Sog des Funktionierens unterbrechen

Als das Buch von A.S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung herauskam, erschien es uns wie eine Offenbarung. Im Kunststudium erfuhr ich dann das extreme Gegenteil von instruktiver Vermittlung. Vollkommene Selbstbestimmtheit gepaart mit der Herausforderung lernen zu müssen und dann innerhalb dieser Freiheit manövrierfähig sein.

Die Motivation der Studenten war hoch, was mir seinerzeit als Qualität nicht bewusst war, da das Kunststudium eine persönliche Positionierung impliziert. Dies geschah erst später, als ich mit anderen Eltern eine Schule gründete und im Zuge dessen, mit alternativen pädagogischen Konzepten vertraut wurde.

Verblüffend an diesen Konzepten war für mich die Erkenntnis, dass sie Überschneidungen mit künstlerischen und wissenschaftlichen Verfahren aufweisen. Indem neue Beziehungen zwischen Dingen hergestellt werden, wird der Sog des störungsfreien Funktionierens unterbrochen und es entstehen alternative Perspektiven.

Infragestellen ohne Konsequenzen

Innerhalb dieser Lernkultur werden Kinder nicht mit Faktenwissen gefüttert, sondern ermutigt persönliche Zugänge zu Themenkomplexen zu entwickeln. Sie gestalten und organisieren ihre Lernwege zu einem großen Teil selbst und kooperativ. Die Pädagogen verstehen sich als Begleiter, Fehler gelten als Hypothesen in Lernprozessen und nicht als Defizite. Dass Kinder in einer derartigen Lernkultur hoch motiviert sind und auch ohne Noten leistungsbereit, erlebe ich in der Praxis des Schulalltags meiner Kinder täglich.

Viele misstrauen einer solchen Form des Lernens, sie fürchten Kinder könnten nicht genug lernen, wenn sie ihre eigenen Lernwege gestalten dürfen. Sie identifizieren Schulbildung mit messbaren Ergebnissen. Andere positionieren sich gegen eine Auffassung von Lehren und Lernen, die im Fortschrittsglauben der Aufklärung wurzelt und im Einüben vorgegebener Fakten die ideale Wissensvermittlung sieht.

Die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit zeigt, dass die Infragestellung der klassischen Bildungspraxis sich zwar zunehmend Raum verschafft, die Konsequenzen hieraus jedoch kaum oder nur zögerlich umgesetzt werden. Tatsächliche Veränderungen sind meist Resultate von Selbstermächtigungsaktivitäten einzelner Initiativen, die an der Gestaltung eines neuen Begriffs von Wissen und Lernen arbeiten.

Das Bildungssystem transformieren, nicht reformieren

Die mangelnde politische und gesellschaftliche Resonanz liegt möglicherweise an der Trägheit des Systems, viel wesentlicher scheint mir jedoch, dass der Bildungsdiskurs zu sehr auf der Methodenebene geführt wird. Dahinter steckt ein Optimierungsgedanke, der auf dem linearen Denken des Industriezeitalters beruht.

In der komplexen und dynamischen Welt des 21. Jahrhunderts kommt das Prinzip der Linearität, Konformität und Standardisierung jedoch an ihre Grenzen. Die Zukunft lässt sich nicht mehr in gewohnter Weise planen, und was sie uns bringen wird, ist nicht einschätzbar. Die Fähigkeit innerhalb dynamischer Prozesse manövrieren zu können, wird ein wesentlicher Faktor für die Zukunft sein.

Aber auch der Umgang mit den globalen Krisen und die Frage, wie wir auf diesem Planeten zusammenleben wollen, stehen als Herausforderungen im Raum. Angesichts dessen plädiert der britische Bildungs- und Kreativitätsexperte Sir Ken Robinson für eine radikale Transformation des Bildungssystems. Den Begriff der Reform lehnt er ab, da sie nur dazu dient, ein bereits defektes Modell notdürftig zu reparieren.

Er kritisiert, dass innerhalb unseres normorientierten Bildungssystems individuelle Potenziale nicht entwickelt werden können. Im gesellschaftlichen Übergang von der Ressourcennutzung zur Potentialentwicklung, wie sie der Hirnforscher Gerald Hüther beschreibt, zählen nicht mehr Wettbewerbsdenken und Egozentrik, sondern Kreativität, Kooperation und soziale Resonanz. Hierüber nachzudenken, ist die eigentliche Herausforderung im Kontext der gegenwärtigen Bildungsdiskussion.

