Ausbreitung der Kontaktzone: Fiktionen der Autorität und Realität des Ausnahmezustands

Verschwörungen und Verhandlungen – in der ‘Corona-Krise’ ist beides manchmal kaum voneinander zu unterscheiden. Ein Zustand, der Detektivarbeit und Sprachkunst gleichermaßen beflügelt. In diesem Sinne setzt der Schriftsteller und Berliner Gazette-Autor Lars Popp seine am 13.03. begonnene “Chronik der Coronatage” fort.

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Das neue Anormale: Donnerstag, 19.03.2020

Nichts mehr, wie es war. Viel wird sich ändern. Wie oft hat man das in den letzten Jahren gehört.

Ist es jetzt glaubhaft? Ist es unredlich, sich das zu wünschen, während wir gerade in den Graben fahren? Wo man so bald als möglich am sicheren Hafen Normalität wieder anlegen möchte?

Für zunehmend mehr, die mit uns, unter uns, außerhalb unserer Grenzen leben, hat es eine solche “Normalität”, business as usual, kaum bis nie gegeben.

Auch die Tafeln z.B. nun vorübergehend zu, weil: Ein Großteil der Ehrenamtlichen gehören zur Risikogruppe; die Studierendennetzwerke, die das zu kompensieren versuchen, reichen nicht aus. Auch eine realitätsnähere Definition von “systemrelevant” stünde nun auf der Agenda.

Utopisch eine Welt, in der z.B. die Claqueure und Profiteure der Finanzkrise tatkräftig-freiwillige – notfalls verordnete – Sozialstunden an solchen Orten abarbeiteten? (Hier einfach gönnerhaft ein paar Rückzahlungen rüberzuschieben wäre zu billig; unbegrenzte Kredite gewährt die Regierung jetzt ja schon selbst.)

Story-Telling und fürsorglichen Fiktion: Dienstag, 24.03.2020

Hat man die letzten Tage den Covid-19-Tracker von Bing verfolgt, wird einem vielleicht aufgefallen sein, das Russland bis vor Kurzem verdächtig Corona-unberührt geblieben ist. Erst heute zeigten sich die ersten verteilten Pünktchen wie Röteln auf einem unschuldigen Kindergesicht. Forscht man nach, stößt man schnell auf die Vermutung, dass Russland absichtsvoll Zahlen verschleiert, z.B. Coronatote hinter Lungenentzündungstoten versteckt. Schlechte Nachrichten kämen Putins Anliegen, sich die ewige Macht zu sichern, nicht zupass. Im Gegenteil ist davon auszugehen, dass die russischen Geheimdienste die Presseagenturen und sozialen Medien des Westens mit gezielten, weiter destabilisierenden Desinformationskampagnen fluten, wie zur sogenannten Flüchtlingskrise. Während auf der anderen Seite Trumps Versuch steht, das Virus sippenhaft-mäßig gegen China zu instrumentalisieren.

Die Schwierigkeit, in Zeiten, in denen Warfare über Wortfare geführt wird, für all dies überhaupt noch brauchbare Worte zu finden …

Worte der Furcht um die Geflüchteten auf Lesbos, die komplett aus dem Fokus geraten und der Pandemie hilflos ausgeliefert sind; für die Menschen in Gaza, Syrien, Lybien, Jemen, Venezuela; überall dort, wo die Ausgangsbedingungen Italiens noch unterboten werden.

Worte der Furcht um die konkreten ökonomischen Konsequenzen und deren Folgen für die rechten Stimmenfänger.

Worte der Furcht um weitere dammbruchartige Freiheitseinschränkungen, die zugleich Machbarkeitsstudien der Macht sind.

Worte der Hoffnung, das die meisten Verschwörungstheorien und allzu düsten Zukunftsprognosen sich auch diesmal wieder weitgehend als falsch erweisen werden.

Worte der Hoffnung, dass dem globalen Slowdown dieses Mal aber wirklich ein paar mehr Nicht-mehr-weiter-so’s folgen werden.

Worte der Hoffnung, dass das Weltuntergangs-Pathos, das wir Wohlstandsverwahrloste plötzlich vor uns her tragen, wenigstens gerechtfertigterweise auch zu brauchbareren Sinnstiftungen führt.

