Der individuelle Imperativ

Meine erste intellektuelle Freundschaft entwickelte sich im Rahmen eines evangelischen Jugendkreises Mitte der Achtziger Jahre, einer Zeit, als ich begann, mit anderen aus diesem Kreis Musik zu machen, E-Gitarre zu spielen und Bands zu gruenden. Aber nicht nur die Musik und das Einueben von Eric Clapton- oder Jimi Hendrix-Solos brachte mich dazu, mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln, die Haare lang wachsen zu lassen, sondern auch die Lektuere existenzialistischer Klassiker. Mit einem Freund begann ich mich fuer Sartre, Camus und de Beauvoir zu begeistern, wir diskutierten naechtelang.

Er stand mehr auf der Seite Sartres, ich begeisterte mich fuer Camus und seine Sichtweise einer revoltierenden Lebensbejahung angsichts einer absurden Welt, gemischt mit feministischen Untertoenen aus de Beauvoirs Buechern. Rueckblickend muss ich eingestehen, dass der Ethnologe Claude Levi-Strauss irgendwie auch mich trifft, wenn er mit Blick auf den Existenzialismus schreibt: >Jene Neigung, persoenliche Sorgen in den Rang philosophsicher Probleme zu erheben, laeuft allzu sehr Gefahr, in eine Metaphysik fuer junge Maedchen [und ich wuerde hinzufuegen, auch fuer Jungs] abzugleiten.< Ansonsten zaehlten zu unseren zentralen Interessen auf jeden Fall auch ein ausgepraegter Pazifismus und ein entschiedenes Nein zur Atomenergie. Ich weiss noch, wie ich immer mit einer Jutetasche in die Schule ging, auf der geschrieben stand: >Frieden schaffen ohne Waffen<, um mich dann im Griechischunterricht ausfuehrlich mit der Schlacht um Troja und in Latein mit Caesars >De Bello Gallico< zu beschaeftigen.

Nach dem Abi habe ich ein dreiviertel Jahr Strassenmusik in Konstanz gemacht, wo wir Strassenmusiker uns die guten Plaetze teilten und stuendlich wechselten. Da tauschte man Lieder [was den Effekt hatte, dass nachher alle dieselben Lieder spielten] und als Irland-Fan konnte ich nachher sehr viele Songs von Christy Moore, der in Irland Kultstatus geniesst. Auf meinen Irlandreisen liebte ich es, in Pubs Moore-Songs zu spielen; man muss sich das vorstellen, im hintersten Dorf von Irland spielt ein verrueckter Deutscher Moore-Songs. Auch in den USA hat sich das Gitarrespielen bewaehrt und haette ich nicht durch den Zivildienst keine Zeit mehr zum Ueben gehabt, wuerde ich heute wahrscheinlich beruflich mit meiner Gitarre herumreisen. Was Camus betrifft, den konnte ich noch dazu nutzen, bei einem Studienaufenthalt in Dublin mit anderen Studierenden ueber seine anarchistische Ethik in heftige Diskussionen zu geraten.

Zwar habe ich selbst nie die Erfahrung richtiger Armut oder ausgepraegten Mangels gemacht, aber auf der Strasse hat man ein Gespuer fuer die sozialen Probleme unserer Zeit bekommen. Als Soziologe steht fuer mich immer im Vordergrund, dass man nach einer Kritik und Verbesserung der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheitsmomente schaut, man also nicht Soziologie um ihrer selbst willen betreibt. Eigene Erfahrungen, die einen auch politisch praegen, waren die neuen Hartz IV–Gesetze, worunter ich auch eine zeitlang fiel. Dass sie Menschen aufs Tiefste entwuerdigen koennen, war dabei eine Grunderfahrung. Hinzu kam noch, dass die Sachbearbeiter mit meinem Beruf absolut nichts anfangen konnten und ich von Glueck sagen kann, dass ich nicht mit einem 1 Euro-Job jemand Qualifiziertem seine Arbeit wegnehmen musste.

Was man daraus sozialtheoretisch ziehen kann, ist, dass Erfahrungen fuer die Entstehung und Bindungen an Werte konstitutiv sind. Wir benoetigen Orte und soziale Raeume, an denen wir ueber diese Erfahrungen reden koennen, man muss denen, die wirkliche Armut, Mangel und Repression erfahren, eine Stimme und Raeume der Artikulation geben, damit ihre Erfahrungen zum Sprechen kommen. Ich denke, wir haben dieser Orte zu wenig, und wenn wir solche Stimmen beispielsweise im Fernsehen hoeren, werden sie gleich wieder durch Gegenstimmen relativiert oder loesen sich im allgemeinen Trend der Confrontainment-Formate im lauten Geplapper auf.

Michel Foucault sagte einmal in einem Interview, es sei vor allem die Idee einer Grenzerfahrung gewesen, also einer Erfahrung, die das Subjekt von sich selbst losreisse, eine Grenzerfahrung, die einem am Selbst-Sein hindert, die das Andere in mir zum Vorschein bringt. Wir muessen in der Konfrontation oder Begegnung mit dem Anderen wieder zu einer Art Verantwortung fuer den Anderen kommen. Die Erfahrung des Anderen, die muss auch raeumlich erst wieder moeglich gemacht werden. Das ist es, was mir in meinen fruehen Buechern wichtig war, ausgehend von Zygmunt Baumans soziologischer Studie ueber den Holocaust entwickelte sich ein Bewusstsein fuer Ausschliessungsprozesse.

