Lagerkoller: Warum Berlins ‘Freie Räume’ nicht bedenkenlos ins Netz ausgelagert werden dürfen

Ein Jahrzehnt war der SUPERMARKT ein Knotenpunkt der freien Szene in Berlin. Ein wichtiger Space für Workshops, Versammlungen, Ausstellungen und experimentelle Formate – immer mit einer starken Anbindung an digitale Diskurse. Im März mussten die Türen pandemiebedingt verriegelt werden. Im Netz traf sich die Community trotzdem weiterhin und versucht seither, die digitalen Spielregeln aktiv mitzugestalten. Die Ko-Gründerin Ela Kagel zieht eine Zwischenbilanz der letzten Monate und fordert, dass gerade jetzt um ‘physische Räume’ gekämpft werden muss.

*

Der 12. März 2020 war der Tag, als wir im SUPERMARKT anfingen, aufgrund der Covid-19 Pandemie sämtliche geplanten Veranstaltungen auf einen unbestimmten Zeitpunkt zu verschieben. Das war für uns im Team eine Art Demarkationslinie, ein Übertritt auf unbekanntes Terrain. Wir hatten noch keine Ahnung, was in der Zeit danach folgen würde. Und nun, mehr als drei Monate später, hat sich im Grunde genommen das Ausmaß dessen, was wir nicht wissen, nur vergrößert.

Der SUPERMARKT, der seit seiner Gründung im Jahr 2010 immer darauf ausgerichtet war, Menschen zu versammeln, einen Raum zu bieten für Experimente und Diskurse und darauf, diesen Raum zu halten, auch in Zeiten von Geldknappheit, Mieterhöhung und politischem Druck, musste von einem Tag auf den anderen zu machen. Und nicht nur wir – auch viele andere Räume und Projekte, die in Berlin Konferenzen, Workshops und Ausstellungen organisieren, zogen erst einmal die Vollbremse.

Umzug in den digital Raum

Nach einigen Tagen Schockstarre begannen wir damit, zumindest Teile unseres Programms in den digitalen Raum umzuziehen. Inspiriert von Online-Gemeinschaftsprojekten wie dem Coronavirus Tech Handbook, die innerhalb weniger Tage, über Länder-und Sprachgrenzen hinweg entstanden, begannen auch wir damit, die Möglichkeiten von sozialer Koordination online zu erproben.

Wir starteten eine wöchentliche Reihe aus Online-Konferenzen, die Antworten auf die aktuelle Krise finden wollte. Gleichzeitig begannen auch viele andere Projekte in Berlin, ihr Programm auf Online-Plattformen umzuziehen: Unsere Freunde von Panke e.V. begannen damit, ihre Musik-Sessions aus dem ansonsten leeren Clubraum live zu streamen, das Team von Disruption Network Lab startete kurzerhand die Reihe der Disruptive Fridays, eine Gelegenheit für alle, sich über Themen wie Collective Care, Hacktivism und soziale Gerechtigkeit auszutauschen. Die School of Machines, Making & Make-Believe startete eine ganze Reihe von Online-Kursen zu Themen wie “Tools for Reimagining Better Worlds through Cooperation”, ein Webinar, das vier Wochen lang von mir moderiert wurde.

Viele dieser freien Räume und Initiativen konnten die enge Verbindung mit ihren Communities nutzen, um einfach weiterzumachen. Zwar nicht im physischen Raum, aber immerhin im Internet. “Der Vorteil ist ja nun, dass wir Leute zu unseren Online-Events einladen können, die ansonsten nicht mal eben schnell für eine Konferenz hierher fliegen können” sagte neulich etwa Janez Janša, einer der Initiatoren des MoneyLab Ljubljana.

Nun wird es Zeit für eine Zwischenbilanz: Kann man einfach mal eben so die Plattform wechseln? Raus aus dem realen, rein in den digitalen Space? Was hat sich verändert? Und, die Preisfrage: wie geht es weiter? Haben wir eine Chance?

Wie geht es weiter?

Ein unvergesslicher Moment in den vergangenen Wochen war der, als ich nach zwei Wochen Homeoffice wieder mal in den verwaisten SUPERMARKT radelte, um von dort aus zu arbeiten. Ich betrat den leeren Raum und sofort stürzten die Erinnerungen aus fast zehn Jahren Veranstaltungen und Begegnungen mit Menschen auf mich ein: wie wir hier teilweise so dicht an dicht saßen, dass im Winter die Scheiben beschlugen. Die Luft oft zum Schneiden. Die Schlange vor der einen Toilette und dem einen Waschbecken, wo man sich die Hände waschen konnte. Gruppen von Menschen, die in den Pausen eng beieinander standen, die Köpfe gemeinsam über ein Laptop beugten, sich zum Abschied umarmten.

