Fiktionen fabrizieren

Die Phase der Selbstdefinition verlaeuft historisch und individuell sehr unterschiedlich. Ich war zum Beispiel Ende der 1970er auf einem erzreaktionaeren Gymnasium in Oberschwaben, mein Vater an den revolutionaeren Umtrieben im Iran beteiligt und meine Mutter musste arbeiten und ihr Leben neu ordnen. Im Jugendhaus in Ravensburg waren die Uebungsraeume verschiedener Bands und die dortigen Sozialarbeiter gaben uns die Mittel, um unsere ersten Zeitungen herzustellen.

Ueber die Buchhandlung Wolke und meine erste wirkliche Freundin, die zum Studium nach Weingarten kam, lernte ich meine literarischen mit meinen damaligen Punk- und Renitenzinteressen in Einklang zu bringen, und mich, als es in der Provinz zu langweilig und identitaer wurde, ins Studium und die Grossstadt abzuseilen. Sicherlich war aber ein gewisser bildungsbuergerlicher Hintergrund, durch die Herkunft, der Bruder meiner oesterreichischen Grossmutter war ein beruehmter Schauspieler und Filmregisseur, meine Grosstante ein Wein- und Literatur liebende Buehnenschauspielerin, die ich bewunderte, von Bedeutung.

Ausserhalb Deutschlands bedeutete fuer mich erstmal ausserhalb der Provinz. Wer sich gerne ueber die Auslegung literarischer Figuren unterhaelt, hat zumindest ein Thema, ueber das sich neben den Alltaeglichkeiten noch besonders gut reden laesst. Mein theoretisches und literarisches Interesse fuehrte mich frueh in anonyme Autorschaften [Flugblaetter etc.] und in den Journalismus. Anfang der 1990er wurde ich Lektor in der Berliner Edtion ID-Archiv [spaeter ID Verlag] und gab die Zeitschrift >Die Beute< mit heraus. Wir hatten ein aktivistisches Konzept – Neomarxismus, Internationalismus, Gender, Pop – mit Gruppen in jeder Stadt. Eine Zeit lang dachten wir, wir waeren die Groessten und ein bisschen waren wir das Mitte der 90er auch.

Ueber die Beziehung zu Eva-Christina Meier kehrte mein Reiseinteresse zurueck und wir waren eigentlich bis zuletzt regelmaessig im suedlichen Suedamerika. Durch meinen zwischenzeitlichen Lohnerwerb, Auslandsredaktor bei der Schweizer Wochenzeitung [Woz] und Evas freies Kuenstlertum hatten wir dazu auch die Moeglichkeiten und eine inhaltliche Legende. Als Argentinien noch sehr teuer war, verirrte sich kaum ein Trend-Europaeer dorthin und es war noch sehr exklusiv und angenehm.

In Buenos Aires habe ich viele Menschen aus der ersten und zweiten Generation des Exils kennen gelernt. Vor allem deutsche Juden, die vor den Nazis fluechten mussten. Grosse HumanistInnen wie Ellen Marx, die gerade gestorben ist. Oder Leute aus der jungen Pop- und Dichterszene, ueber gemeinsame Freunde wie den Musiker Schorsch Kamerun, oder ueber meinen frueheren Frankfurter Professor Joachim Hirsch, der uns mit der Theoretikerin Maristella Svampa in Buenos Aires bekannt machte. In den Iran konnte ich hingegen nie reisen. Meinem Vater gelang Gott sei Dank Anfang der 1980er die Rueckkehr nach Oesterreich. Natuerlich gibt es auch in Oesterreich und Westdeutschland arme Leute, aber einen richtigen Mangel im oekonomischen Sinne lernte ich erstmals, und nicht ganz unerwartet, im revolutionaeren Nicaragua Anfang der 1980er kennen. Aber auch im Mangel sollte man nach dem Reichtum suchen und sich besser ueber eine Fabrikation der Fiktionen definieren.

Opferbewegungen sind reaktionaer und wer freiwillig KuenstlerIn oder Intellektuelle wird, kann nicht erwarten, automatisch in Geld und Anerkennung zu schwimmen. Schoen, wenn man ueber seine tatsaechlichen Interessen genug Geld zum Leben verdienen kann. Kulturberufe sind vom Image her hierzulande aber genauso ueberbewertet wie Handarbeit unter.

Heute versuche ich als Ressortleiter des Kulturteils der taz, keinen Fachjournalismus fuer Insider zu machen, sondern im Aesthetischen auch soziale und uebernationale Punkte zu suchen. Das Gemeinsame ist fuer mich dabei an sich keine Kategorie. Ich glaube, ich halte mich in der Theorie an oekonomisch determinierte Begriffe wie Klasse und darin an die antiautoritaere Linie von Pop und Neuer Linken. Ohne seperatistisch zu sein, interessieren mich vor allem die ideellen und oekonomischen Minderheiten, um die mit dem Diskurs des kulturindustriellen Mainstreams zu vergleichen. Qualitativ birgt dies die meiste Reibung. Gemeinsamkeitsstiftende Ideologien wie Volk, Religion und Geschlecht sind mir suspekt.

Tageszeitungen sind konservative Medien, insofern die Schnittmenge der Kaeufer eine allgemein verstaendliche Sprache verlangt. Das heisst die produktiven Abweichungen koennen nur in leichten Nuancen stattfinden. Form- und Gedankenexperimente sind im Alltagsgeschaeft sehr schwer durchsetzbar und aufwaendig. Bei unseren letzten Ausstellungen >Chile International< und >Argentinien 1976/2003< hatten wir da mehr Freiheiten, vor allem auch formale. Der Preis fuer hoehere Abstraktion bedeutet in der Regel aber auch mehr Einsamkeit.

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