Die Zukunft anschnorren

Das alte kapitalistische Sprichwort >Zeit ist Geld< ist nie zutreffender gewesen als heute. Allerdings ist die Zeit, von der da die Rede ist, die zukuenftige und nicht die jetzige. In unserer postmodernen Zeit ist es die Zukunft, die zaehlt. Sie ist allerdings keine, die wir uns selbst durch Hoffnungen und Kaempfe geschaffen haben, sondern eine Zukunft des Konsums, in der wir erst konsumieren und spaeter den Preis dafuer bezahlen.

Viele wuerden zustimmen, dass Zeit eine der zentralen Kategorien der Postmoderne ist. Wo die moderne Geistehaltung alles gegenwaertig zu machen suchte, also verfuegbar, mir zur Verfuegung stehend und unter meiner Kontrolle befindlich, sieht die postmoderne Denkart alles als kommend und gehend, sich veraendernd und vergroessernd. Nicht nur die Postmoderne sehnt sich danach, der Gegenwart zu entkommen. Unsere kapitalistische Konsumkultur bringt uns dazu, zu verachten, was wir in der Gegenwart besitzen und uns fuer die Zukunft etwas anderes zu wuenschen. Der Kapitalismus weiss nicht, wie man in der Gegenwart lebt, im Jetzt. Er orientiert sich immer an der Zukunft.

