Relikte des Sozialismus: Polens Ostseeküste ist ein Freilichtmuseum der organisierten Freizeit

Polen ist im Umbruch. Doch während moderne Gebäude aus den Böden der Großstädte schießen, scheint die Zeit in der Provinz stehengeblieben zu sein. Die Kurorte Polens, einst beliebte Urlaubsanlagen, gleichen heute rostenden Freilichtmuseen des Sozialismus. Vergessene, verlassene Relikte des alten Systems erinnern daran, wie der Mensch im Sozialismus seine Freizeit verbrachte. Berliner Gazette-Autorin Karolina Golimowska zeichnet ein Bild der Freizeitanlagen – damals und heute.

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Im sozialistischen Polen gab es klare Vorschriften, wie der sozialistische Mensch seine Freizeit zu verbringen hatte. Der berufstätige Erwachsene war grundsätzlich angestellt, manchmal war er krank geschrieben und wurde nach über 40 Jahren Arbeit pensioniert. Alles war strukturiert, durchdacht, effizient und gleich. Nichts von wegen freischaffender Künstler oder Selbständiger.

Ein angestellter Mensch war ein glücklicher Mensch, der zwei Mal im Jahr Urlaub machen konnte und sollte. Sein Betrieb schickte ihn und seine Familie meistens in eine Freizeitanlage am anderen Ende des Landes, wo er sich mit seinen KollegInnen und deren Familien erholen konnte und sollte. Der angestellte Mensch des Sozialismus war grundsätzlich verheiratet und hatte Kinder. Und so wie sein Leben und sein Alltag, war auch seine Freizeit geplant und organisiert. Es entstand ein spezielles Freizeitvokabular, das mittlerweile kaum noch benutzt wird.

Freizeit, die nichts dem Zufall überlässt

In einer Freizeitanlage gab es drei Mahlzeiten am Tag, meistens um 8, 13 und 18 Uhr, die die Urlauber in einem Speisesaal zu sich nahmen. Tagsüber wurden Sportaktivitäten für Erwachsene und Kinder, Wettbewerbe, Spiele und vieles mehr angeboten. Am Abend nach dem Essen konnte man auch tanzen, denn jede Freizeitanlage verfügte über einen “Dancingraum”, meistens im Keller, in dem oft eine Live-Band spielte, während man alkoholische Getränke zu sich nahm. Aber Achtung: Ab 22 Uhr war Nachtruhe.

Eine der berühmtesten “Dancingraum”-Geschichten kennt man in Polen aus dem Lied Jesteśmy na wczasach (“Wir sind in den Ferien”) von Wojciech Młynarski. Darin bricht Fräulein Krysia seit Jahren die Herzen der Männer. Von weiteren Versuchen, jede Minute der Freizeit zu verplanen, erzählt der Kultfilm Rejs (“Schiffsreise”) von 1970. Der Film wird oft als Beispiel des speziellen polnischen Humors genannt und ist angeblich für die meisten Nicht-Polen weder verständlich noch witzig.

Der Streifen ist nach wie vor eine der berühmtesten Komödien Polens, aus der es viele Ausdrücke in den Alltagsgebrauch geschafft haben. 1999 ernannte ihn das Wochenmagazins Polityka zum besten polnischen Film aller Zeiten. Das sind nur zwei von vielen künstlerischen Antworten auf das politische System, das keine Antworten wollte und auf die meisten mit Zensur reagierte.

Bröckelnde Spuren der organisierten Freizeit

Obwohl 22 Jahre vergangen sind, seit der Kommunismus in Polen abgeschafft wurde, findet man seine Spuren überall. Viele Orte an der polnischen Ostseeküste sehen aus wie Museen des alten Systems. Die traurigen, verlassenen und vergessenen Freizeitanlagen, mit verfallenden Speisesälen und leeren Schwimmbädern. Kleine, seit Jahren nicht bewohnte Ferienhäuschen für Kleinfamilien.

Die Wellenbrecher aus Beton, die jetzt aus dem Wasser am Strand von Darłówko herausschauen wie außerirdische Raumschiffe. Kleine auseinanderfallende und klotzige Plattenhäuser in Dąbki. All das in einer wunderschönen Landschaft, umgeben von Dünen und breiten weißen Sandstränden.

Oft hat man das Gefühl, dass die Zeit ist dort stehengeblieben. Dann wird einem das Konzept der organisierten Freizeit klar. Aber auch, wie viel sich im Leben der Leute in einer relativ kurzen Zeit geändert und wie verschieden die Jugend meiner Generation und die meiner Eltern ausgesehen hat. Es wird noch lange dauern, bis die Spuren der Freizeit der Volksrepublik Polen verschwinden werden. Vielleicht stellt man sie auch irgendwann unter Denkmalschutz: als Relikt, als Erinnerung, als Warnung.