Grundlegende Sauberkeits-und Hygienestandards konnten wir immer einhalten, gelüftet wurde während der Veranstaltungen auch immer. Worüber wir allerdings nie nachgedacht hatten, war die Ansteckungsgefahr durch ein tödliches Virus. Und während ich da so stand, bei meiner Rückkehr in den Raum, den wir seit 10 Jahren bespielt und gehalten haben, wurde mir klar, dass es solche Veranstaltungen wohl erst einmal nicht mehr geben wird.

Die “neuen” Veranstaltungen, die wir auf Streaming-Plattformen machten, waren für uns erst mal gar nicht so neu. Wir hatten schon seit Jahren so gearbeitet: digital, dezentral, die Hälfte der Zeit immer in Calls. Komplett neu war allerdings die Tatsache, dass der physische Raum, das Miteinander sein, nicht mehr existierte. Und das machte einen Unterschied.

Übersetzungsleistungen

Über fast ein Jahrzehnt haben die Menschen, die im SUPERMARKT ein und aus gingen, einen Code of Conduct entwickelt, also Regeln, wie wir im Raum miteinander sein und arbeiten wollten. Vieles hat sich stillschweigend ergeben, anderes musste aktiv verhandelt werden, aber es war klar, dass es gewisse Standards für das Miteinander gab, die von allen geachtet wurden.

Wenn Communities mit einem mal ausschließlich auf digitale Plattformen umziehen, stellt sich die Frage, wie sicher die Online-Räume sind. Alles, was wir uns über die Jahre angeeignet haben, zum Beispiel das grundsätzliche Verständnis, dass man nicht einfach drauflos fotografiert, ohne die Anwesenden vorher zu fragen, oder dass man sich kurz vorstellt, bevor man einen Redebeitrag leistet – kann man davon ausgehen, dass das auch einfach so im digitalen Raum gilt?

Direkt zu Beginn der Corona-Zeitrechnung wurde die Videokonferenz-Plattform Zoom nicht nur zum Symbolbild des neuen, digitalen Miteinanders, sondern auch zu einem der mächtigsten Tech-Konzerne der Welt. Der Aktienwert des 2011 gegründeten Unternehmens stieg innerhalb kürzester Zeit auf 40 Milliarden US-Dollar. Dabei weist Zoom eklatante Sicherheitsmängel auf: Heise berichtet von der Weitergabe von Daten, etwa an Google oder an Facebook, zahlreiche andere Quellen stellen grobe Verletzungen der Privatsphäre der User fest, etwa indem private Meetings mit persönlichem Inhalt ohne das Wissen der User im Netz landeten.

Natürlich gibt es auch Alternativen zu Zoom, so wie beispielsweise Jitsi oder Big Blue Button, die auf eigenen Servern gehostet werden können. Aber ganz so convenient sind diese Open Source-Alternativen alle nicht. Man muss testen, sich reinfuchsen, auf gelernte Bequemlichkeiten verzichten.

Sicherheit und Autonomie von Community Spaces

Mein Fazit: Um die Sicherheit und Autonomie von realen Community-Spaces auf digitale Plattformen zu übertragen, ist mehr notwendig als ein Abo bei einem Service-Provider. Gerade auch in Videokonferenzen oder Livestreaming-Umgebungen, die potenziell einem Publikum weltweit zugänglich sind, ist ein Code of Conduct und eine Steuerung der technologischen Standards notwendig. Und da sind wir alle noch ziemlich am Anfang. In den ersten Corona-Wochen gab es zahlreiche Diskussionen um die Plattformen, auf die man jetzt umziehen soll, wie man Online-Meetings moderiert und wie ein dezentrales Miteinander funktioniert.

Während nun Programme, Produktionsumgebungen und Meetings in noch nie gekannter Zahl ins Netz migrieren, bleibt die Frage, was nun mit den Räumen im Real Life passiert. Wir haben gerade in den vergangenen Jahren die Erfahrung gemacht, dass Räume auch eine politische Funktion haben: Sie stehen für bestimmte Themen und Überzeugungen, sie sind im Stadtbild sichtbar und manifestieren bei Versammlungen auch eine gemeinsame Vision. Wie können wir diese Energie, diese politische Dimension, ins Netz übertragen?

Was sind unsere Stärken?