Diese Tasache trifft nicht nur fuer den Kapitalismus zu, sondern auch fuer verschiedene Arten von Nationalismus. Die Zeit des Kapitalismus sagt: >Konsumiere jetzt das, wofuer du in der Zukunft bezahlen kannst< [ein Leben voller Schulden und Krediten], waehrend die Zeit des Nationalismus sagt >Fuerchte dich jetzt vor dem, was in der Zukunft geschehen koennte< [ein Terroranschlag, eine Wirtschaftskrise, der Ruhestand]. Der japanische Philosoph Kojin Karatani spricht von drei essentiellen Arten des Austauschs: erstens Reziprozitaet [Gegenseitigkeit - Geschenk-Gegengeschenk], zweitens Pluenderei und Umverteilung und drittens Austausch von Waren. Jede dieser Arten des Austauschs hat ihren Ursprung in einer bestimmten Lebensweise: Die Gegenseitigkeit von Geschenk und Gegengeschenk findet sich in laendlichen Gemeinden unter Bauern und in Familien, die Pluenderei und Umverteilung unter Feudalherren im Umgang mit Bauern, woraus sich spaeter die Steuer im Nationalstaat entwickelte, und der Warentausch im Kapitalismus. Wenn man diese Theorie zu Ende denkt, laesst sich meiner Meinung nach daraus ableiten, dass jede Art des Austauschs Zeit auf eine bestimmte Art wahrnimmt. Der Warentausch im Kapitalismus nimmt die Gegenwart als leer wahr, so dass sie mit einem in der Zukunft konsumierbaren Produkt angereichert werden muss. Seine vorherrschende Geisteshaltung ist die Unruhe. Auf gleiche Weise versteht die Pluenderei und Umverteilung des Nationalstaates Zeit als Furcht vor einer zukuenftigen Katastrophe. Die vorherrschende Geisteshaltung hier ist Aengstlichkeit. Die Zeit im reziproken Austausch hingegen wird weder als leer noch als angsteinfloessend gesehen, sondern ist vollkommen und erwartungsvoll. Zwei Beispiele dazu, das eine technologischer, das andere oekonomischer Natur. Ich verbringe viel Zeit damit, online nach Informationen zu suchen, zu recherchieren und ein paar Blogs zu pflegen. Es ist die Natur der Online-Gemeinschaft, nie das Gefuehl zu haben, fertig zu sein. So entsteht ein Gefuehl des Rueckstands, irgendjemand koennte irgendwo irgendetwas getan haben, ueber das ich Bescheid wissen sollte. Wenn ich online bin, fuehlt es sich an, als ob sich die Zeit beschleunigte und an mir vorbeirauschte. Die Zukunft ist beherrschend. Dasselbe gilt fuer die Offline-Welt. Wenn die Zeit offline auch langsamer vergeht, so ist sie doch von der Zukunft bestimmt. Das, was ich zu tun habe, verzehrt mich, die Abgabetermine, die bald anstehen, die Artikel, die ich noch schreiben muss, und die Autoren, mit denen ich in Kontakt treten moechte. Dies ist die Zeit der Aengstlichkeit, der Furcht vor der Zukunft. Ebenso leben wir mit unserem Geld in der Zukunft. Wir erreichen dies durch Kredite und Schulden. Wie Kojin Karatani erklaert, bedeutet Kredit die Zukunft im Voraus zu beanspruchen. Kredit ist ein Borgen gegen die eigene Zukunft, um seine gegenwaertigen Beduerfnisse zu befriedigen. Anstatt zu warten, bis man genuegend Geld beisammen hat, um sich eine Sache zu kaufen, erlaubt der Kredit die Befriedigung in der Gegewart auf Kosten der Zukunft. Gleichzeitig ist es unmoeglich, mit Schulden in der Gegenwart zu leben, da man den zukuenftigen Tag erwartet, an dem die Schulden bezahlt sein werden [ein Jahr fuer einen Fernseher, drei Jahre fuer ein Auto, 30 Jahre fuer ein Haus]. In beiden Faellen sehen wir also bestaendig in die Zukunft. Nun kommen wir auf die dritte Art des Austauschs zu sprechen, die Reziprozitaet von Geschenk und Gegengeschenk. Waehrend dieser Austausch seinen Ursprung in laendlichen Gemeinden hat, ist er gleichzeitig im Geschenk der Liebe verwurzelt und in allem, was als unbezahlbar angesehen wird. Dieser Art des Austauschs geht nicht in Unzufriedenheit oder Aengstlichkeit verloren, sondern ist stattdessen offen fuer Hoffnung und Ueberfluss. Ich wuerde sogar soweit gehen, zu behaupten, dieser Austausch hat seine Wurzeln in der Religion. Da die Postmoderne sich mit Zeit beschaeftigt, ist sie auch fuer das Religioese offen. Die Postmoderne ist eine Reaktion auf die verschiedenen Versuche, saemtliche Realtiaet durch lineare Mechanismen zu beherrschen und zu kontrollieren. Aber von der Quantenmechanik ueber die Chaostheorie, hin zur Massenpsychologie, oeffnet sich die Postmoderne einem transzendenten Mysterium, immanenter Mehrdeutigkeit und organischer Periodizitaet. Aus diesem Grunde eroeffnet die Postmoderne dem Religoesen wieder einen Raum. Aber sprechen wir von mir selbst. Als ein steuerpflichtiger Buerger der Vereinigten Staaten von Amerika bin ich verstrickt in den Austausch Pluenderei und Umverteilung und werde von den Sensationsmedien und der Regierungspropaganda in die Zeit der Aengstlichkeit gezwungen. Als Angestellter eines Cafes bin ich zudem in den Warenaustausch verstrickt [ich tausche meine Arbeitskraft gegen Geld, waehrend ein Kunde Geld fuer eine Tasse Kaffee tauscht, die ich ihm dann gebe], gekoedert von der Zeit der Unzufriedenheit. Diese beiden Zeitarten [Aengstlichkeit und Unzufriedenheit] nenne ich Konsum von Zeit. Ich bin aber auch Priester und als solcher fest im reziproken Austauch verankert, welchen die Theologie Gnade nennt. Gnade ist ein Geschenk, das eher in Hoffnung und Ueberfluss gegeben wird als in Aengstlichkeit oder Unzufriedenheit. Gnade geht nicht in der Zukunft des Konsums verloren, sondern ist offen fuer die Gegenwart als produktiv, fruchtbar und kreativ. Kapitalismus kann sich nie einen Tag frei nehmen, da er ununterbrochen Geschaefte mit der Zukunft macht. Nationalismus kann sich nie einen Tag frei nehmen, da er sich staendig vor der Zukunft schuetzen muss. Wir aber muessen den Sabbath praktizieren, als Widerstand gegen den Konsum von Zeit. Wir muessen in der Gegenwart leben und die Zukunft zu erschaffen suchen anstatt sie zu verbrauchen. Wir muessen lernen, die Produktion von Zeit zu praktizieren. Wenn der Zeitgeist des Kapitalismus und Nationalismus sagt >Zeit ist Zukunft<, muessen wir protestieren und sagen >Nein! Zeit ist Jetzt!< Lasst uns in Dankbarkeit leben, faehig das Geschenk von Zeit anderen zu geben, faehig mit Zufriedenheit in der Gegenwart zu leben, sich fuer die Produktion von Zeit zu engagieren, oder fuer produktive Zeit. Jetzt ist die Zeit zu produzieren. Jetzt ist die Zeit zu handeln.

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