Emergency Design: Krise als Moment der Reparatur

Im ersten Teil ihres Essays über Lebensräume in Kulturkatastrophen beobachtete die Kulturphilosophin und Berliner-Gazette-Autorin Yana Milev die Ausweitung des Ausnahmezustands auf zivile Räume in Kulturkatastrophen. Im zweiten Teil thematisiert sie am Beispiel des Aikidō Techniken, die die Krise als Ressource nutzen und das kriegerische Szenario unterbrechen.

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Katastrophen brechen als Ereignisse herein. Zugleich werden sie interpretiert, ausgebeutet, gefürchtet, hergestellt oder geleugnet. Vom Standpunkt der Katastrophensoziologie sind es immer „entsetzliche soziale Prozesse”, die eine Katastrophe mit sich bringt. Sie bringt auch eine Zerstörung von Kapitalien mit sich – Kapitalsorten im Sinne Pierre Bourdieus. Soweit betrifft dies allein die Gesellschaft und ihre Kulturinszenierungen. Dem Universum ist eine (Selbst)Zerstörung des Planeten egal. Der Kosmos regeneriert sich durch Katastrophen.

Unsere Tassen und Geschichten

Menschen sind einerseits katastrophile Wesen. Sie bauen Technik, die in jedem Fall zur Katastrophe führen kann, zum Technikunfall (Virilio). Sie haben auch Angst vor dem Tod, vor ihrem Verschwinden und überhaupt vor dem Unsichtbaren. Sie sind kleine Egowürmer, die an ihren Tassen und Geschichten hängen, andererseits kommt ein Wirbelsturm und der Stammbaum ist durcheinander gewirbelt oder erfährt ein jähes Ende. Das Klammern des Menschen an seine Tassen, Geschichten und Stammbäume hat damit zu tun, dass der Mensch „Sinn” durch Narration produziert.

Krise ist der Normalzustand von Räumen und Systemen. Das Dasein in der Krise setzt eine Kulturtechnik der Transformation voraus, so genannte Krisenökonomien. Ich persönlich habe solche Krisenökonomien in Japan, vor allem im Budō, kennen gelernt. Mit der Krise als Normalzustand zu leben, schließt eine Lebenshaltung des Verlustes und des Verzichts mit ein.

Heutzutage will die Mehrheit der Menschen nicht verzichten, sie wollen einfach mehr haben und/oder, das was sie haben, behalten. Der Aikodō hingegen lehrt beides: das Gewinnen und das Verlieren, das Empfangen und das Loslassen, das Verlangen und das Verzichten. Aber wer macht das schon, vor allem freiwillig.

Rituale der Krise

Anthropologisch und ethnografisch gesehen existieren natürlich weltweit Rituale, in deren Zentrum der Erhalt des Gleichgewichts, der Krise steht. Peter Sloterdijk hat in seinem jüngsten Buch „Du musst Dein Leben ändern” die Anthropotechniken wieder in das Zentrum des Diskurses gerückt. In Anbetracht von „Protestantischer Ethik” (Max Weber), „Kapitalismus als Religion” (Benjamin), Semiokapitalismus (Berardi) usw., sind Religionen Disziplinarsysteme, die zur Maximierung der politischen Ökonomie beitragen. Die Geschichte ist voll von Beispielen.

„Emergency Design“ thematisiert hingegen Beispiele von Anthropotechniken und Übungssystemem, die mit der Ressource der Krise operieren, um die Schäden von Kulturkatastrophen zu reparieren.

Aikidō als Beispiel für eine Krisenökonomie

Im Nachkriegsjapan und seiner Kapitulation im pazifischen Raum begründete Morihei Ueshiba 1948 das Aikidō. Aikidō gilt als die jüngste der traditionellen japanischen Kampfkünste. Einerseits auf den Gesetzen der Gorin no sho basierend, andererseits auf den vier Eigenschaften der Natur unserer Welt, handelt es sich hier um eine Kampfkunst, die das Kämpfen um des Siegens willen ablehnt. Wie ist das zu verstehen? Und warum ist das im Kontext von Emergency Design relevant?

