Wo beginnt der Krieg? Widerstände gegen militärisch-industrielle Forschungs-Black-Boxes

Das Cyber Valley in Tübingen, der feuchte Traum technikaffiner PolitikerInnen mit blinkenden Dollarzeichen in den Augen, soll so etwas wie das deutsche Silicon Valley werden. Forschung, Militär und Wirtschaft werden unter den Vorzeichen von KI zu einem intransparenten Amalgam. Doch es gibt Fragen, es gibt Kritik, es gibt Widerstände. Der Berliner Gazette-Autor und Technikforscher Christian Heck – selbst an der Initiative NoCyberValley beteiligt – setzt sich für einen aufgeklärten KI-Diskurs ein.

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Recensio, Latein für Musterung, quantitative Prüfung, Bestandsaufnahme: Wo stehe ich, und wo stehen Sie eventuell nach der Lektüre des heute von mir zu kritisierendem Buche, in dem der Autor Christoph Marischka (Mari) das Cyber Valley als Teil eines allgemeinen “Unfall des Wissens” versteht. Er nimmt hierbei direkten Bezug zu einer Denkfigur des 2018 verstorbenen französischen Querdenkers Paul Virilio.

Ums Querdenken soll es im Folgenden gehen: So schreibe ich heute nicht über den Autor und sein Werk, sondern versuche mit ihm zu schreiben. Ich lernte Mari vor etlichen Jahren in Karlsruhe kennen. In das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) lud das Netzwerk Terrorismusforschung e.V. (NTF) zu einer Workshoptagung zum Thema “Vom Cyberterrorismus zum digitalen Bilderkrieg” ein. Ich hielt dort einen Vortrag mit dem Titel “o͈̮p̢ęr̕a͠t̶̨i͟oǹ͓̜a̵l̷ glit̶̨ć̶̛he͝s\”. Abends draußen vor der Türe kamen wir ganz klassisch ins Gespräch: “Hast du Papers?” / “Ja klar. Wieviel brauchst du?” / “Eins reicht. Danke.” / “Und, wie fandest du’s?” / “Hmm… ganz ok… die Straße liegt halt woanders.” / “Ja… das stimmt… der Strand auch!”.

Unter dem Pflaster liegt der Strand

In einem ersten Vorabdruck seiner gleichnamigen Publikationsreihe Unter dem Pflaster liegt der Strand, begann 1973 der Ethnologe und Kulturhistoriker Hans Peter Duerr wie folgt zu fragen: “Was bedeutet es, wenn man versucht, alle Erfahrungen, die man macht, zu erklären? Das, was wir erfahren, sind wir versucht zu sagen, ist nicht eigentlich das, als was es uns erscheint, im Grunde ist es etwas anderes, etwas, das unserem Blick zunächst verborgen ist.”

“Wir lernen ein Ding kennen, entweder indem wir um es herumkreisen oder indem wir in es eindringen.” (Henri Bergson, 1903)

Wie ein Reisebericht, so führt uns Mari während der Lektüre ein, in die Welt seiner Erfahrungen, die er machte, während er im “Bündnis gegen das Cyber Valley” aktiv versuchte, quasi vor seiner Wohnungstür, die Entstehung dieses Forschungscampus zu verhindern. Er gewährt uns durch eine stetig wechselnde Perspektive von literarischer und wissenschaftlicher Beschreibung einen inneren Zugang, welcher aus der Realität unseres eigenen jeweiligen Lebensalltags heraus seinen Ursprung nehmen kann. Nicht zuletzt, weil das Buch, als ein Ganzes betrachtet, in angenehmer Abwechslung einmal nicht versucht, mir ein ‘Verstehen’ dieser komplexen Forschungsblackboxen in unserem Lande á la wanna-be-silicon-valley, zu suggerieren.

