Erinnerung und Engagement: Was bedeutet es, planetarisch und zugleich anti-imperial zu denken?

Angesichts globaler Krisen wie der COVID-19-Pandemie oder der Klimakatastrophe besteht die große Herausforderung darin, planetarisch zu denken und gleichzeitig zu hinterfragen, inwieweit unser Alltag von einer „imperialen Lebensweise“ geprägt ist. Der Übersetzer und Autor Edward Viesel unternimmt eine Nabelschau.

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Was sagt ein Historiker, der keinen Job hat, zu einem Historiker, der einen Job hat? „Einmal Pommes mit Mayo, bitte!“. Dieser Witz machte die Runde, als ich 1993 in Mainz unter anderem Geschichte studierte. Damals herrschte auf dem Arbeitsmarkt für Akademiker eine Krise. Krisen sorgen dafür, dass man sich vertieft über eine bessere und andere Zukunft Gedanken macht.

Diesen Weg geht auch Werner Wintersteiner, der sein kürzlich im transcript-Verlag erschienenes Buch „Die Welt neu denken lernen – Plädoyer für eine planetare Politik. Lehren aus Corona und anderen existentiellen Krisen“ wie folgt einleitet:

„Indem Corona – für einen Augenblick nur – unsere bisherige Lebensweise infrage gestellt hat, hat es auch die Frage gestellt, ob wir weiterhin auf die bisherige Weise leben wollen. So wie Corona Schicksal spielt und weltweit gleichzeitig alle Menschen bedroht, macht es uns auf die schicksalshafte Gemeinsamkeit von uns allen als Menschheit aufmerksam. Weil unser Überleben nicht mehr gesichert erscheint, beginnen wir nachzudenken, wie wir zusammenleben können.“

Ich bin 1971 geboren, Wintersteiner zwanzig Jahre früher. Er ist als Universitätsprofessor emeritiert, ich arbeite seit vielen Jahren als etwas prekärer Freiberufler. Wenn ich in ähnlicher Absicht ein Buch einleiten wollte, wäre mein Ausgangspunkt weitgehend das Gegenteil: 1) Jüngere Menschen in Westeuropa haben Angst vor Veränderung; sie befürchten, dass es nun (für sie) ökonomisch schlimmer werden wird. 2) Corona hat gezeigt, dass reiche Menschen die meisten Bedrohungen durch ihr Geld und ihre Macht abwenden und kontrollieren können. 3) Das bequeme Überleben der Reichen und Mächtigen in kleinen, abgeschiedenen „Refugien“ ist nahezu perfekt gesichert, aber selbst westliche, demokratische Gesellschaften zerfallen sozial und politisch in immer unversöhnlicher werdenden Dissens, wobei die Maßnahmen gegen Corona derzeit häufig der Ausgangspunkt für härteste Auseinandersetzungen sind (unter anderem um zwei Auffassungen von „Überleben“: „medizinisch-physiologisch“ versus „ökonomisch-finanziell“).

Diese unterschiedliche Sichtweise auf das Heute bestärkt mich in der Annahme, dass die Überlegungen des Autors, wie sich Menschen im „Westen“ mit „planetarischem“ Anspruch politisch für eine Welt ohne Verlierer engagieren können und sollten, kaum zum Erfolg führen werden, weil sie ein übertrieben durchgängig reiches und sattes Bild von Europa und Nordamerika zeichnen.

Für manche Generationen ist das „Überleben“ deutlich besser gesichert als für andere, auch innerhalb bestimmter Länder der Europäischen Union. Auch innerhalb reicher Staaten und etablierter Gesellschaftsschichten wäre es gut, nachzudenken, wie die Menschen gut und friedlich „zusammenleben können“. Wintersteiner tut dies eher nicht, weil sein Gerechtigkeits- und Transformationsbegriff sich vor allem an extremer Armut, Geflüchteten ohne Rechtsstatus oder neokolonialer Ausbeutung in Afrika schärft – an objektiv extremen Situationen also. Ob man sich als Verlierer*in fühlt oder nicht, ist aber oft eine Frage der relativen Perspektive, eine Frage des Sichvergleichens. Politisch ist dieses „Gefühl“ aber nicht belanglos, sondern es ist in vielerlei Hinsicht sehr wirkmächtig; es entscheidet auch über „Krieg oder Frieden“.

