Erkundungen der Lobi-Musik: “Eine Sprache mit sehr vielen Dialekten und durchlässigen Grenzen”

Eine Auseinandersetzung mit der Balafon-Musik des Lobi-Volkes ist mit verschiedenen Herausforderungen verbunden. Als Ausgangspunkt kann eine Sammlung von Stücken dienen, die von Dirk Dresselhaus während eines zweiwöchigen Aufenthalts in und um Gaoua, Burkina Faso, aufgenommen wurden. Ein subjektiver Streifzug.

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Der Name Lobi setzt sich aus zwei Lobiri-Wörtern zusammen: lou (Wald) und bi (Kinder), was wörtlich “Kinder des Waldes” bedeutet. Als Sammelbegriff bezieht sich Lobi auf mehrere eng miteinander verwandte ethnische Gruppen. Viele von ihnen stammen aus dem heutigen Ghana. Ab etwa 1770 wanderten viele Lobi-Völker in den Süden Burkina Fasos und später in die Elfenbeinküste ein. Heute besteht die Gruppe aus etwas mehr als eine Million Menschen. Sie machen etwa 2,4 Prozent der Bevölkerung Burkina Fasos aus.

“Der Lobi ist ein Bauer, ein Jäger und ein Hirte, aber vor allem ist er ein Krieger”, erklärt der Direktor des Museums in Gaoua, das mit rund 60.000 Einwohnern als Hauptstadt der Lobi gilt. Als Opfer von Sklavenüberfällen, rivalisierenden Clans und Bürgerkriegen gehören die Lobi zu den isoliertesten und stolzesten Einwohnern Burkina Fasos und waren im 19. Jahrhundert ständigen Angriffen der Reiche Guiriko und Kenedougou ausgesetzt.

Zwischen Raub und (freundlichen) Aneignungen

Seit den 1970er Jahren ist die Kunst der Lobi im Westen zunehmend bekannt geworden. Verschiedene Forscher*innen untersuchten die Lobi-Kunst in ihren Herkunftsländern. Gleichzeitig begannen Sammler*innen, Liebhaber*innen, Ethnolog*innen und Kunsthistoriker*innen in Europa und den USA, Objekte aus dieser Kultur in ihren (durch kolonialen Raub entstandenen?) Sammlungen zu systematisieren.

Infolgedessen erhielten die Lobi, die zuvor in Museen und bei Privatsammler*innen wenig Beachtung gefunden hatte, eine größere Aufmerksamkeit, deren Höhepunkt die Rekonstruktion des Schreins von Tyohepte Pale im Pariser Musée du quai Branly und die 2016 in Lutherstadt Wittenberg eröffnete Sonderausstellung “Die Entdeckung des Individuums” waren.

Aber was ist mit Lobi-Musik? Juni 2014 hatte ich die Gelegenheit, dieser Frage nachzugehen. Zusammen mit den beiden Kuratoren Arved Schultze und Julian Kamphausen bin ich nach Burkina Faso gereist um jene Lobi Musiker*innen zu finden, deren Musik ich schon seit vielen Jahren sehr schätzte und in verschiedenen Zusammenhängen wie im Club oder Radiosendungen aufgelegt hatte.

Parallele und Pentatonik

Das Balafon, also ein Xylophon mit untergehängten Kalebassen als Resonatoren, ist das zentrale Instrument einer Musik, die mich immer wieder an Blues, Boogie Woogie und Be-Bop erinnert hat. Die Percussion-Strukturen sind allerdings so polyrhythmisch und polyphon aufgebaut, dass ich gleichzeitig an Musik von Steve Reich, Terry Riley, Sun Ra oder auch 1990er Jahre Breakbeat Sachen von Aphex Twin oder Squarepusher und natürlich Jungle denken muss.

Das liegt im Speziellen an der Tonalität der Zwillings-Balafone, die in Kombination mit den von zwei Musiker*innen auf der Bodentrommel Tam Tam gespielten Synkopen für einen der drei Hauptspielweisen mit dem Namen Buur benutzt wird. Die Lobi nennen diese Stimmung pentatonisch, wobei sie im Gegensatz zu unserer Definition von Pentatonik (z.B. die schwarzen Tasten des Klaviers, Carl Orff, Brian Eno, etc.) sehr nahe an der Blues-Tonleiter mit einigen trickreichen Wendungen und somit harmonisch wesentlich abenteuerlicher ist.

Die Stimmung des Solo-Balafon, das hauptsächlich bei Beerdigungen gespielt wird ist wiederum anders, wird aber auch pentatonisch genannt. In einigen Solo-Stücken von z.B. dem großartigen Palé Tioionté werden noch ganz andere Parallelen hörbar, etwa zu Bach, Beethoven, Gurdjieff, Kraftwerk, Autechre oder Cecil Taylor.

Verbindungen zu Geistern und Ahnen

Da die Wurzeln der Lobi-Musik sehr weit zurück reichen, sie sich aber mit jeder neuen Generation von Musiker*innen immer wieder erneuert und auch zeitgenössische Elemente integriert werden können, wobei die traditionellen Kompositionen, also die eigentlichen Töne immer gleich bleiben, handelt es sich dabei um klar definierte Kompositionen, die in Verbindung mit Improvisation immer wieder neu interpretiert werden. Mich beschleicht stets das Gefühl, dass diese Musik sehr futuristisch, aber gleichzeitig tief in den “Ur-Quellen” von Musik an sich verwurzelt ist.