Wer hätte noch vor 14 Tagen einen Appell für möglich gehalten wie den von Uno-Generalsekretär Guterres heute, weltweit alle Kämpfe zu beenden, um sich gemeinsam gegen das Virus zu stellen?

Und doch: Sagt er das nur, weil er glaubt, das wäre der adäquate Onliner seiner leading role im zweiten Akt des laufenden Desasterfilms?

Fake News war gestern, nun sind wir komplett ununterscheidbar in unseren eigenen Fiktionen und Selbstinszenierungen angekommen.

Solange wir aber dem Katastrophenkino positive Fiktionen entgegenhalten, die wie selbsterfüllende Prophezeiungen mithelfen können, das Beste für alle zu erreichen, ist es wurscht, ob man an sie glaubt, oder nicht. Wie beim Placebo ist es eher die fürsorgliche Geste gegenüber dem Patienten, als dessen Glauben, was den Wirksamkeits-Effekt erzeugt.

Mehr fürsorglich-weltzugewandte Fiktionen also!

Monoton-Cocktail: Freitag, 27.03.2020

Spahns Handy-Überwachungspläne wurden erst mal zurückgepfiffen. Für Viktor Orbán und andere Autokraten längst zu spät – die werden von den Notstandsstrategien auch danach noch massiv profitieren.

Der zunehmende Druck der Isolation katalysiert auch die politische Debatte um die beste Pandemie-Strategie. Doch dem Herdenimmunitäts-Plan Schwedens und der Niederlande folgen? Doch Massentests durchführen wie in Südkorea?

Wo liegt die Grenze des Akzeptablen? Könnte man das doch einfach individuell anklickend zusammenstellen wie die Cookie- und Datenschutzerklärungen, die uns inzwischen auf jeder zweiten Webseite nerven – und meist nur so tun, als hätten wir eine Wahl.

“Corona-Verbrechen” nehmen zu: Online-Betrug, Phishing, erpresserische Hilfe-Apps, falsche Hausierer, Fälschungen von Medikamenten und Schutzkleidung, Diebstahl. Und die ersten beginnen ernsthaft, sich um’s letzte Klopapier zu kloppen.

Übrigens eben aktuelle Zahlen hierzu: 2019 gab es 1.620 Übergriffe gegen Geflüchtete und 128 gegen ihre Unterkünfte; 2018: 1.775 Übergriffe gegen Geflüchtete und 173 gegen Unterkünfte. Leichte Verflachungserfolge wenigstens also auch hier. Aber aufgrund welcher Gegen-Strategie jetzt genau?

Social Distancing bekommt da ein gewisses Geschmäckle.

Ach so, ja: Höckes verfassungsfeindlicher “Flügel” hat sich aufgelöst. Ein Ikarus-Fall ist dies darum leider noch nicht; personelle Konsequenzen gab es nicht.

Und wo wir bei den Lateinern und Griechen sind: Der Stier (erst Bulle, jetzt Bär) scheint die Dame Europa wieder von sich abschütteln zu wollen. Da bräuchte es dringend eine Bluttransfusion oder so was. Vielleicht schreibt man zur Rettung in den noch kommenden Konjunkturprogrammen auch einen Ideen-Wettbewerb hierzu aus. Könnte doch was für die sogenannte Kreativwirtschaft sein, die wird jetzt eh nach jedem Halm greifen?!

Übrigens: Sonntag Zeitumstellung. Sollte die nicht abgeschafft werden? Auch hier wollte man doch einen “Flickenteppich”, diesmal unterschiedlicher Zeitzonen, hinter sich lassen.

Eins muss man dem Virus lassen: Es reißt den unbequemen Wahrheiten auch noch die letzten Verhüllungen vom Leib.

Maskeraden: Dienstag, 31.03.2020

Der landesweite Ruf nach Schutzmasken! Entgegen früherer Aussagen, es gebe “keine oder fast keine Evidenz” für ihre Effektivität. War das nur eine Schutzbehauptung gewesen, wissend um den Mangel an Masken im Land?

