Jahresthema 2009: WASSERWISSEN

Alle reden ueber Erinnerungen. Wir nicht. Wir reden ueber Wasser. Ins Blickfeld ruecken Szenarien des Fliessens, Gleitens und Treibens. Fluesse, Seen, Ozeane. Wellen, Strudel, Tropfen. Und mittendrin: der Mensch. In Koexistenz mit seiner Umwelt, frei flottierend und im Werden begriffen? Oder die perfekte Projektionsflaeche fuer disziplinierende Appelle an Biegsamkeit, Flexibilitaet und Anpassungsfaehigkeit?

Das Verhaeltnis unserer Kultur zum Wasser gilt es zu bestimmen. Ausgangspunkt fuer dieses Vorhaben ist das Aquarium. Fuer viele ist es Raumverzierung und Haustierersatz. Aber die Kulturhistorie lehrt: Dieser banale Alltagsgegenstand steht fuer den domestizierten Ozean. Die wilden Wassermassen, die mehr als 70 Prozent des Planeten bedecken, hat man sich mit dem Aquarium ins trockene Heim geholt. Seit der Moderne ermoeglicht das Aquarium, die nasse, fremde Welt da draussen durch eine bequeme Brille zu betrachten: zahm, handlich, dekorativ.

Doch stehen wir noch immer mit diesem Blick vor dem Aquarium als Welt und der Welt als Aquarium? Oder stehen wir mittendrin? Allerdings nicht in einer gezaehmten Natur, sondern einer entfesselten, zweiten Natur in Form zunehmender Informationsfluten? Doch selbst wenn, sitzen wir dabei noch immer dem Aquarium-Blick auf oder haben wir uns davon emanzipiert? Mit dieser Fragestellung im Handgepaeck fuehrt die Berliner Gazette im Jahre 2009 Interviews und veranstaltet Podiumsdiskussionen. Teilnehmer aus den unterschiedlichsten geografischen und disziplinaeren Regionen werden an die Grenzen ihrer Zustaendigkeitsbereiche gefuehrt – an diesen Grenzen entsteht ein neues Wissen. Wissen, welches vom Wasser gespeichert wird: ueber unsere Kultur, Gesellschaft und Zivilisation. Und Wissen, das wasserfoermig ist, insofern es ueber die gesicherten Landnahmen herkoemmlicher Expertenkulturen hinaus weist und im Fluss bleibt.

Damit initiiert die Berliner Gazette einen Gegendiskurs zu der grossen Erzaehlung, die 2009 im Zeichen der Erinnerung steht: Hier Fluessigkeit und Fluiditaet, dort die Suche nach Fixpunkten und Fundamenten. 2009 ist in Deutschland als Gedaechtnisjahr gebucht. Man blickt zurueck auf 1949 und 1989. Und die Berliner Gazette? Wir aktivieren das Gedaechtnis im Zeichen des nassen Elements: Wir reden ueber Wasser und blicken auf das Gruendungsjahr des digitalen Mini-Feuilletons [1999] und die zehn Jahre danach zurueck. Duester siehts aus: Tobende Maerkte und uferlose Datenmeere, Verfluessigung von sozialen Fixpunkten und staatlichen Strukturen, eine allgegenwaertige Umweltkatastrophe, die das Bild der schmelzenden Polkappen ins kollektive Bewusstsein geschleust hat sowie das Bild endloser Kriege um die Ressource Wasser. Ohne sich blind machen zu lassen von den Tendenzen zur Schwarzmalerei gilt es, den Ernst der Lage erkennen und eine Sensibilitaet fuer den Wandel unserer Zeit zu entwickeln. Hier profiliert die Berliner Gazette das Potenzial jener Akteure, die an der Erneuerung von Kultur aktiv beteiligt sind.

Es ist eine Bewegung im Internet und aus dem Internet heraus. Eine Bewegung aber auch, die das Internet als Projektions- und Reflektionsflaeche nutzt. Schliesslich erscheinen hier alle gesamtgesellschaftlichen Prozesse wie unter einem Vergroesserungsglas: Wie kaum ein anderes Medium hat sich das Internet ueber nautische, maritime und aquaphile Metaphern definiert. Wie in den eingangs zitierten Bildern aus Kino, Popkultur und Werbung dominieren fantasmatische Szenarien des Fliessens, Gleitens und Treibens den Cyberspace: Heute surfen Millionen von Menschen, wenn sie durch die Weiten des Datenmeers navigieren; sie tauchen nach Informationen und Gegeninformationen und lassen im Zuge dessen die Trennlinien zwischen Profis und Amateuren verschwimmen. Werden sie aber auch nass dabei? Oder sind sie in wasserdichte Kleidung gehuellt – verkapselt und isoliert? Klar, Wasser verbindet. Aber nur potenziell. Das gilt auch fuer das Internet. Ein Medium der Gemeinschaftsbildung ist es nicht zuletzt dann, wenn es als gemeinsame Grenze begriffen wird: Alle, die gestern noch im Fuer-Sich von Definitionen wie >Profi< und >Amateur< schmorten, lassen heute eben dort, an dieser Grenze, ein neues Wissen entstehen. Damit knuepft die Berliner Gazette an die Suche nach dem Gemeinsamen an - das Thema des vorangegangenen Jahres. Aber seien Sie versichert, werte Leserin, werter Leser, auch andere Themen der letzten zehn Jahre werden 2009 wieder aufgegriffen. Themen, die uns bewegt haben und auch weiterhin bewegen. Bleiben Sie dran! Die Redaktion

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