Ueshiba begründet sein Aikidō als Weg der Integration energetischer Systeme. Die im Vollzug des Aikidō erscheinende Emergenz wird als Kime bezeichnet. Kime basiert auf den inneren Prinzipien der physischen Gleichgewichtsmitte und den äußeren Bewegungsgesetzen des Ausweichens nach innen und außen. Außerdem auf den moralischen Grundlagen der Askese und Bescheidenheit, die in den Dōjōkun niedergeschrieben sind.

Der Hauptgrundsatz des Aikidō liegt im Zulassen (der Krise)und nicht im Machen. Also in der Integration und nicht in der Exklusion. Die im Vollzug des Aikidō erscheinende Emergenz ist eine situative Behausungseffizienz in der Bewegung, also inmitten der Krise, die auf der Basis der Integration, nicht der Exklusion geschieht. Das ist das Innovative an seinen Strategien, aber auch das Paradoxe.

Der Raum als Krisenraum

Nach den Kampfkünsten lautet das Raumgesetz (oder Behausungsgesetz): Dort wo ein Zentrum ist, erwächst situativ ein Raum. Der Raum ist in der japanischen Kultur generell ein Krisenraum, ein performativer Raum, der in sich die Gefahr des unerwarteten Umbruchs trägt. Die Insel ist nicht nur seit jeher extremen klimatischen Bedingungen und Wetterkatastrophen ausgesetzt. Von Tsunamis und Hurrikans zeugen bereits die Tuschzeichnungen alter Meister. Das erhöhte Risiko für urbane und psychische Lebensräume ist in Japan normal. Architektur und Infrastruktur zeugen von einem permanenten Abbruch und Wiederaufbau.

Und nicht nur das. Da der Raum in der japanischen Kultur ein lebendiger Raum, ein Krisenraum ist, manifestiert er sich nicht in Behältern, sondern in Ritualen. Wir finden hier eine Verkehrung der für unsere Wahrnehmung geläufigen Relation zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Sicher ist nicht das, was in Befestigungsanlagen, Bunkern und in Kontrollen sicher gemacht wird. Sicher ist, was von innen her gesichert ist. Gemeint ist eine Sicherheit, die an den Habitus von Katas, von Bewegungsdisziplinen und an eine Grammatik innerer Stabilisatoren gebunden ist.

Krise als Ressource des Emergency Design

„Lebensräume sind Krisenräume“ – das ist ein Plädoyer für die Inkonsistenz und Unsicherheit von Räumen, Historien, Gesetzen und Werten, wie auch eine Forderung, neue raumstrategische, wissensstrategische und designstrategische Kompetenzen zu entwickeln. Pierre Bourdieu beschreibt den sozialen Raum als relationale Anordnung von Menschen und Menschengruppen im permanenten Verteilungskampf. Damit stellt er auch fest, dass der Raum sich nicht nur durch Verfügungsmöglichkeiten über ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital konstituiert, sondern eben auch durch Aushandlungen von Raummächten.

„Emergency Design” geht es um die Wiederherstellung des irritationsoffenen Raums, des offenen Systems der Krise innnerhalb von axiomatisierten und monopolisierten Räumen. Die Krise als immer wiederkehrendes Stadium von Raumproduktion versus Raumvernichtung öffnet uns ein nie da gewesenes Aktionsspektrum. Im Kulminationsgelenk der Krise sind alle Wege möglich.

So ist es auch denkbar, dass Stress und Hysterie Katastrophenszenarien heraufbeschwören – im Kulminationsgelenk der Krise darf mit Allem gerechnet werden. Welche Art von Kompetenz fordert dieser metastabile Raum dann von uns? Rückzug? Hospitalisierung? Angriff? Abschiebung? Genau hier beginnen die Fragen von Emergency Design.

Aikidō: Den Krisenraum wiederherstellen

Emergency Designs sind identisch mit den Erzeugungen krisenbasierter Szenarien, Laboratorien neuer urbaner Ordnung und Einwohnung, inmitten eines global mediatisierten Katastrophenparks und Kapitalmarktes. Wieso jene Emergency Designs ein raumdynamisches Lösungsmodell sein können, lässt sich für mich am besten mit einem Rückgriff auf die Begriffen des Aikidō darstellen. Denn Aikidō involviert in ein Bewegungssystem, das die Botschaft der Krise offenbart. Angreifer und Verteidiger, beide haben hier die Chance, die Botschaft dieses Prinzips anzunehmen. Was bedeuten würde, sich als Partner im Dienste eines entsubjektivierten Prinzips gegenüberzustehen.