Dieser innere Zugang ermöglichte mir ziemlich schnell, eigene Standpunkte einzunehmen, in manchen Fällen vor-schnell. Doch diesen inneren Zugang benötigen wir, wollen wir uns gemeinsam in diese Debattenkultur hineinbegeben. Hinzu kommt die Notwendigkeit eines gewissen Unterbaus analytisch-wissenschaftlicher Methodik, um unseren Argumenten in diesen Debatten ein gesellschaftliches Standvermögen zu verleihen. Das heißt, sie öffentlich zu vertreten, noch während wir versuchen um die besagten Produktionsbedingungen Künstlicher Intelligenzen herum zu kreisen. Mari setzt diesen in seinen “sozialwissenschaftlichen Kontextualiserungen”.

Dort nimmt er notwendige Konzepte zum Gesamtverständnis dieses bundesweiten Umschwungs in der Forschungslandschaft kontextuell auseinander, so beispielsweise, wenn er Nick Srniceks Konzept des Plattformkapitalismus, sehr nachvollziehbar dem Zuboffs Überwachungskapitalismus gegenüberstellt. Auch seine Kritik an der “Kybernetisierung Tübingens”, wie er den Produktionsprozess dieses “KI-Ökosystems im Neckarthal” bezeichnet, verortet er folgerichtig ins Hier & Jetzt. Die Historizität, welche Big Data und der Forschung an Künstlichen Intelligenzen inne liegt, sie ist untrennbar von der Geschichte der Kybernetik.

“Jesus, do we have to explain why we do these things?”

Das Zitat oben ist Antwort der Trump-Administration auf Nachfrage zu den Hintergründen der gezielten Tötung durch eine Predator-Drohne u.a. des iranischen Kommandeurs Soleimani

Noch sinnlose KI-Produkte werden heute in unser jeweiliges Alltagsleben hineingeworfen, nicht etwa, weil wir sie bräuchten. Auch nicht, weil wir unseren Alltag ohne sie als sinnlos erachten würden, nein, um diese neuen Technologien aufzuladen mit Unschärfen und Zweideutigkeiten. Sie mit unserer jeweiligen Lebenserfahrung aufzuladen, mit unseren Erlebnissen, um ihnen auf diesem Wege Bedeutung zu schenken, ihre gesellschaftliche Bedeutung, während wir sie gebrauchen. Ganz so wie wir es auch mit neuen Begriffen handhaben. Wir lernen Begriffe neu kennen, indem wir uns unterhalten, indem wir mit anderen Menschen sprechen, diese Begriffe also „gebrauchen“. Und “die Art, wie dieser Gebrauch in unser Leben eingreift“ sei ihre Bedeutung (Wittgenstein, »Philosophische Grammatik«). Doch sich miteinander unterhalten und für KI-Tools in ihrem Beta-Stadium als ein trial und ein error zu agieren, sind nicht nur im Gebrauch gänzlich unterschiedlich. Auch in ihrer Dauer.

Dies ist nur einer der Gründe, warum unsere Bundesregierung in der KI-Forschung immer stärker auf eine “schnelle Umsetzung neuer Forschungsergebnisse in Praxis und kommerzieller Nutzung” drängt, von der Grundlagenforschung ganz schnell in einen applikativen Alltag hinein. Schon seit über einem Jahr lässt sie hierfür mit dem Label “AI made in Germany” Kompetenzzentren bauen. Auch die Grundbausteine des Cyber Valleys wurden ohne jede öffentliche Diskussion gelegt. Markus Söder baut sich seine “bayrische KI-Fabrik”, indem er 100 neue Lehrstühle für die Forschung an KI an bayrischen Hochschulen besetzen lässt und Facebook richtete sich mit dem Institute for Ethics in Artificial Intelligence in der TU München. Naja, und Google sitzt ja bekanntlich schon ziemlich lange in der Humboldt- Universität in Berlin.