Die Nase im Geschichtsbuch …

Nicht nur im zivilen und sozialen Bereich gibt es Gewinner*innen und Verlierer*innen. Wir sähen, meint Wintersteiner, dass Corona als Anlass diene, internationale Spannungen weiter anzuheizen; dies zeigten die Rivalitäten zwischen den USA und China. Der Buchautor ist unter anderem in der „Friedenserziehung“ tätig, in der Konflikte und Krieg mithilfe von Bildung, also auch Aufklärung, vermieden werden sollen. Und er schreibt generell, dass Bildung der einzige Weg sei, „gewaltfreie politische Veränderungen vorzubereiten und zu begleiten“. Bildung sei Voraussetzung für Politik, und in diesem Sinne „selbst politisches Handeln“.

Mich erinnert das an die Zeit, als ich 1995 beim „Papst für die Kriegsschuldfrage des Ersten Weltkriegs“ in Heidelberg Geschichtsvorlesungen besuchte. Ich erinnere mich weder an seinen Namen (er ist sicher schon lange emeritiert) noch an seine Thesen, sondern nur daran, dass er immer braungebrannt und im frisch gebügelten Polohemd erschien, so als käme er immer geradewegs vom Tennisplatz (was ja auch stimmen könnte).

Ich erinnere mich aber vielleicht auch deshalb nicht an seine Ausführungen zur Kriegsschuld, weil diese Frage letztlich eine wahrlich „akademische“ Frage ist: Die Erkenntnisse kommen immer Jahrzehnte zu spät. Wäre es nicht besser, diese Frage vorher, also vor Ausbruch der Kriegshandlungen, zu stellen? Eine Bildung, die allgemein von einer „Rivalität zwischen USA und China“ und einer „geopolitischen Krise“ spricht – ohne den sicher kontroversen Versuch zu machen, über konkrete Verantwortlichkeiten und Abläufe, vielleicht sogar über Schuld, zu sprechen –, wird meines Erachtens wenig bewirken.

Statt „Bildung“ würde ich beim Versuch, gesellschaftlich und weltpolitisch Frieden zu erhalten und zu stiften, sowieso eher den schneller und direkter wirkenden Begriff „Wahrheit“ favorisieren. Angeregt wurde ich zu dieser Überlegung durch die „Truth and Reconciliation Commission“ (Wahrheits- und Versöhnungskommission) nach dem Ende der Apartheid ab 1996 in Südafrika. Dieses „Justizsystem“ diente dazu, dem Vergessen entgegenzuwirken und Verantwortlichkeiten zu benennen, um dadurch Versöhnung herbeizuführen (es gab nur sehr geringe Entschädigungen). Man könnte ja ein solches „Justizsystem“ in Bezug auf soziale Gerechtigkeit bereits heute einführen, statt, wie in Südafrika, möglichen Verfehlungen lediglich in der Rückschau nachzugehen. Es gab solche Ansätze in Ostdeutschland nach der Wende, da fehlte allerdings meist der Versöhnungsaspekt. Aus meiner Sicht geht es darum, dass sich am Ende alle Menschen sozial und innerlich in einem „Feld der Gerechtigkeit“ aufgehoben fühlen.

Mein Engagement“, meine Gerechtigkeit“

Wenn ich zurückblicke, hat sich für mich ein solches inneres „Feld der Gerechtigkeit“ in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren praktisch nicht materialisiert. Etwa um die Jahrtausendwende wurde ich mit 30 Jahren Mitglied bei Attac, damals „Antiglobalisierungs-Netzwerk“ genannt. Ich war damals gerade aus meiner letzten, zeitlich befristeten Stelle als Journalist entlassen worden (aufgrund der im Jahr 2000 geplatzten „Internetaktienblase“, die Massenentlassungen zur Folge hatte) und hatte angefangen, als freiberuflicher Übersetzer zu arbeiten. Warum Attac, eine Bewegung, die sich stark um das Problem „Prekarisierung von Arbeit“ herum bildete?