Nun nehmen Einfuhr und Massenproduktion, Do-it-yourself-Anleitungen zu. Hat Jena als erste Stadt eine Schutzmaskenpflicht erlassen und denken auch Bayern und Baden-Württemberg darüber nach.

Glücklich, wer damit jetzt Geld verdienen kann.

Nationalmasken kommen wieder in Gebrauch; Charaktermasken zeigen sich zunehmend ungeschminkt; die Eingabemasken werden der Datenflut der Darlehensanträge kaum Herr.

Das Theater wusste schon länger:

1.) Authentizität infiziert.

2.) Ohne Schein kaum Sein.

Aprildeutsche: Mittwoch, 01.04.2020

Heute, am 1. April, höre ich im Radio, Aprilscherze seien jetzt hier und da verboten.

Die Suchmaschinen im Netz spucken aus: Erfurt habe am 1. April wegen Corona die Namen Carola und Corina verboten.

Darf man in solchen Zeiten überhaupt Aprilscherze machen? Fragt man sich in den sozialen Netzen, lese ich, heute, an anderer Stelle. Und: Das Bundesministerium für Gesundheit habe doch bereits gestern eine Scherzwarnung herausgegeben und darum gebeten, nicht nur, aber insbesondere am 1. April auf Falschmeldungen zu Corona zu verzichten.

Die meisten, so heißt es anderswo weiter, übten im allgemeinen Interesse nun vorbildlich Scherzverzicht, stünden ja auch hinter ihrer Regierung wie nie, belege die Demoskopie – das lese ich auch soeben am 1. April und denke mir meinen Teil über uns (nur ein Vor-Ur-teil der Nach-Geborenen?) dazu.

Für die wenigen Abweichler indessen hätten einzwei Landkreise Aprilscherze in der Öffentlichkeit per Allgemeinverfügung verboten, nur im privaten Bereich zwischen maximal zwei Personen seien sie noch erlaubt. Ganz besonders verboten seien Scherze über das Virus selbst; bei Zuwiderhandlung drohten Bußgelder in Höhe zwischen 50 und 500 Euro. O Menschliche Komödie! In Thailand wiederum gehe es ernsthaft rauf bis zu 5 Jahren Haft, sollte man am 1. April vortäuschen, an Covid-19 erkrankt zu sein.

Kein Scherz – so habe ich es heute, am 1. April, gelesen und sei es einfach nur hier weitergegeben.

Die größte Gegenverschwörungstheorie: Donnerstag, 02.04.2020

Dass jetzt wirklich eine neue große Erzählung beginnt, markiert nicht das Corona-Ereignis, sondern dessen Zusammenfall mit dem Ende der Lindenstraße. Zwingend kein Zufall.

Euro-Bondage: Samstag, 04.04.2020

Aktuelle Europa-Politik wird mit BDSM statt ESM plötzlich sehr anschaulich erzählbar: Eine Mehrheit will das unbedingt – funktionieren tut’s aber nur, wenn auch alle aus freien Stücken mitzumachen bereit sind.

Man stelle sich die beteiligten Akteure vor: Politiker u.a. der “Eurogruppe”, polymorph-perverse Wirtschaftsweisen, bonierte Banker; all diese Leute mit Nadelstreifenanzug-Fetisch eben … Wer will hier gefesselt werden? Wer diszipliniert und schränkt die Bewegungsmöglichkeiten ein? Wer bellt Befehle? Wer zeigt sich unterwürfig? Wer tritt als Sadist, wer als Masochist auf? Wer will nur spielen? Und wer sagt Nein und meint auch Nein?

Die Aushandlungen einer potentiellen Eurobond-Praktik im Geldverkehr zeigen mal wieder:

Um den/die Partner geht es erst spät bis nie.

Generell nicht so einfach, das mit der Polyamorie.

Europa als Ehevertrag ist ein * ins Knie.

Besser wär ’ne Gruppen-Therapie.

Anm.d.Red.: Lesen Sie mehr aus Lars Popps ‘Chronik der Coronatage’ auf complifiction.net

Ein Kommentar zu “Ausbreitung der Kontaktzone: Fiktionen der Autorität und Realität des Ausnahmezustands

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