Wohin kann das Dokumentarische flüchten? Von neuen Wegen in eine neue Wirklichkeit

Die Wirklichkeit kann heute mit allseits verfügbaren digitalen Werkzeugen jederzeit erweitert werden. Was ist die Aufgabe des Dokumentarischen unter diesen Bedingungen? Wird es beerdigt? Oder neu erfunden? Medientheoretiker und Berliner Gazette-Autor Florian Schneider erkundet in seinem Essay die Komplizenschaft zwischen dem Dokumentarischen und dem Internet.

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Jedes Mal, wenn sich der Begriff des Dokumentarischen erneuert hat, ging die Neuerfindung einher mit einem radikalen Milieuwechsel: von der frühen Landschaftsfotografie in die Porträt-Ateliers, von den “lebenden Porträts” im Wander- und Jahrmarktkino in die Studios des Stummfilms und von dort dann in die Fabrik, den Krieg oder zurück in die Natur. In den 1960er Jahren war es die Straße, in die das Dokumentarische, befreit von den Fesseln der schwerfälligen Studiotechnologie, überwechselte. Kamera- und Tonaufnahmegeräte wurden tragbar, Filmemacher und Videokünstler nutzten die Gelegenheit und schleppten die Geräte raus auf die Straße, wo unkontrollierbare Lichtverhältnisse und ein nicht zu identifizierendes Stimmengewirr herrschten. Es ging darum, sich den Reizen des Lebendigen auszusetzen, ein öffentliches Leben wahrzunehmen und eine Wirklichkeit zu fassen zu kriegen, die einst unabhängig von medialer Vermittlung existierte.

Ein herkömmlicher Begriff des Dokumentarischen beruht auf der Idee, Wirklichkeit fest zu halten und zu fixieren, um sie später wiedergeben zu können. Ein besonderer Moment oder spezifischer Punkt werden identifiziert, isoliert, in ein neutrales Speichermedium transferiert und als Ereignis so rekonstruiert, dass anschauliche Formen von Wahrheit generiert werden, die über ihre jeweiligen Bedingtheiten in Zeit und Raum hinaus einen gewissen, wenn auch nicht unbedingt vorhersehbaren, Bestand haben sollen.

Ungewissheit und Instabilität als Normalzustand

In vernetzten Umgebungen ist eine solche Herangehensweise wohl zum Scheitern verurteilt. Wo Ungewissheit die Voraussetzung jeder Äusserung und Instabilität der Normalzustand ist, müssen womöglich völlig gegenteilige Strategien, Wahrheit zu produzieren, erfunden und entwickelt werden.

Ein bestimmendes Merkmal vernetzter Umgebungen besteht darin, dass die Produktion von Bildern definitiv nicht mehr im Kopf stattfindet, wie es bis vor kurzem immer noch so schön hieß. Ein wesentlicher Teil der visuellen Produktion ist ausgelagert worden und findet in Geräteumgebungen statt, die wesentliche Entscheidungen, was Wahrnehmung, Erkenntnis und Vorstellungskraft anbelangt, vorwegzunehmen trachten.

Das Dokumentarische muss Einstellungen finden und auch Stellung beziehen gegenüber einer post-industriellen Produktion von Fiktion, die die Wirklichkeit zusehends in Beschlag nimmt: Verfahren der Mustererkennung, maschinelles Sehen und automatisiertes Bildverstehen erobern wesentliche Bereiche des Alltagslebens in der Kontrollgesellschaft und unterwerfen es ausgefeilten Algorithmen. Empirische Anschauung wird schließlich immer weniger zur Angelegenheit der Sinnesorgane, sondern von kybernetischen Apparaten übernommen, die mit den ihnen eigenen Unterstellungen arbeiten und letztlich nichts als Tautologien produzieren.

Wohin kann das Dokumentarische flüchten?

Dagegen muss die Wirklichkeit verteidigt werden. Sie kann aber nicht mehr festgehalten und verdoppelt, sondern muss mobilisiert und flüchtig werden. Was aber könnte das heißen? Wohin kann das Dokumentarische flüchten? Letztlich ist es keine Frage des korrekten Umgangs mit Technologie, sondern vielmehr des Gegenteils: Wie kann Technologie entgegen der ursprünglichen Absicht genutzt werden?