Als „beeidigter Übersetzer“ kann man unter anderem zu guten Honoraren für die Gerichte übersetzen. Leider nur in der Theorie. In der Praxis werden die Aufträge von den Geschäftsstellen der Gerichte aus Zeitersparnisgründen meist an große Übersetzungsagenturen vergeben, die als „Torwächter“ trotz eines oft geringen eigenen Aufwandes durchschnittlich rund 40 Prozent des staatlichen Honorars für sich einbehalten. Wie in vielen anderen Bereichen ist dieser Bereich (schleichend und heimlich) privatisiert worden; das Gerichtsübersetzen ist letztlich ein privates, staatlich gestütztes Oligopol, das „Billigkräfte“ ausbeutet – zumindest zu vergleichsweise niedrigen Vergütungen beschäftigt.

Das hat mir das Leben unnötig erschwert. Wie sollte mir nun Attac dabei helfen, bei den Gerichtsaufträgen eine echte Veränderung, eine „Transformation“ zu erzielen? Wintersteiner fragt sich, wie eine „große Transformation“ gelingen könne, deren Notwendigkeit so vielen klar sei, „gegen die aber mächtige Kapitalinteressen ebenso stehen wie die Hoffnungen breiter Gesellschaftsschichten in den Industrieländern, mit dem bestehenden System die eigene imperiale Lebensweise doch noch prolongieren zu können?“

Ich habe mit Anfang 30 nicht das Gefühl gehabt, eine „imperiale Lebensweise“ zu führen. Wenige Monate nach einem „europäischen Aktionstag gegen Sozialabbau“ mit von einer bunten Vielzahl von politischen Gruppierungen getragenen Megademonstrationen in Berlin, Stuttgart und Köln trat ich 2004 mit vielen etwa gleichaltrigen Mitgliedern aus unserer Attac-Gruppe aus. Man kam mit den anderen Mitgliedern bei den regelmäßigen Treffen irgendwie nicht richtig ins Gespräch. Letztlich war die jeweils eigene Perspektive stets unterbelichtet, und es wurde umstandslos ein weltweit agierendes, inhaltlich plurales Engagement für eine bessere Welt – oder sehr eng der Kampf gegen die „Agenda 2010“ propagiert. Die konkreten eigenen Probleme gingen dabei unter. Solidarität hat aber meist etwas mit einem wirklich gemeinsamen Anliegen zu tun.

Es bleibt natürlich die Frage bestehen, „wie ein Schritt über die Grenzen des gegenwärtigen ökonomisch-politischen Systems hinaus möglich ist“. Aber dass eine Vielzahl „systemischer Alternativen“ dazu genutzt werden könnte, dass sich unterschiedliche politische Ansätze „gegenseitig ergänzen“ und dadurch auch verstärken, wie Wintersteiner im Anschluss an den globalisierungskritischen Bolivianer Pablo Solón ausführt, erscheint mir – auch auf der Basis eigener Erfahrungen – nicht sehr erfolgversprechend. Die Welt ist zwar komplex, aber eine politische Lösung erfordert meist eine gewisse Vereinfachung: Kompromisse und Vereinbarungen, die von der Vielzahl zur Einzahl führen. Man braucht ein gemeinsames Band, das die Menschen, die sich zusammentun, verbindet. Die wechselhafte Geschichte von Frauenbewegung und Arbeiterbewegung zeigt, wie Gemeinsamkeiten – und Gegensätze – entstehen und auch wieder vergehen.

Auch bei der Rolle des Staates bleibt bei mir ein großes Fragezeichen. Der Buchautor fordert, der Staat müsse der Privatwirtschaft Vorgaben machen, der staatliche Sektor müsse ausgebaut sowie als drittes Standbein eine Gemeinwohlökonomie gefördert werden. Das klingt ganz gut, bis man einen Blick in die aktuelle Tageszeitung wirft: Gerade beim Staat und bei Wohlfahrtsverbänden häufen sich Korruption, Selbstbereicherung und Misswirtschaft (Arbeiterwohlfahrt in Hessen, Autobahn GmbH, Berateraffäre bei der Bundeswehr, Berliner Flughafen etc.).