Ein wichtiger Punkt ist, dass man die Anderen zu Gesicht bekommt, sie nicht – wie ich es in Bremen selbst erlebt habe – beispielsweise in so genannten Asylantenschiffen an den Rand und damit aus dem Blickfeld der Gesellschaft draengt. Weil sich dann niemand mehr mit eigenen Erfahrungen ein Bild der Menschen machen kann, ueber deren angebliche Untaten man jedoch tagtaeglich hoert – man denke nur an die juengsten Wahlkampfdebatten in Hessen, als Koch fuer ein Burkaverbot eintrat, obwohl es niemanden gab, der mit Burka in die Schule ging.

Mittlerweile denke ich, dass es allgemein einer neuen Art von Solidaritaet, symbolischer Anerkennung und sozialer Bindungskraft bedarf, die den gesellschaftlichen Anforderungen nach expressiver Selbstverwirklichung und Individualisierung entgegentreten kann. Es ist irgendwie paradox, die Gesellschaft und ihre Eliten rufen mit ihrem staendigen Insistieren auf Eigenverantwortung, Selbstverwirklichung und Flexibilitaet eigentlich zum Ende des Sozialen auf.

Ich setze dem in meinen neueren Forschungen eine Logik der Gabe entgegen, wie ich sie in den Schriften des Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss am Werke sehe. Geben heisst dabei immer auch, sich selbst geben, eine Art Selbstverlust. Die gegenwaertigen strukturellen Modi der Individualisierung sowie die aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen, sich als autonomes, selbstverwirklichendes und selbstverantwortliches Subjekt zu modellieren, sind derart ausgerichtet, dass sie statt auf die im Gabe-Theorem angelegte Dimension des Austauschs und der Selbstaufgabe verstaerkt auf zunehmenden Konkurrenzdruck und >expressiven Individualismus< abzielen.

Es sind die Strukturen selbst, die die Aufhebung ihres verpflichtenden Charakters proklamieren, ohne sich aber dabei selbst aufzuloesen. Auf der Ebene von Nahbeziehungen druecken sich die gegenwaertigen strukturellen Anforderungen an die Individuen negativ in Form von psychopathologischen Symptomen aus [etwa Depression], im Bereich der rechtlich-politischen Verhaeltnisse als so genannte >Politikverdrossenhei<, auf der Ebene der kulturellen und materiellen Teilhabe als wirtschaftliche >Freisetzung< und kulturelle >Entwurzelung< und schliesslich in der Sphaere der moralischen Werte in Form von Fremdenfeindlichkeit und Gewalt.

Im Gegensatz zu den aktuellen strukturellen Imperativen an das Individuum, selbst verantwortlich zu sein, sich selbst zu steuern, sein eigener Herr zu sein sowie seine Ressourcen und >Autonomiepotenziale< moeglichst kreativ zu nutzen, impliziert das Gabe-Theorem eine Anerkennung des Anderen im Moment der Preisgabe des eigenen Selbst oder, negativ ausgedrueckt, die Absage an das gesellschaftlich induzierte Streben nach absoluter Autonomie und >utilitaristischem Individualismus<. Die Logik oder Kulturtheorie der Gabe beschreibt eine soziale Bindungskraft, die wir alle aus Formen >primaerer Sozialitaet<, um einen soziologischen Begriff aufzugreifen, kennen. Aus Freundschaften, Familie, Jugendkreisen etc. Ein Geben, Nehmen und Erwidern, dass sowohl freiwillig als auch verpflichtend ist.

Der Versuch von Georges Bataille, Walter Benjamin, Jacques Lacan und anderen non-konformistischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit, die Logik der Gabe zu einer neuartigen >kopflosen< Gemeinschaft mit dem Namen >Acephale< zu machen, wie ich es in >Die Zauberlehrlinge< [2006] beschreibe, ist dabei nur bedingt gangbar. Trotz anderer hoechst interessanter Gedanken Batailles, sind mir seine Gewalt- und Opferphantasien zuwider. Vielleicht dann doch eher Camus: Statt eine absolute Lebensbejahung Batailles, die im Endeffekt auch ein Ja zum Tod ist, eine Camussche Lebensbejahung, die daraus ein Ja zu gesellschaftlicher Veraenderung ableitet. Ausserdem geht es bei der Logik der Gabe nicht um Verschmelzung, sondern um die Gleichzeitigkeit von Trennung und Bindung, ein Zugleich des Ausser-sich-Seins und des Bei-sich-Selbst-Seins, anders gesagt um das, was man mit den Philosophen Emmanuel Levinas oder Jean-Luc Nancy eine >Gemeinschaft-ohne-Gemeinschaft< nennen koennte.

Ein Kommentar zu “Der individuelle Imperativ

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.