Die Balafon-Musik der animistisch geprägten Lobi wird hauptsächlich gespielt, um die materielle Welt mit der der Geister und Ahnen in Verbindung und damit ihr Leben in Balance zu halten. Balafone werden mit Fetischen in Form von kleinen Holzfiguren verziert und ihnen werden Hühner geopfert um dadurch die Welt der Ahnen zu besänftigen. Das Balafon ist dort mehr als ein Instrument: es ist eine Sprache und davon gibt es alleine bei den Lobi sehr viele unterschiedliche.

Ausschließlich im Februar

Die Lobi-Musik lässt sich in drei Kategorien unterteilen: Beerdigungsmusik (Bii & Bobuur) mit Solo Balafon und Trommeln aus Kalebassen (Gboro), rituelle Musik (Buur) für z.B. Initiationen mit Zwillingsbalafonen und Tam Tam oder Gboro und dann noch Biir, wofür ebenfalls ein speziell gestimmtes Balafon benutzt aber ausschließlich im Februar gespielt wird. Es ist die Zeit der Erneuerung, also vergleichbar mit unserer Weihnachts- und Jahreswechselzeit.

Die Musik ist gesellschaftlich sehr wichtig und wird bei allen möglichen Anlässen gespielt. Sie wird durch Imitation von Generation zu Generation weitergegeben und weder aufgeschrieben noch verbal kommuniziert. Wie gesagt, es handelt sich dabei um eine Sprache mit sehr vielen ,Dialekten’.

Überraschend war für uns unter anderem, dass die jungen Musiker*innen hierarchisch nicht unter den älteren stehen, da sie die neue Generation sind und den älteren zu Hilfe kommen wenn ihnen die Kraft ausgeht damit die Musik weitergehen kann. Überhaupt gibt es anscheinend gesellschaftlich wie auch spirituell bei den Lobi keine zentrale Macht. Nur die Gan gehören zu einer politisch zentralisierten und königlichen Gesellschaft. Andere Gruppen werden gemeinhin als “akephal” bezeichnet, was etwas irreführend ist, aber das Fehlen einer zentralisierten politischen Autorität signalisieren soll.

Überraschend war für uns auch, dass die Musik komplexer und “magischer” klingt, je ländlicher die Gegend ist. In Gaoua gibt es natürlich auch eine Radiostation und man hört hin und wieder die lokale Popmusik aus einer Boombox knallen. Allerdings scheint es in der Balafon-Musik Gaouas Einflüsse von zeitgenössischer Popmusik zu geben.

Zwei lose Enden musikalischer Entwicklung

Während unserer Reise verfestigte sich der Gedanke, dass es sehr spannend wäre diese Musik live mit den eher freien Noise-, Elektronik- und Improv-Klangwelten der europäischen oder speziell Berliner Szene zu verknüpfen, wie ich es zuvor schon während meiner DJ-Sets quasi simuliert hatte. Diese Verbindung wäre deswegen interessant, weil es sich um zwei lose Enden musikalischer Entwicklung handelt, die aus total unterschiedlichen Kulturkreisen mit den dementsprechenden Koordinaten kommen und ursprünglich wahrscheinlich trotzdem die gleiche Quelle habe. Zumindest teilweise.

Was wir hier im post-popkulturellen und post-musikindustriellen Europa machen ist eine experimentelle Minimalisierung und ,Weiterentwicklung’ musikalischer Vergangenheit, die sich teilweise nur noch auf Frequenzen und organische (z.B. Field Recordings) oder maschinelle (z.B. Modular System, Physical Modeling, etc.) Strukturen reduziert und sich nationalen, folkloristischen Traditionen verweigert.

Speziell in Deutschland gibt es ja dafür gute Gründe, die auf die politische und kulturelle Phase um den Zweiten Weltkrieg herum zurückgehen. Diese Verweigerungshaltung und der Drang nach neuer Kultur hat u.a. Krautrock, Industrial, Techno und experimentelle Elektronik in Deutschland hervorgebracht.

Die Lobi Musik hingegen ist sehr traditionell, existiert in keinem Pop- oder Uni-Kontext und wird aufgrund ihrer durchlässigen Grenzen trotzdem ständig weiterentwickelt. In einem Dokumentarfilm, den wir im Instrumenten-Museum in Bobo-Dioulasso gesehen haben heißt es: „Nichts ist gefroren in der Musik, alles ist ständig in Bewegung und verändert sich.“ Das ist ein spiritueller Ansatz, der natürlichen Zyklen folgt, in dessen Richtung sich Teile der Musik der westlichen Welt in den letzten Jahren nach dem sogenannten Zusammenbruch der Musikindustrie auch entwickelt hat.

Vereinfacht und überspitzt ließe sich das vielleicht so ausdrücken: Die Musik der kolonialen Industrienationen kehrt nach einigen Jahrzehnten des wirtschaftlichen Höhenflugs wieder zu ihren energetischen Ursprüngen zurück. Die Verbindung mit der Musik der Lobi stellt somit eine interessante Verbindung von prä- und post-kapitalistischer Musik dar, gibt aber auch in Sachen Dekolonialität einiges zu denken. Dies auszuführen, sprengt natürlich diesen Artikel, aber beispielsweise die Frage der Reparationen schwingt immer mit im Ohr, wenn ich Lobi-Musik höre.

Anm.d.Red.: Dirk Dresselhaus betreibt das Label MirrorWorldMusic und hat in Kollaboration mit dem Experimental-Label Edition Telemark das Album “Kparr Dirè – Balafon Music from Lobi Country” veröffentlicht. Die Einnahmen gehen direkt an die Lobi-Musiker*innen. Am 26.02.2023 findet in Berlin eine Release Party mit Screening + Talk im ausland. Hier alle Info zum Event.

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