Es gibt ein zynisches Sprichwort: „Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde“. Wenn es einen wirklich korruptionsfreien, funktionierenden staatlichen oder gemeinwohlorientierten Sektor gäbe, würde ein schlichter „Ausbau“ sicher für den ärmeren Teil der Bevölkerung Vorteile bringen. Der zeitgenössische Staat ist aber schon längst in seinen Kernbereichen mindestens „teilprivatisiert“. In Anlehnung an das obige Sprichwort könnte man sagen: „Wer einen solchen Staat hat, braucht keine Privatisierungen mehr“.

Klimakrise: Kippt das Klima?

Wie eingangs gesagt, glaube ich, dass die im Buch formulierten Vorschläge deshalb kaum durchführbar sind, weil sie ein übertrieben friedliches und wohlgeordnetes Bild von Europa und Nordamerika zeichnen. Der Autor schreibt, dass die folgende Frage gestellt werden müsse: „Wie kann eine Veränderung des Bewusstseins eines relevanten Teils der Bevölkerung erzielt werden, wenn sich die sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Verhältnisse nicht ändern?“

Mir scheint, dass dies gerade mit großem Gefahrenpotenzial passiert: Die sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Verhältnisse ändern sich, und das Bewusstsein eines relevanten Teils der Bevölkerung ändert sich auch, weg vom „Bewusstsein der (aktuell) Herrschenden“. Einerseits erklären sich daraus die zunehmend rabiate und kompromisslose Repression durch die Herrschenden und andererseits immer größere Probleme, bei einer breiten Bevölkerung Akzeptanz für einen ökologischen Umbau zu erzielen.

Vielleicht ist es auch Wintersteiners Generationszugehörigkeit geschuldet, dass er (im Anschluss an den von ihm geschätzten, heute 100-jährigen französischen Philosophen Edgar Morin) bei allen Situationen deren „Komplexität“ betont. Eine gesellschaftliche Situation ist abstrakt gesehen aber immer komplex. Erst durch die Anwendung auf das eigene Leben wird sie eindeutiger und einfacher. Fehlt die eigene Perspektive, bleibt alles schwammig. Dass man dabei zur „einzigen Wahrheit“ vordringt, die alle Komplexität auflöst, ist unwahrscheinlich. Vereinfachung ist aber nicht in jedem Fall ein „Reduktionismus“.

Ich glaube, dass die jüngeren Generationen einerseits sicher „planetarisch denken“ sollten und kritisch untersuchen sollten, inwieweit ihr alltägliches Leben von einer „imperialen Lebensweise“ geprägt ist. Andererseits sehe ich bei meiner Generation, dass sich die Menschen in bestimmten Teilbereichen des Lebens zu wenig – eher als zu viel – um sich selbst und ihre Belange gekümmert haben. Nun, wo die ersten langsam auf die Rente zusteuern, stellen sie erschrocken fest, dass sie nicht – wie ihre Eltern – den Lebensabend auf dem (sehr unökologischen) Kreuzfahrtschiff verbringen werden, sondern (ressourcensparend) auf den Fluren des Sozialamtes.

Die naive Enttäuschung, die eine sich immer weiter verbreitende Grundhaltung ist, gepaart mit der daraus resultierenden plötzlich hochkochenden Wut sind eine sehr schlechte Vorbedingung für das von Werner Wintersteiner propagierte komplexe und solidarische Denken oder für den auf altruistischem und langfristigem Umdenken („Bildung“) beruhenden Einsatz für andere. „Truth and Reconciliation“ – und die damit verbundenen Diskussionen – wären aus meiner Sicht zunächst die direkteste und allererste Möglichkeit, Menschen zu einem tiefgreifenden Umdenken zu bewegen, welches nicht in der „Katastrophe“ endet, sondern in einem besseren Leben.

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