Eine kurze Begegnung im Bus. Unzählige Gedanken und unausgesprochene Worte später und immer noch kein Anfang gemacht. Der Schriftsteller Claudio Ghin reist durch die Stadt und fasst sich irgendwann zwei Herzen. Eine Erzählung.
*
Die Ampel springt immer noch nicht auf Grün. Es sind mittlerweile vier Minuten vergangen. Die Sonne deutet sich langsam unter der dicken, graublauen Wolkendecke an, die am äußeren Rand fransig in gelbes Rot übergeht.
Ich überlege, ob das bedeutet, dass es nicht regnen wird und finde, dass das aussieht wie das schönste Schichtdessert der Welt. Dann schaltet die Ampel um auf Grün, ich spurte auf die andere Seite, die kalte Luft brennt auf dem Gesicht und in der Kehle. Noch dreihundertfünfzig Meter. Und dann: Geschafft.
Ihr Gesicht. Ihre Augen. Ihr Mund.
Der Bus biegt gerade um die Ecke, ich zücke das Portemonnaie, suche den Gang nach einem Sitzplatz ab, finde einen, steuere darauf zu und mein Blick bleibt kurz hängen. An ihr. Ich habe sie noch nie gesehen. Rotes Haar, schwarze Jacke, weiße Kopfhörer, MP 3-Player in der Hand. Ihr Gesicht. Ihre Augen. Ihr Mund.
Ich vergesse beinahe, weiterzugehen, es tritt mir ein kleiner Junge mit kantigem Plastiktornister in die Hacke. Ich schaue hektisch nach hinten, nicke, drehe mich wieder nach vorne, schaue ihr in die Augen, sie schaut zurück, ich husche vorbei und lasse mich direkt hinter ihr auf die Sitzbank fallen.
Ich will rufen »Miez, Miez, wie heißt du schön?«, würde irgendetwas rufen, wenn wir zu zweit in diesem Bus wären, was wir nicht sind, er ist wie immer rammelvoll. Und ich wäre verlegen und schüchtern, wenn der Bus uns alleine gehörte. In der Konsequenz bedeutet das: Ich bin todesschüchtern.
Ich versuche Gedankenübertragung. »Dreh dich um. Dreh dich um. Dreh dich um!« Kein Erfolg. Ich schaue auf die Uhr. Meine Fahrt hier dauert noch elf Minuten, was bedeutet, dass ein Plan her muss, am besten ganz schnell. Das geht mir durch den Kopf, während ich sie ungeniert von hinten ansehe. Ihr Kinn. Ihre Ohren. Ihre Hände. Ihren
Rucksack.
Ein Brief mit Sätzen, die sitzen.
Später erst werde ich merken, was sie, die ich gerade zum ersten Mal sehe, mit mir macht. Alle verpassten Gelegenheiten schickt sie in einen Fahrtstuhl und sie fahren aus meinem Leben hinunter in den Keller der Bedeutungslosigkeit. Sabrina, die ich die komplette Mittelstufe über anhimmelte, deren Kontakt ich unbeholfen zu gewinnen versucht hab und damit alles schlechter machte. Die mir bis jetzt gerade eben dann und wann wieder im Kopf auftauchte und ich dachte »Ach, Sabrina, würdest du mich jetzt sehen – Bla. Bla. Bla.«
Ich prüfe meine Stimme, was nicht klappt, da sie mir im Hals stecken bleibt, also greife ich in meinen Rucksack und suche Stift und Block, gucke dabei aus dem Fenster, weil ich für den Bruchteil von Sekunden denke, das sähe wohlmöglich saulässig aus, entscheide dann, dass es wohl viel eher saudämlich aussieht, wühle jetzt unter Einsatz meiner Augen weiter und werde fündig.
Acht Minuten. Ein Brief muss her. Ein Brief mit Sätzen, die sitzen, die sich gewaschen haben. Ich fühle mich an die Woche erinnert, in der ich versuchte, den Copytest für Jung von Matt zu machen und bei der Aufgabe nicht weiterkam, bei der es darum ging, einem Frosch hundertsechzig Zeichen in den Mund zu legen, mit denen er die Prinzessin dazu bringt, ihn zu küssen. Mein erster Einfall war »Ich habe eine private Altersvorsorge« – was ein Bullshit. Das würde ich doch zu ihr niemals sagen. Ich überlege weiter, komme auf eine Geschichte, bei der ich der einzige Eingeweihte der drohenden Apokalypse mit Dinosauriern und Zombies bin, ich könnte sie mit dem Brief warnen und ihr empfehlen, meine Hilfe zu suchen.
Ich biete mich ihr als Retter an. Sozusagen. Bullshit.