Anm. d. Red.: Das Foto stammt von Alexander Gumz.

12 Kommentare zu “Relikte des Sozialismus: Polens Ostseeküste ist ein Freilichtmuseum der organisierten Freizeit

  1. Schön! habe die polnische Ostseeküste ja auch vor 2 jahren im Sommer bereist und einige dieser Relikte besichtigt. Stehen in einer grotesken Konnotation zum heutigen Rummel dort. Die ganze Küste ist im Sommer eine einzige Kirmes mit Riesenrad und Geisterbahn. Grossartig.

  2. danke! ich lese Deine Texte immer wieder sehr gern. Meine Vorfahren kommen aus Polen aber ich selbst hab nicht so oft die Gelegenheit, dorthin zu reisen. Deine Teyte sind dann wie eine kleine reise für mich! :)

  3. Also, wir waren letztes Jahr mit dem Fahrrad auf der Halbinsel Wolin unterwegs.Die Landschaft, insbesondere direkt an der Ostsee, ist wunderschön. Wir haben dann, weil uns ein Gewitter überraschte, in einem Dorf bei netten Leuten übernachtet. Leute, es muss nicht immer alles perfekt sein und außerdem: Wer woanders hinfährt, will nicht das sehen, was er auch schon zu Hause hat!

  4. Ich habe den text gerne gelesen. Ein bischen Wehmut schwint ja auch mit, oder?

  5. @liliental: ja, natürlich, und Sehnsucht!
    @Jürgen: mir ging es nicht um die Qualität der Urlaubszeit, sondern um die brutale Präsenz der schwierigen Geschichte in dieser traumhaften Landschaft.

  6. Karolina: Jedes Land hat seine Geschichte und seine sichtbaren (und unsichtbaren) “Hinterlassenschaften” und jede Nation wird seinen eigenen Weg finden müssen, damit zurecht zu kommen. In Deutschland (Rügen) z. B. gibt es,aus ganz anderer Zeit,noch die ehemaligen KdF-Heime in Prora. Auch sie verschandeln die Landschaft.Reissen wir Deutschen sie nun ab oder stellen sie als Mahnung/Erinnerung unter Denkmalschutz? Oder kommt gar eines Tages ein flotter Investor und baut diese Kästen für Urlaubszwecke um?
    Nichtsdestotrotz: Wir sind bisher gern nach Polen gefahren und werden im nächsten Jahr die komplette Küste mit dem Fahrrad abfahren.

  7. Sehr interessanter Text, vielen Dank! Ich frage mich: Werden diese Anlage heute denn gar nicht genutzt? Das ist doch schade, man könnte die “Anlagen” der organisierten Freizeit doch nutzen, um dort heute normal Urlaub zu verbringen, oder nicht?

  8. “Es entstand ein spezielles Freizeitvokabular, das mittlerweile kaum noch benutzt wird.”

    bitte beispuele!

  9. @ Sarah: ja, das ist in Darłówko, direkt am Meer – sieht aus wie ein Tier!
    @hg:es faengt bei
    – “wczasy” an, das Wort fuer Urlaub in einer Urlaubanglage (“ośrodek wczasowy”)
    – “dansing” und dann nach polnischen Regeln dekliniert “na dansingu”, sagt jetzt kein Mensch,
    – “kaowiec” – kommt von “kultura” und “oświata” = Bildung – ein Animatuer des sozialistischen Freizeit
    und es geht weiter.
    @ Lena: manche werden benutzt, meistens fuer Sommer-Camps fure Jugendliche, manche nicht. In kleinen, inzwischen sanirten “Haeuschen” aus der Zeit haben wir neulich uebernachtet.

  10. Schöner Bericht! War selbst schon an einigen Orten in Polen und konnte diesen Kontrast zwischen sozialistischen Bauten und der heutigen Zeit bewundern!

  11. Sie waren vor Ort? und haben dort die verbliebenen Bauten selbst gesehen? selber gefühlt, wie es ist in einem solchen Themenparjk umherzuwandern?

    Ich hätte mir jedenfalls gewünscht einen Erlebnisbericht zu lesen. Eine Ich-Erzählung. Subjektive Kamera. Statt die Nacherzählung von Dingen, die man selbst nicht erlebt hat, sondern in Geschichtsbüchern nachlesen kann.
    Oder im Netz. Irgendwo.

    Lieber Erfahrungen aus erster Hand statt aus zweiter Hand.

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