Digitale, vernetzte Umgebungen weisen die fast unwiderstehliche Verlockung auf, ein Bild darauf zu reduzieren, was lesbar ist oder lesbar gemacht werden kann. Alles, was in irgendeiner Form unlesbar sein könnte, ist dagegen unmittelbar vom Aussterben bedroht. Denn es wird als unverständliche, unnütze Information disqualifiziert und demzufolge ignoriert und aussortiert. Die Lesbarkeit der Bilder erlaubt es, sie wie Text zu behandeln und entsprechend ein- und auszulesen. So können sie gesucht und gefunden, kategorisiert, indexiert und etikettiert werden.

Aufschluss über Wirklichkeit gibt das aber kaum. Im Gegenteil, denn letztlich handelt es sich um ein recht redundantes Unterfangen. Die Visualisierung von Daten als Sichtbarmachung des Gegebenen und Verifizierung des ohnehin Offensichtlichen lässt keinen Spielraum für eine Auseinandersetzung mit Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die die Regeln, unter denen sie zustande kommt, noch in Frage stellen kann, die das Recht reklamiert, die Produktion selbst in die Hand zu nehmen – darin aber bestünde die Bedeutung des Dokumentarischen: Wirklichkeiten hervorzubringen, die sich von gesellschaftlichen Zwangsvorstellungen befreien und der Vereinnahmung alles Lebendigen durch technische Apparaturen widersetzen.

Mitten im Bild – im Rauschen der Information

Ein solches Vorhaben muss sich heute zurückziehen in Bereiche unterhalb der Rauschgrenze. Der visuelle Untergrund findet sich nicht mehr zwischen, vor oder hinter den Bildern, sondern mitten in ihnen: diesseits und jenseits des Sichtbaren, im Rauschen der angeblich unnützen Information. So wie die Körnung einst die Schönheit des Dokumentarischen ausmachte, berauscht es sich heute an der Unregierbarkeit des vermeintlich Überflüssigen.

Wahrheit entzieht sich dem Kalkül der Wahrscheinlichkeit, sobald Bilder zu einem gewissen Teil wieder unlesbar werden und die vorhandenen Informationen sich nicht gänzlich komprimieren lassen. Der unregierbare Rest und seine unvorhersehbare Vieldeutigkeit stellen die Grundlage eines Begriffs des Dokumentarischen in vernetzten Umgebungen bereit, der die Grenzen des vorhandenen Zeichen- und Begriffsvorrates einer magersüchtigen Realität zu überschreiten trachtet. Ein Dokumentarisches, das darauf aus ist, ein Mehr an Wirklichkeit hervorzubringen, ist heute mit einer paradoxen Feststellung konfrontiert: Kommunikation im Netz tendiert mittlerweile dazu, den Vorrat an Wirklichkeit aufzuzehren, anstatt ihn weiter aufzuhäufen, wie das in den Techno-Utopien der 1990er Jahre gedacht und zum Teil auch umgesetzt wurde.

Widerstand gegen Kommunikation

Immer weitere Bereiche sozialen Austausches, sowohl individueller Kreativität wie auch gemeinschaftlicher Affektivität werden heute einem aberwitzigen Kapitalverhältnis unterworfen, selbst wenn sich damit auch auf absehbare Zeit kein Profit schlagen lässt. So wird Wirklichkeit aber nicht nur quantitativ verringert, sondern auch reduziert auf die algorithmische Berechnung und Ausbeutung von Meta-Daten, die das Nutzerverhalten einzulesen, auszumessen und dann vorwegzunehmen sucht. Die Kunst des Dokumentarischen ist von daher Widerstand gegen Kommunikation. Sie besteht darin, sich der allgemeinen Kommunizierbarkeit in vernetzten Umgebungen zu entziehen, mit Brüchen und Unverständlichkeiten zu arbeiten, den semantisch vereinheitlichten Raum des Netzes zu verlassen und die Bereiche unter der Grenze des dort Sicht- weil eben Lesbaren zu erkunden.

Im vernetzten Bild der Wirklichkeit verändert sich jedoch nicht nur die Wahrnehmung von Raum, der von einem perspektivischen zu einem semantischen Gebilde mutiert. Auch die Vorstellung von Zeit verkümmert zu einer Illusion von Echtzeit, in der das Gleiche nurmehr im Gleichzeitigen auftaucht – sofortige Verfügbarkeit. Jegliche Verzögerung würde Verlust von Realität bedeuten; augenblickliche Bereitstellung wird dagegen als ein Gewinn verbucht, der weit mehr als nur ein Zeitgewinn ist, weil er mit dem Akt der Aneignung kurzgeschlossen wird.

