Einsamkeit im Alter: Warum Berlin mehr Begegnung statt Dienstleistung braucht

Berlin, Zentrum der Jungen, Wilden und Kreativen. Dabei liegt das Durchschnittsalter der Bewohner bei 42,5. Nicht nur die steigende Altersarmut, sondern auch die Einsamkeit macht den älteren BerlinerInnen zu schaffen – viele der über 65-Jährigen leben allein. Berliner Gazette-Autorin Gesa Steeger traf eine von über 250.000 alleinlebenden RentnerInnen und weiß nun: Nicht die Dienstleistungen für sie müssen ausgebaut werden, sondern unser Wille, diese Menschen kennenzulernen.

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Als wir am Kaffeetisch Platz genommen haben, schiebt Erna Jokisch das feine Service zur Seite und legt einen Umschlag auf den Tisch. Nach kurzem Stöbern kommen drei kleine Schwarz-Weiß-Fotos zum Vorschein. Die Bildchen zeigen die heute 93-Jährige als junge Frau, fröhlich und ungezwungen für die Kamera posierend. Vorgeführt wird Selbstgeschneidertes im Zwiebel-Look. „Da is die Jacke och noch wech“, sagt Frau Jokisch spitzbübisch und deutet auf das letzte Bild. Am Ende bleiben nur noch „Strandhose“ und Bikinioberteil übrig. Topmodern und für damalige Verhältnisse sicherlich ein kleiner Skandal. Die Aufnahmen hat ihr Mann kurz nach dem zweiten Weltkrieg gemacht. „Ein Meter Stoff hat da 95 Pfennig gekostet“, erinnert sich Erna Jokisch und kommt ins Erzählen.

In den nächsten zwei Stunden breitet sich über Kaffee und Hefegebäck ein Leben aus, das schön und erfüllt gewesen ist, gegen Ende aber immer einsamer wurde. Seit den 1970er Jahren lebt die Rentnerin allein in ihrer Zweizimmerwohnung, in Berlin Neukölln. Kinder gibt es nicht und die wenigen Verwandten und Freunde hat sie überlebt. Frau Jokischs Beine tragen nicht mehr so gut. Ihre Wohnung kann sie nur in Begleitung verlassen. Ihre Augen streiken beim Lesen und so wurde die Welt von Frau Jokisch immer kleiner und kleiner.

Der Pflegedienst, der sie täglich besucht, hat vier Minuten Zeit, um der alten Frau mit ihrem Verband zu helfen. Die Putzfrau kommt zwei Mal pro Woche, für zwei Stunden. Neben dem strengen Zeitplan der Dienstleister bleibt keine Zeit für vertraute Gespräche, einen Spaziergang oder ein gemeinsames Essen. Um sich den Tag zu versüßen, hält sie morgens einen kleinen Schwatz mit den Blaumeisen auf ihrem Balkon und schaut abends den jungen Verliebten des Vorabendprogramms in ihre Wohnzimmer. So wie Erna Jokisch geht es vielen älteren Menschen in Berlin.

Berlin, eine alte Stadt

Wer glaubt, Berlin sei eine junge Stadt, der irrt sich. Die Stadt wird älter, daran ändern auch die jungen Kreativen nichts, die Scharenweise in die Stadt strömen. Bis zum Jahr 2030 wird sich das Durchschnittsalter der Berliner von 42,5 auf 45,3 Jahre erhöhen. Das mag nicht dramatisch erscheinen, doch in Zeiten, in denen sich die traditionellen Familienstrukturen in der Auflösung befinden, sind es gerade die älteren Menschen, die sich plötzlich alleine wiederfinden. Aus einer Studie des Amts für Statistik Berlin-Brandenburg geht hervor, dass 2011 in Berlin über eine Million Menschen alleine lebten. Jeder vierte von ihnen war über 65 Jahre alt.

Das mehrere Generationen zusammen unter einem Dach leben wird immer seltener. Laut Statistischem Bundesamt lebten 1900 durchschnittlich noch 4,5 Personen in einem Haushalt, im Jahr 2000 waren es noch 2,2, in Berlin im letzten Jahr sogar nur 1,7 Bewohner. Auch die Erhebungen des Deutschen Zentrums für Altersfragen zeigen, dass sich angesichts der sinkenden Geburtenrate und der längeren Lebenserwartung, dieser Trend zukünftig noch verstärken wird. Die familiären Strukturen künftiger Generationen werden noch kleiner sein als heute. Für die Integration und Alltagsbewältigung älterer Menschen bedeutet diese Entwicklung, dass sie auf Unterstützung außerhalb der Familie angewiesen sind.

