Die Adorno-Therapie

Adorno ist einer der ganz schweren Faelle, vor allem die Suhrkamp Insel-Gesamtausgabe im Taschenbuch, da macht das Outfit, der ameisenhaufen-wimmelige Druck, die inneren Wirrnisse noch schwerer durchdringbar. Eigentlich ist sie schon vor langer Zeit als therapieresistent aus der Behandlung entlassen worden, aber ab und zu, wenn sie glaubt, eine Sitzung koenne ihr gut tun, kommt sie in mein Behandlungs- zimmer marschiert, nickt kurz zu Begruessung, laesst sich auf meine rote Couch plumpsen, streckt sich lang aus und raekelt sich ein bisschen. Dann faengt sie mit dem zufriedenen Habitus einer als voellig verrueckt Anerkannten an, ihr wirres Innenleben auszubreiten, als koenne man in diesem wirren Zeug lesen wie in einem Buch.

Mit einem leichten Seufzen lasse ich das ueber mich ergehen und versuche mich in dieses Geflecht des offensichtlichen Wahnsinns hineinzudenken. Immer wieder unterbreche ich meine Patientin, bitte sie von vorne anzufangen, damit ich wenigstens versuchen kann, ihr zu folgen. Meistens halte ich den vorgesehenen Sitzungszeitraum nicht aus, werde wuetend und schmeisse die arme Dame entnervt aus meinem Therapiezimmer. Ab und zu wird auch sie gar garstig, beschimpft mich als Idiotin, wenn sie merkt, dass ich nicht das Durchhaltevermoegen habe, mich auch nur einem einzigen Gedankengang in ihrer verqueren Ausdrucksweise zu widmen, bis er einen schluessigen Sinn ergibt.

Es ist ein fortschreitendes Problem: Immer mehr Vertreter der Spezies Text scheinen unaufhaltsam zu degenerieren. Je weiter sie sich fortentwickeln, desto groesser wird auch ihr Verwirrungszustand und das irre Herumgerede. Wollten sie vor grauer Vorzeit einmal den Weg zum Leser finden, ihm ihr Anliegen nahe bringen, ihn manchmal sogar unterhalten, so sind sie heute derart kaprizioes, dass mein Fachgebiet der >Text-Psychiatrie< einen immensen Aufschwung erlebt. Ich nehme alle Kassen und privat. Termine gibt’s vorne bei der Schwester.

Ein Kommentar zu “Die Adorno-Therapie

  1. Adorno selbst war es wichtig, dass er zweimal gelesen wird, also, dass sich das alles erst im zweiten Durchgang zu erschließen beginnt. Auf diese Weise hoffte einer allzu leichtfertigen, oberflächlichen Rezeption zu entgehen und eine tiefere Auseinandersetzung anzuregen.

    Andererseits: der Kranke/Wahnsinnige/Verrückte ist uns unserer Gesellschaft der Normale. Hab ich mal von Adorno in meiner Pubertät gelesen und empfinde das immer noch als einen interessanten Punkt.

    Und zuletzt: Adorno war in meiner Lese-Sozialisation der Erste, der mir bewusst machte, was es bedeutet – im Kontrast zu philosophischen Gerdanken – philosophisch zu denken. Was viel mit auf den ersten Blick unlesbaren, verwirrten Texten zu tun hat.

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