Die Chancen, die sich Community-Spaces wie dem SUPERMARKT jetzt bieten, liegen tatsächlich in der potenziell weltweiten Vernetzung. Durch das Streaming von Events, durch Online-Meetings und Calls bieten sich neue Möglichkeiten, Infrastrukturen zu bauen und soziale Koordination auf ein neues Level zu bringen. Dafür müssen wir neue Fähigkeiten erlernen: Community-Management, Moderation, die Bedienung von Online Tools. Aber wir müssen vor allem auch verstehen, worin eigentlich unsere Stärken liegen.

Denn egal, wie es nun weitergehen wird mit all den Krisen um uns herum, ob es eine zweite Welle geben wird, ob die Wirtschaft einbrechen wird, was auch immer an Bedrohungsszenarien vor uns liegen mag: es geht ja letztendlich um die Frage, was wir tun können, um uns selbst und anderen zu helfen. Netzwerke gibt es dafür in Berlin ja schon etliche, egal ob dies die Koalition der freien Szene ist, oder neu entstandene Gruppen wie Berlin Collective Action, die einen “Nightlife Emergency Fund” für alle Geschädigten der Corona-Krise ins Leben gerufen haben.

Vielleicht führt die Krise dazu, dass heute weniger debattiert, und dafür mehr gemacht wird. Dass gemeinsame Aktionen stärker und zielgerichteter werden, weil ein Handlungsdruck besteht, der vorher in dieser Form nicht da war. Vielleicht sind in den vergangenen Monaten auch so viele Lern-und Vernetzungseffekte entstanden, dass es Kulturarbeiter*innen künftig noch besser gelingen wird, die Massen zu mobilisieren. Immerhin hat Corona gezeigt, dass Kunst und Kultur systemrelevant sind, wie der Tagesspiegel in einem Artikel vom April 2020 argumentiert.

Alles gut? Leider nein

Dann ist doch alles prima, oder? Nicht so ganz. Denn während wir immer weiter in die digitale Frontier vordringen und neue Online-Räume besiedeln, bleiben die vielen freien Projekträume, die es in Berlin noch gibt, einstweilen für den Publikumsverkehr ungenutzt. Es finden keine Versammlungen statt. Es gibt kaum geschützte Räume für echte Begegnungen. Das Miteinander im realen Raum ist stark reglementiert. Die Frage ist: was passiert in Zukunft mit diesen Orten? Wie lange werden Mittel bereitstellen, um Räume für freie Kunst-und Kulturproduktion zu halten?

Eines ist klar: die Gentrifizierung geht munter weiter und hat auch keine Angst vor Corona. Dem Betongold ist das Virus egal. Und auch wenn viele Wirtschaftsbereiche ins Straucheln geraten sind, so ist die Immobilienwirtschaft bislang mehr oder weniger unberührt aus der Pandemie hervorgegangen. Es ist auch nicht absehbar, wann ihre sich stets nach oben drehende Preisspirale einen Endpunkt erreicht haben wird.

So dehnt sich der Aktionsraum vieler Kulturschaffenden nach mehreren Richtungen aus: Den digitalen Raum erobern und gleichzeitig auch den realen Raum erhalten. Ihn nutzen als Manifestation von Autonomie und politischer Willensbekundung. Als Refugium für all das, was nicht online koordiniert oder besprochen werden kann. Als Reserve für die Freiheit von Worten, Taten und Versammlungen. Wo man nicht belauscht wird. Wo keiner, den es nichts angeht, weiß, dass man da war.

Diese freien Orte sind heute mehr denn je bedroht. Vor allem jetzt, wo eilig aufgesetzte Konjunkturpakete wenig Raum lassen für experimentelles und autonomes Handeln. Wo leerstehende Projekträume alle diejenigen provozieren, die von ökonomischer Verwertung träumen. Lasst uns Lärm machen um diese Häuser. Den freien Raum verteidigen. Wir werden in den nächsten Jahren noch sehr viel kreativen Freiraum brauchen.

Anm. d. Red.: Die Fotos stammen von Mario Sixtus und stehen unter einer CC-Lizenz (CC BY 4.0).

2 Kommentare zu “Lagerkoller: Warum Berlins ‘Freie Räume’ nicht bedenkenlos ins Netz ausgelagert werden dürfen

  1. Wir verwenden für unseren Chor und meine Bands zum Quatschen Jitsi, und ich finde das überhaupt nicht kompliziert. Nimmt sich nichts gegenüber Zoom.

  2. Hi Manuel, ich finde Jitsi für kleine Runden auch super. Wenn es mehr als ca. 6-8 Personen sind, wird es aber schwierig mit der Qualität. Wir arbeiten mittlerweile mit BigBlueButton, einem Open Source-Projekt, das wir auf unserem eigenen Server hosten, für unsere größeren Community-Konferenzen online.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.