Auch Frau Jokisch hat sich Hilfe von außen gesucht. Nachdem sie im Badezimmer stürzte, vermittelt der Pflegedienst sie an den Verein Freunde alter Menschen. Dessen Hauptsitz liegt seit 1991 in Berlin Kreuzberg. Die Vereinsgeschichte führt aber weiter zurück. 1946 gründet der französische Industriellensohn und Humanist Armand Marquiset die Organisation Les petits frères des Pauvres in Paris. Der Verein widmet sich der Aufgabe, einsame alte Menschen zurück ins Leben zu holen. Nicht durch spröde Dienstleistung, sondern durch Menschlichkeit und Freundschaft. Mittlerweile hat der Verein Ableger auf der ganzen Welt und die Gründungsidee leitet auch heute noch die Mitarbeiter. In Berlin sind vier hauptamtliche Mitarbeiter und über einhundert Freiwillige aktiv. Der Schwerpunkt der Vereinsarbeit liegt auf der Organisation von Besuchspartnerschaften. „Alte Freunde sind die besten“ ist das Motto des Vereins und trifft man auf Frau Jokisch, fällt es einem nicht schwer, das zu glauben.

„Liebes Kind, genießen Sie Ihr Leben!“

Den Anfang machte der Student Jürgen, das war vor zwei Jahren. „Da ging’s los mit die Männer“ sagt Frau Jokisch und lächelt verschmitzt. Seitdem erhält sie regelmäßig Besuch von Freiwilligen. Ihr jüngster Neuzugang ist der 27-jährige Johannes Beckmann. Die beiden kennen sich seit 4 Monaten. Dass sie 66 Jahre trennen, empfinden beide nicht als Hindernis, sondern als Bereicherung. Johannes nennt die alte Dame „meine alte Freundin“. Er ist froh um diese Freundschaft, profitiert er doch von der Lebenserfahrung, die Frau Jokisch ihm voraus hat: „Ich kann total entspannt mit Erna reden, auch über Beziehungs- oder Wohnungsprobleme, das bedeutet mir viel.“

Auf die Frage, was einen alten Freund von einem gleichaltrigen Freund unterscheidet, antwortet Frau Jokisch für den jungen Mann: „Ein alter Freund hat die Erfahrung und der kann Ihnen sagen: Liebes Kind, genießen Sie Ihr Leben!“ Johannes nickt und ergänzt noch, dass diese besondere Freundschaft seinen Blick auf manche Dinge verändert habe, die früher für ihn selbstverständlich waren. Zum Beispiel habe er mit Blick auf Frau Jokischs Leben erkannt, wie bequem das eigene Leben und das seiner Generation sei. Auch Frau Jokisch profitiert von ihrem jungen Freund. Auf die Frage, was Johannes für sie bedeutet, antwortet sie scherzhaft: „Er kommt und stiehlt mir die Zeit.“ Aber es ist nicht nur die Gesellschaft, die Frau Jokisch genießt.

Durch ihre Gespräche mit dem jungen Mann, erfährt die alte Dame auch, was junge Menschen beschäftigt. „Die Treffen haben mich jünger gemacht“, sagt sie. Zum Beispiel weiß Frau Jokisch jetzt, dass man Mobiltelefone auch als Kalender benutzen kann und Briefe heutzutage meistens mit dem Computer verschickt werden. Was es mit einer WG auf sich hat, konnte der Student ihr auch erklären und es ist nur ein paar Wochen her, da hat Frau Jokisch das erste Mal eine Pizza gegessen. Dieser Austausch zwischen Jüngeren und Älteren ist es, denn Frau Jokisch im Alltag vermisst. „Früher“, sagt sie, „da waren alt und jung zusammen, heute sieht man das ja nirgends mehr“.

Mehr Integration statt Dienstleistung

„Das Bewusstsein, das alte Menschen selbstverständlich Teil der Gesellschaft sind, ist in Deutschland nicht sehr ausgeprägt“, sagt Anne Bieberstein vom Verein Freunde alter Menschen. Die Gründe für diese Entwicklung sieht sie in den veränderten Familienstrukturen und in dem negativen Altersbild der Deutschen: „Alter wird schnell mit Krankheit und Belastung in Verbindung gebracht“. Um wieder ein Miteinander anzuregen, sieht sie nicht nur den Staat in der Verantwortung, sondern die ganze Gesellschaft. „Das alte Menschen Teil der Gesellschaft sind und bleiben, liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen, als Nachbar, als Tochter oder als Enkel. Wichtig ist, dass jeder seinen Teil dazu beiträgt, alte Menschen in die Gesellschaft zu integrieren.“