In hundertsechzig Zeichen zu einem Kuss. Noch fünf Minuten. Ich könnte ihr schreiben von meiner schweren Kindheit und dem langen Weg, den ich gemacht hab mit Höhen und Tiefen bis ich so aussah, wie ich jetzt aussehe und der Zeit, die es brauchte, bis ich endlich morgens in diesem Bus zu meiner Arbeit fahre. Aber sie würde dann wohl zu Recht antworten, dass doch jeder eine schwere Kindheit hatte und wenn das ein Qualitätskriterium wäre, sie eher etwas mit einem aus der Jackson-Familie anfangen müsste. Oder Mario Balotelli. Womit ich wieder beim Ausgangsproblem lande. Anfangen. Wie anfangen? Was anfangen?
Ich könnte ihr schnell schreiben, wie das weitere Leben aussähe, mit mir, ihr irgendwas versprechen, eine Welt ausmalen und kurz darin rumtoben, eine Mitgift aus Ideen.
Könnte schreiben: »Guck guck, ich bin der verwirrte Typ aus der Reihe hinter dir. Wenn ich nicht mehr im Bus sitze, werde ich den ganzen Tag an dich denken, also steig besser jetzt mit mir aus, lern mich kennen. Du wirst es nicht bereuen. PS: Schöne Schuhe.«
Es bleibt noch eine Minute, als sie plötzlich den roten Knopf drückt, ihren Rucksack aufrichtet, sich bereitmacht, aufzustehen. Es bleibt keine Zeit für Geschichten. Es bleibt keine Zeit für einen Brief. Es bleibt Zeit für einen Satz. Soll ich mich dazwischen werfen und brüllen »Neeeein! Drei Haltestellen zu früh!«?
Die Busluft schmeckt nach Zukunft, nach Aufbruch, schmeckt nach Wagnis, nach Veränderung. Ich schreibe so schnell »Bullshit«, dass man es nicht lesen kann, knülle das Papier zusammen und stopfe es in den Rucksack. Sie steht auf. Sie dreht sich, ich blicke hoch, unsere Augen treffen sich. Ich denke eine Million Gedanken in einer Sekunde, sehe alles Denkbare vor uns. Vergesse, was jemals andere darüber sagen könnten, habe keine Zeit für Schüchternheit und Albernheit und Genialität und Verlegenheit. Sie zögert kurz, sich weiter zu drehen. Der Bus hält. Ich öffne den Mund und frage »Bis bald?«
Sie lächelt, deutet ein Nicken an. Dann steigt sie aus.
Es sind mittlerweile fast sechs Wochen vergangen, seit ich ihr sagte »Bis bald« und sie nickte, ich frage mich, ob sie sich daran erinnert, ob sie auch im Bus und auf der Straße und in den Geschäften der Stadt manchmal unvermittelt um sich schaut, nur in der vagen Hoffnung, ich könnte plötzlich da stehen und wir würden sehen, was dann passiert.
Sie hat keinen Namen, an den ich denken könnte, die Erinnerung an ihr Gesicht verblasst allmählich, ich sehe Sie hat keinen Namen, an den ich denken könnte, die nur ihr rotes Haar und die Kopfhörer, wenn ich zurückgehe. Manchmal sah ich andere rothaarige Frauen oder Mädchen oder Damen, ich bin mir nicht sicher, welches Wort es trifft. Ich sah dann zwei Mal hin, überlegte und vertraute auf mein Bauchgefühl, das sich nicht einstellen wollte. Eine andere Prinzessin, ein anderes Schloss.
Ganz in Gedanken laufe ich viel zu langsam und verpasse den Bus, blicke auf meine Uhr, knurre in Richtung Ampel, knurre in Richtung Uhr, knurre mich selbst kurz an, bevor ich mich beruhige, zehn Minuten nervös von einem Bein aufs andere wippe und mir einen Schlachtplan zurechtlege, wie ich mich ninjahaft durch die Flure bis in mein Büro schleiche, ohne dass jemand meine Verspätung mitbekommt.
Da bist du ja endlich
Da kommt er endlich, fast menschenleer, da die meisten noch im Weihnachtsurlaub sind, also ich spring hinein, schaue obligatorisch alle Bänke durch, will mich gerade setzen, als ich den Fehler im Mosaik bemerke, meinen Kopf nochmal hebe, mich nochmal nach vorne drehe. Ja. Jetzt. Ja. Da sitzt sie. Verdammt, genau, das ist sie, ich merke es sofort, sie aber blickt aus dem Fenster, merkt es allein darum nicht, also weiß ich nicht, ob sie mich erkennen würde, wenn sie mich jetzt auch sähe. Darum bleibe ich erst mal einige Sekunden im Gang stehen, der Bus fährt los, manche Fahrgäste schauen irritiert zu mir,ich habe dafür aber keine Zeit, denn ich muss wissen, ob sie es noch weiß. Doch sie dreht sich nicht zu mir.
