Zugfahrt

Der Zug rattert durch die Provinz. Ein aussergewoehnliches Modell, dieser Zug. Er besteht aus nur einem Waggon, ist dunkelblau und nicht zu vergleichen mit den ueblichen Regionalexpressen. Der Zug, der sich Schienenbus nennt, scheint einer anderen Zeit entsprungen zu sein und stimmt einen irgendwie nostalgisch. Nein, es ist keine Lok der Deutschen Bahn, sondern gehoert der Prignitzer Eisenbahn
GmbH [PEG] – ohne die PEG wuerde die Prignitz mit der Bahn kaum noch zu erreichen sein…

Halb verfallene, romantische Bahnhoefe. Eine verzweifelte Liebeserklaerung an einer Holztuer, deren Farbe langsam abblaettert. Herbstlaubaehnlich. Das Signalhorn ertoent. Ein kreischendes, ein schreiendes Geraeusch. Die Landschaft, die sich vor den Zugfenstern erstreckt, ist flach und still. Rapsfelder ziehen sich endlos hin. Gelbes Gelb, blaues Blau, gruenes Gruen. Die Farben der Prignitz. Der Schaffner verknoechert, streng, jedoch gutherzig. Gedanken, Gedanken. Signalton. Ein Vogel. Keine Ahnung, wie er heisst. Loewenzahn. Pappeln. Kastanien. Birken. Eichen. Verfallenes Fabrikgelaende. Schrebergaerten. Felder. Die naechste kleine Stadt. Das naechste Dorf. Wutike, Blumenthal, Boelzke. Wer wohnt hier? Jeder niemand. Jeder. Niemand.

Die einzigen Menschen, die zu sehen sind, sitzen im Zug. Der heimkehrende Student aus Berlin. Man erkennt ihn an seiner Brille und seiner unkonventionellen Frisur. Zumindest fuer die Prignitz unkonventionell. Das Sozialhilfe empfangende Ehepaar in Jogginganzuegen, das an einer vom Arbeitsamt aufgebrummten Weiterbildung teilnehmen muss. Ein Auto haben sie nicht. Deshalb die Zugfahrt. Ein kleines Maedchen, eine Schuelerin, die die Strecke jeden Tag erlebt. Eine aeltere Dame, die ihre Enkelkinder besuchen will. Sie hat eine Tuete voller Geschenke dabei. Signalton. Das naechste Dorf. Der naechste Bahnuebergang. Der Himmel ist bedeckt. Schwere graue Wolken, aus denen ein paar Regentropfen fallen. Es gelingt der Sonne jedoch, langsam diese Wolkendecke zu durchbrechen. Das Licht wirkt irreal. Aber schoen.

Spaeter. Ein paar glatzkoepfige Jugendliche steigen zu. >Pittbull< oder auch >Londsdale< steht auf ihren Jacken. Nazis. Die normale Angst stellt sich ein. Sie verhalten sich ruhig. Sogar hoeflich. Paradox ist das. Es gibt blaue Vorhaenge vor den Zugfenstern. Sie werden in der Mitte durch einen blauen Riemen zurueckgehalten. Sehen aus wie Puppenstubenfenster. Die Sitze sind mit blauem Leder ueberzogen. Ein wenig Regen. Die Praeposition >zu< in dem Wort Zuhause bekommt hier eine andere, eine neue Bedeutung. Alles hier ist tatsaechlich zu. Abgeschlossen. Verschlossen. Eine nahezu unberuehrte Welt. Die Idylle truegt - natuerlich. Faehrt man die Strecke von Berlin nach Pritzwalk, eine Kleinstadt hier in der Prignitz, mit dem Auto, so benutzt man die Autobahn. Man verlaesst die A 24 in Wittsock, kommt an einem McDonald´s vorbei, an Tankstellen und am riesigen Firmengelaende von Kronotex. Von der Romantik, in der weisse Kuehe weiden, bleibt nicht viel uebrig. Mit dem Zug zu fahren ist eine Flucht. Nur mit dem Zug kann man wirklich eindringen in die Landschaft der Prignitz. Vielleicht eine Impression davon erhaschen, wie es hier frueher ausgesehen haben muss. >Frueher< bedeutet bevor die Menschen hier tiefe Einschnitte vorgenommen haben. Die Provinz war frueher vielleicht wirklich noch das Hinterland im Gegensatz zur Grosstadt. Heute verschwindet sie langsam und das Hinterland wird zur Vorstadt, also zur Miniaturausgabe der Grosstadt. Die Kuehe sehen so weiss aus, als haette sie jemand gewaschen. Jetzt Kiefern. Waelder. Kleine Kieswege, Schlagbaum. Andreaskreuz. Alles scheint aus Holz geschnitzt. Die Sonne durchbricht die Wolkendecke nun vollkommen und bringt die haengen gebliebenen Regentropfen auf den Scheiben zum Funkeln. Signalton.

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