Auch Dr. Berner vom Deutschen Zentrum für Altersfragen in Berlin sieht die Gesellschaft in der Verantwortung, wenn es um die Integration älterer Menschen geht. „Ich fände es falsch, einfach die Pflegeversicherung auszubauen oder noch mehr Dienste einzuführen, die ältere Menschen rund um die Uhr betreuen. Erstens würde das finanziell keine Lösung sein und zweitens muss man sich auch gesamtgesellschaftlich fragen, in was für einer Gesellschaft man leben möchte. In einer, die ältere Menschen nur noch von Spezialisten betreuen lässt, oder einer, in der das lokale Umfeld versucht diese Menschen aufzufangen?“

Versuche, die Integration älterer Menschen in der lokalen Gemeinschaft zu stärken, gibt es bereits. Wohnprojekte, in denen alte und junge Menschen zusammenleben oder Freiwilligenagenturen, die jene zusammenbringen, die helfen wollen, und die Hilfe suchen. Diese Ansätze sind zwar positiv, meint Dr. Berner, lösen aber nicht das Problem in der Breite. „Es braucht politische Maßnahmen, die diese Entwicklungen unterstützen und fördern. Man muss überlegen, wie man diese Ansätze ausbauen und organisieren kann. Dafür sind auch öffentliche Mittel notwendig und da muss politisch drüber diskutiert werden.“

Alt ist nicht gleich alt

Auch das Altersbild muss sich ändern, damit die Integration von älteren Menschen gelingt, sagt Dr. Berner. „Das Bewusstsein für die Vielfältigkeit des Alters muss gestärkt werden. Die Lebensformen im Alter sind heterogener geworden.“ Er warnt davor, alle älteren Menschen über einen Kamm zu scheren. Seit circa 20 Jahren unterscheidet man zwischen den jungen Alten und den alten Alten. Man spricht auch vom dritten und vierten Lebensalter.

Die sogenannten jungen Alten sind geistig und gesundheitlich fit. Sie sind materiell abgesichert und haben Zeit und Lust die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Das Potenzial dieser wachsenden Bevölkerungsschicht sei aber noch nicht im Bewusstsein der Gesellschaft angekommen, meint Dr. Berner. Mit Blick auf die Zukunft ist er aber optimistisch: „Noch hinkt das Bewusstsein für die Vielfältigkeit des Alters den realen Lebensformen und Umständen hinterher, aber im Laufe der Zeit wird sich diese Lücke schließen.“

In der Zweizimmerwohnung in Berlin Neukölln sitzen Frau Jokisch und Johannes Beckmann beisammen und planen ihren nächsten Ausflug. Ein Auto muss her und natürlich muss auch das Wetter stimmen. Vielleicht fahren sie in den Grunewald? Da waren sie schon mal zusammen „Das war schön, nicht?“, sagt Frau Jokisch und berührt Johannes’ Arm. Die schönen Ausflugscafés kenne sie noch von früher, sagt Erna Jokisch schwärmerisch und schon beginnt die nächste Geschichte.

Anm.d.Red.: Das Foto oben stammt aus den US National Archives.

11 Kommentare zu “Einsamkeit im Alter: Warum Berlin mehr Begegnung statt Dienstleistung braucht

  1. ihr trefft den nerv den zeit, liebe berliner gazette, liebe gesa steeger vielen dank. ich mußte an meine vier älteren tänzer denken, mit denen ich 2006 ein tanzstück kreierte. alle vier erzählen und tanzen darin über existenziellen dinge – auch durch die gespeicherten erfahrungen in ihren körpern. dieses stück wurde grundlage des kinofilms “tanz mit der zeit” , ein film der auch in china, kanada und england lief…die tatsächliche begegnung und bewegung hat die vier in ihrem lebensabend und viele zuschauer verändert. nichts an den vieren war alt außer ihr alter.

  2. Eine winzige, passende Anmerkung: Im Park, in Cafés, auf Balkons… sieht man viele ältere Mitbürger – aber immer alleine. Die Menschen reden nicht miteinander, gehen nicht aufeinander zu. Es braucht deshalb wirklich nicht 100.000 Tausende Einrichtungen, Freizeitclubs und Begegnungsstätten, sondern Anschub und Motivation für die Leutchen. Wir Jüngeren sind aufgerufen sich einzumischen mit Ideen, Zeit, Mitgefühl.
    (Bevor mir jemand einen Vorwurf machen kann: Ich engagiere mich ehrenamtlich als Betreuungsassistent in einem Altersheim und besuche meine Vater zweimal in der Woche).

  3. Soziale Netzwerke machen einsam? Das Problem ist doch eher das Mischen der Geschlechter in solchen Portalen wo nach Freundschaften gesucht wird. Da steht man ganz schnell alleine da wenn man ‘nur’ Freundschaften sucht. Sowas sollte auf Seiten, wo nur Frauen zugelassen sind z.B., deutlich leichter gehen, wie auf http://zazeni.de

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