Ich räuspere mich, was nicht bloß völlig unbeholfen ist, sondern dank ihrer Kopfhörer auch noch sinnlos. Wäre ich Professor X, könnte ich jetzt in Gedanken mit ihr sprechen, sie bitten, sich doch dem Innengang zuzuwenden, oder, noch besser: »What is love, baby don’t hurt me« von Haddaway singen, und ich muss kurz und trocken kichern bei dem Bild. Da dreht sie sich um, sieht mich im Gang stehen, Blick auf sie gerichtet, gedankenversunken, und kichernd. Super.
Sie hält mich für einen neurotischen Kobold. Aber daran lässt sich nur etwas ändern, wenn ich jetzt direkt auf sie zugehe, als wäre es das Normalste auf der Welt, was wohlmöglich stimmt. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich setze mich neben sie, wende mich ihr zu, sie wendet sich mir zu, sie hat wunderschöne Augen, was ich ihr am liebsten sagen würde, aber wenn eine Frau wunderschöne Augen hat, sagt ihr jeder, dass sie wunderschöne Augen hat und immerhin bin ich von Berufswegen auf Sprache getrimmt, also: Mach’s besser, Junge.
»Guck guck, da bist du ja endlich!«, sage ich.
»Ja, da bin ich«, antwortet sie und verzieht dabei ihren Mundwinkel seitlich.
»Ich bin ja ganz krank geworden vor Sorge, dich hätten sie geklaut.«
»Wer soll mich denn klauen?«
»Die grauen Männer.«
»Die dürfen aber im Bus gar nicht rauchen.«
»Auf so viel Schlagfertigkeit war ich nicht vorbereitet!«
»Ich war auch nicht darauf vorbereitet, dass du plötzlich im Bus stehst und mich ankicherst.«
»Hättest du sonst Kuchen gebacken?«
»Ich kann nicht backen.«
»Ich auch nicht.«
Und so sitzen wir plötzlich nebeneinander, ich weiß nicht, ob ich losgrinsen soll oder die Klappe halten oder explodieren, wobei ich keine Übung im Explodieren habe, es gibt aber auch kein Loch im Boden, durch das ich verschwinden könnte. Wir haben noch sechs Minuten, bis sie aussteigt, acht Minuten, bis ich aussteige. Wir könnten einfach so weiter schweigen und vielleicht war dieses kurze Gespräch alles, worauf wir hoffen durften. Aber: Manchmal muss man sich zwei Herzen fassen.
In die Tüte gesprochen
»Mal so in die Tüte gesprochen«, sag ich, »das Schwerste ist doch, Entscheidungen zu treffen.« Sie blickt mich mit offenen Augen an, ich nehme das als Zeichen, erst mal weiterzureden. Da ich nicht weiß, worauf ich hinaus will, wünsch ich mir viel Glück, und tue es. »Als ich jung war, war ich rund wie der Mond. Das lag daran, dass ich mich nie entscheiden konnte, was ich essen soll: Pizza oder Pommes oder Salat oder Schokolade oder Chips … ich glaube, du hast das Prinzip verstanden.
Worauf ich hinaus will: Ich konnte mich nicht entscheiden und an dem Punkt hätte ich einfach nichts essen können, dann säße ich jetzt jedoch nicht hier. Ich hab alles gegessen. Ich hab alles gehört. Ich hab mich in jedes Mädchen verliebt, das ich gesehen habe, ich war wie ein Sieb ohne Löcher, also ein Topf.
Wenn du dich für alles entscheidest, wirst du nicht glücklich, du bist dann wirklich wie der Mond, du schwebst so durch die Gegend und kriegst nur die Strahlen ab, die von anderen verlustig gehen. Also ich hab angefangen, mich gegen Dinge zu entscheiden. Gegen das Essen, gegen die meiste Musik, die meisten Filme, die meisten Menschen, gegen das Verlieben, soweit das möglich war. Der Punkt ist: So kommst du auch nicht weiter. Man braucht einen Arsch in der Hose, am besten keinen zu großen, damit man auch auf Bussitze passt.
Entscheidungen treffen und damit leben. Ich bin ein Meister darin, falsche Entscheidungen zu treffen, nicht ausschließlich, aber auch, und ich warne dich, denn dass ich jetzt neben dir sitze, könnte eine völlig dumme Entscheidung sein, und dass ich dich gerade tierisch volllabere, ohne zum Punkt zu kommen, ohne dass klar ist, ob irgendwas, was ich sage, Sinn macht oder überhaupt stimmt – na ja, das könnte ein großer Fehler sein.«
Anm. d. Red. Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch Auf einem Auge Herbst. Erzählungen (Februar 2016). Das Foto stammt von Mario Sixtus und steht unter einer Creative Commons Lizenz.
So schön!
Super!
Anatomia sociale ,genealogia e implicazione del termine Utile
sergio-gandossi.blogspot.com
danke für diesen Sommergruss! eine sehr angenehme und anregende Lektüre!