Videoüberwachung, Live-Übertragung, Reality TV: Eine Illusion von Echtzeit

Beim Übergang von Similarität zur Simultaneität kollabiert die lineare Zeit zu einer vernetzten Allgegenwärtigkeit, ohne dass die Frage, inwieweit ein Bild seinem Vorbild ähnelt, noch zur Debatte stünde oder überhaupt beantwortet werden kann. Egal ob Videoüberwachung, Live-Übertragung oder Reality TV: Die Herstellung von Authentizität ist endgültig zu einer Frage der Inbesitznahme geworden, die unverzüglich zu erfolgen hat und keinerlei Dauer kennt.

Deswegen muss sich das Dokumentarische auf die Suche nach der falschen anstelle der echten Zeit begeben: Zu früh oder zu spät, auf keinen Fall im richtigen Moment, um ein Bild auf- und damit in Besitz zu nehmen. Das Scheitern, das mit der falschen Zeit einhergeht, ermöglicht neue Einsichten, die in dieser Form nicht kalkulierbar und vorhersehbar waren. Es mag dazu führen, einen Blick auf den Quellcode der vernetzten Wirklichkeit zu riskieren und die Eigentümlichkeit von Bildern wahrzunehmen, die sich nicht besitzen lassen, niemands Eigentum sind und deswegen jedes Mal, wenn sie erblickt werden, anders aussehen können.

Die falsche Zeit ist also eine Zeit, die zumindest nicht vorgibt, echt zu sein. Wahrscheinlich lässt sie sich ebenso schwer ausfindig machen wie seinerzeit der falsche Schnitt. Schließlich ist es verhältnismässig einfach festzustellen, wann der richtige Zeitpunkt sein könnte. Was aber eine falsche Zeit wäre und nach welchen Kriterien sie zu bestimmen ist, darin liegt eine der großen Herausforderungen des Dokumentarischen.

Uneindeutigkeiten eliminieren, Widersprüche versöhnen

Doch bei der Verteidigung des Wirklichen können der unlesbare Rest und die falsche Zeit heute eine womöglich entscheidende Rolle spielen. Ausgerechnet diese beiden Merkmale des Dokumentarischen sollten in der Lage sein, die herrschende Produktion von Kontinuität zu unterbrechen, die pausenlos stattfindet, um im Zeitalter der Vernetzung die so dringend benötigte Legitimation für die von ihr beanspruchten Exklusivrechte an der Wirklichkeit zu liefern.

Traditionell resultiert Kontinuität aus der Fabrikation von linearer Zeit und zusammenhängendem Raum: Uneindeutigkeiten werden eliminiert, Widersprüche versöhnt, das Unmittelbare standardisiert, um das nicht Begeifliche auf eine bequeme Auswahl sich ständig wiederholender Fakten zu reduzieren. Kontinuität fungiert dann als eine Art ideologisches Fitness-Studio für die Seele. Dort wird in einer von Fremdeinflüssen isolierten, geschützten Umgebung der drohende Ich-Verlust trainiert, um das Selbst ständig seiner selbst zu vergewissern.

Welche Bedeutung aber hat Kontinuität heute – in einer scheinbar geschichtslos vernetzten und konvergierenden Medienwelt? Verglichen mit traditionellem Filmhandwerk wird Kontinuität in vernetzten Umgebungen unter jeweils entgegengesetzten Vorzeichen hervorgebracht. Denn die Wahrnehmung sowohl von Zeit als auch von Raum inmitten von vernetzten Umgebungen haben ihre Bedeutungen vertauscht. Kontinuität ist heute keine Frage von Mechanik und Geometrie mehr. Statt aus einer vermenschlichten Perspektive das Geschehen in eine schlüssige Abfolge zu bringen, geht es heute darum, ein Ereignis und seine Repräsentation gleichzeitig herzustellen.