Begriffsstutzigkeit

Konvergenzen wirtschaftlicher und staatlicher Lenkungsinteressen die hieraus entspringen, öffentliche, militärisch-industrielle Forschungsblackboxen wie auch das Cyber Valley eines ist, sie benutzen schon lange keine Begriffe mehr, wie beispielsweise den DUAL USE um Kriegstechnologien im Einsatz zu verharmlosen. Der DUAL USE ist längst ein nicht wegzudenkender Teil unserer Wirklichkeit geworden. Auch, wenn wir diesen nicht immer sehen können, zumindest nicht im Sinne von intellegere, von ‘einsehen’ von ‘erkennen’. Vielleicht auch, weil die menschliche Intelligenz einem Methodenzwang unterliegt, welcher sich im Logischen und seinen Gesetzmäßigkeiten bewährt.

Vielleicht müssen wir also, neben der Anwendung von analytisch-wisenschaftlichen Methoden, sprich “allgemein anwendbaren Regeln für unser Handeln, die es uns gestatten, aus unendlich vielen Handlungsalternativen die angemessene auszuwählen” (Georg Trogemann, in »Algorithmen im Alltag«), unseren Blick auf die jeweiligen neuen Technologien und ihren Gebrauch als Herrschaftsinstrumente im selben Maße in Richtung eines gemeinsamen Kreierens von Möglichkeitsräumen lenken, um gesellschaftsrelevante Fragestellungen ebenbürtig auszuformulieren. Möglichkeitsräume zum Querdenken. Zum Querdenken einer etablierten Ideengeschichte.

Denn unsere geistigen Gewohnheiten können wir nicht trennen von der von uns errichteten Ding-Welt, von unseren sozio-, sowie auch unseren antisoziotechnischen Systemen, durch die wir menschlichem Leben ein zu Hause schenken. Letzten Endes müssen wir somit selbst, ein jeder von uns und gemeinsam mit anderen Wege finden, Wege schaffen, sich erkämpfen, um irgendwie dazu in der Lage zu sein, unser Handeln nicht ausschließlich den Gesetzmäßigkeiten des Logischen zu unterwerfen und gemeinschaftlich Wirklichkeiten gestalten können. Sagen zu können, was man nicht mehr sieht, um handeln zu können, wie man nicht sollte.

In welcher Welt wollen wir leben?

Fragestellungen, wie sie beispielsweise auf einem Plakat des »Bündnis gegen das Cyber Valley« stehen: “In welcher Welt wollen wir leben?”, dies sind nunmal keine intelligenten Fragen. Doch, ohne diese Fragen, fragen wir nicht. Beispielsweise eben, warum es heutzutage dennoch nicht unsinnig ist, zu behaupten, dass der technologische Vorsprung westlicher Staaten einen bedeutenden Einfluß auf die Autonomisierung (αὐτός autós ‚Selbst‘ – νόμος nómos ‚Gesetz‘) der Technologien westlicher Streitkräfte übt. Tödliche Technologien, bei denen es sich in erster Linie jedoch um alltäglich scheinende wie etwa der Mechanik, der Sensorik und Datenverarbeitung handelt. Technologien, die eben auch im Cyber Valley erforscht werden: “Man forscht an militärisch relevanten Technologien, leugnet aber jede Verantwortung für ihre Verwendung. Man spricht zwar von einer Konkurrenz der Großräume, ignoriert aber deren aktuelle Aufrüstung gerade im Bereich der Informationstechnologien. Man nimmt das Geld, das Politik und Industrie bereitstellen, und bezeichnet sich zugleich als unabhängig.”(Mari).