7 Kommentare zu “Gemeinsam sitzenbleiben

  1. Sehr interessanter Beitrag. Liegt dem Konzept ihrer freien Schule auch ein antiautotritäres Erziehungkonzept zu Grunde?

  2. Auch von mir danke! Haben Sie denn das Gefühl, dass dieses freiheitliche Bildungsprinzip ihre Kunst beeinflusst?

  3. Ich kann, was das pädagogische Procedere anbelangt, nur ins gleich Horn blasen und dazu auffordern und ermutigen vor Ort intitiativ zu werden,.
    Wo Bildungsdiskussion zur Selbstdarstellung und zum Aussitzen von Problemen dient, kann ich nur dazu auffordern sich aus diesem Zirkus auszuklinken.
    Diejenigen, die mit hochdotiertem Fachwissen glänzen und die Pädagogik mit ihren Ergüssen überschwemmen, sind zumeist Jene, die immer hinterher schlauer sind und uns sagen können, warum mal wieder etwas in die Hose gegangen ist.
    Es handelt sich bei ihnen zumeist nicht um die Lehrer, die vor Ort ihren Mann oder auch Frau stehen müssen. Aus einer gesicherten Position heraus spielen sie ihre Rolle als pädagogische Überväter oder Mütter, ohne sich selbst einbringen und beweisen zu müssen, wie kompetent sie den Alltag, den pädagogischen Moment meistern und beleben.
    Wie es eigentlich sein sollte, wie man den pädagogischen Alltag meistern und sinnvoll gestalten kann, wissen sie alle sehr wohl, nur wenn man ganz überraschend solchen Koryphäen in ihrem Alltagsgeschäft auf den Zahn fühlt, dann gibt es nur ein dezentes Upps, das muss ich dann noch einmal überdenken und schon wird wieder eine neue Idee ausgebrütet, die als pädagogisches Glanzstück nachgetanzt werden soll.
    Pädagogik wird in jedem Augenblick neu geschrieben, in dem Lehrende und Lernende zusammenkommen, aber es ist der Moment, der darüber entscheidet welchem Kind , welchem Jugendlichen, welchem Erwachsenen Mut gemacht wird in jeder Situation zu lernen. Eigentlich braucht es nur ganz wenig, um pädagogisch zu handeln, Taktgefühl, Liebe zum Menschen und das Wissen um die eigenen Schwächen. Fehler machen dürfen, sprich sie als Ansatz für Erkenntnis zu nehmen, betrachte ich als den wichtigsten Schritt meiner eigenen pädagogischen Entwicklung.
    Die Freiheit Fehler machen zu dürfen, wird von Unterrichteten immer überrascht bei erster Konfrontation registriert, dann aber begeistert umgesetzt, deshalb setze ich sie begeistert ein.
    Leider sind meine Schüler und ich immer noch in ein System von Noten und Benotung eingebunden und so haben wir nach einem neuen Weg gesucht.
    Meine Schülerinnen und Schüler bestimmen selbst den Wert ihrer Leistungen, diesen Wert argumentativ zu begründen befähigt sie sowohl selbstkritisch zu sein, wie auch nach Verbesserungen zu suchen. Das ist zwar für beide Seiten nicht ganz unproblematisch aufgrund unterschiedlicher Ansichten, wenn aber Argumente und Gegenargumente ohne repressiven Unterton vorgebracht und akzeptiert werden, kann aus diesem Prozess gegenseitiger Respekt als zusätzliches Ergebniss und Fortschritt generiert werden.
    Doch das Dilemma mit der Wertigkeit von Noten bleibt, denn unsere Gesellschaft besteht ablesbare Kurzformeln für die Beurteilung ihrer Mitglieder.
    Hermann – J. Stumm

  4. interessante Punkte! gute Inspiration! Frauenpower ist wichtig!

    Fehler sind wichtige, wenn nicht sogar zentrale Lernquellen. Das weiß selbst Reinhold Messner. Warum können die anderen Doofis in der Politik nicht endlich auch mal lernen, dass das so ist?

    Selbstinitiativen zeigen häufig den Weg — das stimmt. Wir brauchen diese Inspiration, und wir müssen es selbst machen, wenn es sonst keinen gibt, der uns das zeigt.

    Für den Literaturhinweis zum Schluss bin ich dankbar. Und der Punkt am Ende stimmt:

    Warum sollte man ein defektes System reformieren?

    Kaputt ist Kaputt.

    Also macht kaputter was Euch kaputt zu machen machen droht!

    Just a click away

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