Gegenwart als Beginn der Vergangenheit – Neues Sehen lernen

Solange die Kontinuität des Netzes auf den Prinzipien von sofortiger Verfügbarkeit und allgemeiner Austauschbarkeit basiert, verlangt sie das Ausgestalten von vereinheitlichten semantischen Räumen und treibt sie unaufhaltsam das Fingieren von Echtzeiten voran, in denen es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt. Ein kritischer Begriff von Kontinuität muss sich diesen Zwangsvorstellungen von einer homogenisierten Wirklichkeit entziehen. Zunächst könnte dieser Begriff dadurch gekennzeichnet sein, dass die Gegenwart als der Beginn der Vergangenheit und nicht als deren Ende verstanden wird. Kontinuität müsste dann nicht in einer unablässigen Selbstvergewisserung bestehen, sondern könnte im Kampf gegen die Allgegenwärtigkeit des sich unvermeidlich Wiederholenden neu verstanden werden. Es verwiese nicht nur auf die zu Unterhaltung verkommene Beschäftigung mit Geschichte; mit Brüchen und Pausen, Stillstand und plötzlicher Bewegung würde sich Vergangenheit auch jeder Form von Bewältigung widersetzen.

Mittlerweile sind die Straßen mit Kameras überwacht und öffentlicher Raum ist eine Ansammlung öffentlicher Bilder im Netz geworden. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Die Straße des Dokumentarischen von heute ist das Netz. Hier, in der Republik der Bilder, ist es nicht weniger riskant und gefährlich und der Kontrast zu der herkömmlichen Art Film zu machen, könnte nicht größer sein. Wir müssen es nur neu sehen.

Anm.d.Red.: Zuletzt erschien in der Berliner Gazette Florian Schneiders Essay über das Dokumentarische und seine Rolle im Netz. Die Fotos oben stammen von Alex Dram und steht unter einer Creative Commons Lizenz.

6 Kommentare zu “Wohin kann das Dokumentarische flüchten? Von neuen Wegen in eine neue Wirklichkeit

  1. Auch wenn mir das inhaltlich eben nicht gerade eine neuere Erkenntnis zu sein scheint – als Beispiel sei Ivo Kranzfelders Aufsatz aus dem Jahr 1992 zitiert http://cscedition.blogger.de/stories/1441793/ –, aber schließlich soll es nach mir Geborene geben. Es ist und bleibt eine interessante Lekture.

  2. Pingback: Protokoll 14
  3. ich finde die Idee, dass das Netz heute die Straße des Dokumentarischen ist und die Thesen zum 1) “unlesbaren Rest” und zur 2) “falschen Zeit” sehr spannend.

    1. “So wie die Körnung einst die Schönheit des Dokumentarischen ausmachte, berauscht es sich heute an der Unregierbarkeit des vermeintlich Überflüssigen.

    Wahrheit entzieht sich dem Kalkül der Wahrscheinlichkeit, sobald Bilder zu einem gewissen Teil wieder unlesbar werden und die vorhandenen Informationen sich nicht gänzlich komprimieren lassen. Der unregierbare Rest und seine unvorhersehbare Vieldeutigkeit stellen die Grundlage eines Begriffs des Dokumentarischen in vernetzten Umgebungen bereit, der die Grenzen des vorhandenen Zeichen- und Begriffsvorrates einer magersüchtigen Realität zu überschreiten trachtet.”

    2. “Das Dokumentarische muss sich auf die Suche nach der falschen anstelle der echten Zeit begeben: Zu früh oder zu spät, auf keinen Fall im richtigen Moment, um ein Bild auf- und damit in Besitz zu nehmen. Das Scheitern, das mit der falschen Zeit einhergeht, ermöglicht neue Einsichten, die in dieser Form nicht kalkulierbar und vorhersehbar waren. Es mag dazu führen, einen Blick auf den Quellcode der vernetzten Wirklichkeit zu riskieren und die Eigentümlichkeit von Bildern wahrzunehmen, die sich nicht besitzen lassen, niemands Eigentum sind und deswegen jedes Mal, wenn sie erblickt werden, anders aussehen können.

    Die falsche Zeit ist also eine Zeit, die zumindest nicht vorgibt, echt zu sein. Wahrscheinlich lässt sie sich ebenso schwer ausfindig machen wie seinerzeit der falsche Schnitt. Schließlich ist es verhältnismässig einfach festzustellen, wann der richtige Zeitpunkt sein könnte. Was aber eine falsche Zeit wäre und nach welchen Kriterien sie zu bestimmen ist, darin liegt eine der großen Herausforderungen des Dokumentarischen.”

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