Außer Atem? Gedanken zur Entschleunigung

Das Tempo, in dem wir leben, nimmt kontinuierlich zu. Der Effizienzgedanke verkommt zum Dogma. Berliner Gazette-Autor Tobias M. Lentzler meint: Lasst den Quatsch! Die Zeit für Entschleunigung ist gekommen!

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Gehören Sie zu jenen, die ächzen und stöhnen, wehklagen und jammern „Das Jahr 2013 ist so schnell vergangen, unsere Erde dreht sich immer schneller, es bleibt einfach keine Zeit mehr für höhere Interessen, Hobbys oder den Partner.“? Wenn Sie sich auch nur einem dieser Klagelieder zuordnen können, gehören Sie zur Mehrzahl der Deutschen, die sich im Hamsterrad des Fortschritts befinden. Es muss immer weiter gehen, jeden Tag, Stund um Stund. Effizienz!

Nein, ich bin kein Fortschrittsgegner (was für ein bescheuertes Wort!): Fortschritt, also das Fortschreiten der Zeit, gehört zum Sein wie das Atmen zum Leben. Ich versuche bloß Schritte zu hinterfragen bevor ich sie gehe. Tut es wirklich Not, meine E-Mails fünfundachtzig Mal am Tag zu überprüfen?

Einen Menschen, der fünfundachtzig Mal am Tage zum Briefkasten rennt, würde mit Sicherheit nicht nur ich für verrückt oder zumindest äußerst merkwürdig erklären. Natürlich werden Sie mir jetzt vorhalten, dass es aus rein ökonomischen, firmenpolitischen oder „zeitmanagementtechnischen“ Gründen absolut unmöglich sei, seine elektronische Post bloß einmal am Tag abzurufen. Lassen Sie den Quatsch!

E-Mails, die nach Feierabend eintreffen, löschen

Es mag sein, dass einmal am Tag bei der heutigen Flut an Informationen, Werbung, Bestellbestätigungen, Spam und Geschäftspapieren wirklich zu wenig ist. Aber zumindest sollten Sie nach Feierabend, Dienst- oder Schulschluss bedenken, dass es neben der Datenwelt auch noch eine Welt des Seins, des Lebens, der Sinnlichkeit oder der Freundschaft gibt. Firmen wie VW denken ernsthaft darüber nach, E-Mails an MitarbeiterInnen, die nach Feierabend eintreffen, nicht nur nicht zu beantworten, sondern überhaupt von den Servern des Konzerns zu löschen. Wer wirklich etwas will, der soll sich gefälligst in den Bürozeiten an das Unternehmen wenden. Eine zukunftsweisende Idee, wie ich finde.

Sie spart den ArbeiterInnen am nächsten Morgen die Flut an E-Mails erst einmal zu durchkämmen oder zu beantworten und verhindert zusätzlich, dass MitarbeiterInnen auf ihrem Smartphone noch in den Feierabendstunden Firmen-E-Mails lesen. Allein dieser Kunstgriff räumt einige Minuten des Abends frei. Es bleibt mehr Zeit sich seiner Familie, seinen Kindern, seiner Musik oder Leidenschaft zu widmen. Stress lässt sich ausblenden, Freiraum gewinnen.

Wenn man jeden seiner Lebens-, Tätigkeits- und Schaffensbereiche überprüft, ob das, was man dort tut wirklich notwendig ist (wie oft am Tage prokrastinieren Sie bei Facebook, Twitter und Co.?), kann man eine Menge Zeit sparen. Und das ganz ohne den Druck der Effizienz im Rücken! Fünfe gerade sein lassen, in den Tag hinein leben, die Zeit nehmen wie sie kommt. Das wünsche ich Ihnen, die Sie schon jetzt Termine bis Ende 2014 in Ihren Kalender eingetragen- und den Sommer- sowie Winterurlaub schon reserviert haben. Und natürlich wünsche ich es auch mir: Denn natürlich quillt auch mein Terminkalender als Student mal wieder völlig über!

Anm.d.Red.: Das Foto oben stammt von Krystian Woznicki, cc by nc.

6 Kommentare zu “Außer Atem? Gedanken zur Entschleunigung

  1. Entschleunigung ist gut und auch die Idee, Mails nach Feierabend einfach nicht mehr zu beantworten bzw. (noch besser) zu löschen.

    Allerdings glaube ich nicht, dass es der “Druck von oben” durch irgendwelche Chefs, der uns zwingt permanent online zu sein, sondern dass es die Struktur (vor allem) der Social Networks ist, die eine permanente Beschäftigung einfordern.

    Wie können wir uns dem Diktat der Social Networks entziehen?

  2. musste an einige Thesen Hartmut Rosas zur Beschleunigung denken, dann wieder an ein Buch, das ich mal gelesen habe über McKinsey und den Effizienz-Gedanken – eigentlich sind das zwei ziemlich verschiedene Paar Schuhe, aber vielleicht ist an der Zeit, die mal zusammenzudenken

  3. Ja und nein. Ich denke, hier werden nicht akzeptable Vergleiche gemacht. Und konsequent die eigene Idee verfehlt. Kritik an Effizienzdenken einerseits und andererseits: “Ohne Prokrastination kann man eine Menge Zeit sparen.” Gewonnen für was? Für das Sein?

    Ich würde wohl auch 50 mal zum Briefkasten gehen, wenn ich davon ausgehen kann, dass was drin ist. Also wenn der Briefkasten mir einen Ton sendet, es sei Post drin und kein Werbezettel. Übrigens hatten “wir” das ja schon beim Thema Fax. Schalten die jetzt auch ihre Faxgeräte ab bei VW? Mal abgesehen, dass es merkwüürdig ist, dass die Produktion die ganzen 24 Stunden durch läuft, aber die Bürozeiten der Herren und Damen Angestellten natürlich bequemer liegen.

    Es ist ja unbestritten, dass es viel durcheinander gibt, dass man sich schon mal treiben lässt von den Dingen, die einem elektronisch um die Ohren gehauen werden. Aber viel liegt einfach an einem selbst, ob man das zulässt oder nicht.

    Es ist manchmal auch sehr bequem, keine Zeit zu haben.

  4. Das ist alles sehr löblich und auch bitter notwendig. Aber laut meiner Erfahrung im Bereich Dienstleistung führt die Entschleunigung der einen häufig zur Beschleunigung der anderen.

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