Wie unterhalten wir uns also miteinander über KI-Forschungsblackboxen und ihren gesellschaftlichen und kulturellen Konsequenzen? Was geschieht mit uns, wenn wir in diesen Debatten um die Forschung und einen breitgefächerten Einsatz von neuen Technologien in Kriegs- sowie auch an den Orten des Friedens, aber auch einfach nur unter uns, da draußen auf der Straße, da drinnen im Privaten, was wenn wir beim Erzählen unserer Erlebnisse auf scheinbar unüberwindbare Grenzen stoßen? Wie kann das, was “unserem Blick verborgen ist” zu einem Sprechen und zu ganz konkreten politischen Handlungen führen, denn “das Sprechen ist die zentrale Tätigkeit im Politischen“(Aristoteles). Benötigen wir hierfür neue Begriffe, um uns diesen politischen Handlungsraum zu erschließen? Und wenn ja, wie fragen wir gemeinschaftlich nach deren Benennung?

“Sollten wir (beispielsweise) in Analogie zur Forschung an der Atombombe im Zweiten Weltkrieg von einer ‘Intelligenzbombe’ sprechen, die gegenwärtig entwickelt wird? Der populäre wissenschaftliche Diskurs legt das nahe und in jüngster Zeit haben prominente Wissenschaftlerinnen wie Stephen Hawking oder Tesla-Chef Elon Musk Künstliche Intelligenz als Bedrohung der Menschheit bezeichnet.” (Mari). Sie verkünden einen Tag X, an dem die Künstlichen Intelligenzen die Macht ergreifen werden, Ki stellt „ein fundamentales Risiko für die Existenz der menschlichen Zivilisation“ dar, “gefährlicher als die Atombombe”, somit ist die Forschung an „KI ein seltener Fall, in dem wir proaktiv statt reaktiv bei der Regulierung sein müssen“ (Musk, 2017). Nicht nur die Intelligenzen sind für Musk bekanntlich im selben Maße künstlich, wie bedrohlich, nein, auch die Wälder. Handelt es sich hierbei vielleicht um eine erweiterte Form der Technik des Preppens? Sind deren Akteure etwa RadiPre’s (Ein Begriff den kürzlich die “Kommission zur Beleuchtung der Prepper-Szene” vorschlug)? Oder geht es ihnen um etwas anderes?

Big Global Spekulatius

Diesen Möglichkeitsraum des gemeinschaftlichen Querdenkens, den wir uns ständig neu erkämpfen müssen, den nannte Hannah Arendt einst “die Bühne der Welt”. Bühnen, welche im Gegensatz zu den öffentlich aufgeführten Stücken, die ja immer dann ins Absurde driften, wenn sie von Big Global Playern bespielt werden. Playern wie Amazon, deren Akteure in Aneignung der Denkweise des Spekulierens, wissenschaftliche Objektivität und öffentliches Denken in weite Ferne rücken lassen.

Wir erfahren während der Lektüre, immer dann, wenn Mari emotional aufbrausend wirkt, in anderen wiederum ganz intim wirkt, seine innere Zwiegespaltenheit mit sich selbst, welche in der Natur der Sache liegt, bedenkt man, dass er nun schon bald zwei Jahre gegen Mächte und ihre öffentlich ausgespielten Herrschaftsinstrumentarien anzukämpfen weiß und sich von Rückschlägen dennoch nicht im Unaussprechlichen verliert. Im Gegenteil, gerade jene Passagen, in denen dies innere Zwiegespräch mit sich selbst hindurchbricht, dies Gespräch, welches Arendt kurz Denken nannte, diese Passagen lassen die „personale Einzigartigkeit des Wesens eines Menschen, die ihn sprechend und handelnd auf die Bühne der Welt treten lässt“ durchscheinen. Von diesen Tübinger Bühnen erzählt uns Christoph Marischka in seinem Buch.

“Alles was ich sehe, ist prinzipiell in meiner Reichweite, zumindest in der Reichweite meines Blickes, es ist vermerkt auf der Karte des ‘ich kann’.” (Maurice Merleau Ponty)

Anm. d. Red.: Das Buch Cyber Valley – Unfall des Wissens ist im PappyRossa-Verlag erschienen. Das Bild oben stammt von Rolf Dieter Brecher und steht unter der CC-Lizenz CC-BY-2.0.

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