Sich gemeinsam im Kulminationsgelenk einer Krise wieder zu finden – das heißt, sich gemeinsam im Grundprinzip des Raumes wieder zu finden: der Krise. Obwohl dies zunächst wie eine Patt-Situation für alle Beteiligten aussieht, enthält genau diese Situation Potential für die Idee der Kommunikation. Eine Ablehnung des Hauptgrundsatzes vom Aikidō, der Synchronisation von energetischen Systemen, somit von Informationen, wird einen Angreifer, wie auch einen Verteidiger immer wieder zu Fall bringen, ohne dass er einen Schritt weiter kommt.

Die Fronten aufheben

Aikidō ist die Bewegung, in das „Auge des Taifuns“ zu gehen, in das Zentrum der Krise. Hier manifestiert sich exemplarisch eine vollkommen andere Grundhaltung der Krisenbewältigung. Ganz im Gegensatz zum Scheitern als Versagensurteil gilt es im Aikidō als Gewinn. Der Gewinn für den Verteidiger liegt dort, wo er von der Angriffsenergie profitiert, anstatt sie zu vernichten. Der Gewinn für den Angreifer liegt darin, dass er mit der Bewegung des Verteidigers synchronisiert und hierbei in den Lernprozess der Entgrenzung fixierter Konzepte eindringt. Spätestens hier hebt sich ein klassisches Frontenszenario auf und wird unnütz.

Im Gegensatz zu einer westlichen Grundauffassung des Kampfes und des Krisenmanagements geht es hier eben nicht um Liquidierung des Feindes, Beschlagnahmung seiner Verteidigungseinheiten und um Kolonialisierung von Ressourcen, sondern um die Unterbrechung und Transformation des Aktionsdesigns der Angst und Paranoia.

Fotos: Josh Smith (by-nc-sa)

9 Kommentare zu “Emergency Design: Krise als Moment der Reparatur

  1. “Wir finden hier eine Verkehrung der für unsere Wahrnehmung geläufigen Relation zwischen Sicherheit und Unsicherheit.”

    sehr spannend!

  2. spannend durchaus, Ich kann aber nicht wirklich zufrieden sein. Es ist alles Konzept, Theorie. Ich verstehe Design auch als eine praktische / pragmatische Handlungsanordnung. Und hier sehe ich keinen direkten Bezug dazu.

  3. das sind sehr schöne Bilder und die Gedanken haben auch einen sehr schönen, positiven Schwung, ich wünschte sie wären onch etwas zärtlicher, poetischer und weniger akademisch, in Zeiten der Krise brauchen wir so heilsames!

  4. Danke, Angelika, für die “zärtliche” Intervention. Die passt gut zum Aikidô und macht das, was zu geben und zu nehmen ist, feinfühliger, transparenter. Du hast recht, Poesie ist ein guter Weg! Und hier denken wir natürlich all einmal ganz fest an Bruce Lee. Heilung kommt von der Bereitschaft sich zu zeigen und sich zu verletzen.

  5. Heilung kommt von der Bereitschaft sich zu zeigen und sich zu verletzten. Maximales Risiko und Unsicherheit unterwandern käufliche Sicherheitsarchitekturen. – Habe gerade den Artikel “Freiheit und Sitte. Aspekte der Naturkatastrophe in Japan” von Florian Coulmas im aktuellen Lettre gelesen. Da kommt mir die Gänsehaut, wie gut doch ein Franzose die Japaner in ihren Katastrophensitten erfühlt hat. Morihei Ueshiba hat den Aikidô nach der Kapitulation Japans im Pazifik und den Atombomenabwürfen ins Leben gerufen. Aikidô ist die Kulturtechnik, inmitten der Katastrophe bei Bewusstsein zu bleiben. Genau darum geht es. Gegenwärtigkeit! Ohne Versicherungsgesellschaften und Egothrill.

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