Ob Arbeitszeit oder Freizeit – der Kapitalismus prägt unser Zeitgefühl. Wie verändert nun die Digitalisierung die Wahrnehmung von Zeit? Der Internet-Pionier und Schriftsteller Douglas Rushkoff unternimmt eine Reise durch die Geschichte. Er durchleuchtet die Mechanismen der Vergangenheit und analysiert die Ideologie der Gegenwart.
*
Als ich noch ein Kind war, sah ich im Fernsehen eine Dokumentation über den Lebenszyklus einer Schildkröte. Ich erinnere mich nur an den Anfang. Die Babyschildkröten schlüpfen aus ihren Eierschalen und kriechen den Strand hinunter bis zum Meer. Tausende Babyschildkröten, die enthusiastisch und hektisch ihren Weg zum Wasser hinunterwuseln, nur wenige Sekunden nach ihrer Geburt.
Ein paar wurden von den Vögeln aufgepickt. Diese kleinen Schildkröten wussten nichts von Raubtieren. Sie wussten noch nicht einmal, was Wasser ist. Aber sie eilten mit aller Kraft auf das Wasser zu. Ich war begeistert.
„Das ist ein Instinkt“, erklärte mein Papa mir, „sie werden mit dem Wissen geboren, sich auf das Wasser zuzubewegen.“ Aber diese Erklärung reichte mir nicht. Da passierte noch etwas anderes. Etwas, mit dem ich mich als Kind identifizierte. Diese Babyschildkröten lehnten sich nach vorne, mit einem angeborenen Enthusiasmus, und stürmten auf ein Ziel los.
Individuelle und gesellschaftliche Zielorientierung
Anders ist es bei Menschen. Anstatt auf dem Spielplatz frei hin- und herzuhüpfen, lernen wir Spiele mit Regeln, mit Gewinnern und Verlierern. Unsere Energien werden von außen bestimmt und unser Leben in eine Serie von Zielen transformiert: Beende die Schule, ergattere einen Job, finde einen Partner oder eine andere Erfüllung. Sei erfolgreich. Wir geben diese instinktive innere Energie auf, um uns auf diese eingeprägten Ziele zu zu bewegen.
Wie ich es sehe, passiert diese Verlagerung nicht nur im Blick auf Individuen, sondern auch in Gesellschaften. Die Menschheit begann als Jäger und Sammler, je nach dem, was verfügbar war. Keine Lagerung, keine Planung – einfach den Nahrungsmitteln folgen und auf das Beste hoffen. Wie die Babyschildkröten, bewegten wir uns instinktiv, wuselten herum, pflückten Beeren, jagten Beute und kämpften gegen Raubtiere.
Die Entdeckung der Zukunft
Das Aufkommen von Landwirtschaft verwandelte uns von Jägern und Sammlern, abhängig von der punktuellen Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, zu Futuristen, die gegenwärtig sähen und zukünftig ernten. Das verlangte mehr als das bloße Wissen, wie Samen funktionieren. Es brauchte auch eine neue Technik: Zeit. In Landwirtschaft zu glauben, setze ein starkes Konzept voraus von jetzt und später, Aktion und Reaktion, Zweck und Ziel. Die Entdeckung von Zeit leitete das ein, was wir heute „axiales Zeitalter“ nennen – der große Wendepunkt.
In derselben Zeit des Übergangs, verstärkt durch diese neue Sensibilität für Jetzt und Später, taten sich durch die Erfindung von Text neue Wege auf, die Zukunft zu planen. Vor allem, weil die ersten Textdokumente Verträge waren, die für jetzt regeln sollten, was zu einem zukünftigen Zeitpunkt geschehen würde. Sie schafften Verantwortlichkeit und Haftung über Zeit. Mit dem Text gingen auch die ersten zeit-basierten Religionen einher – die jüdisch-christliche Tradition, die eine Art Vertrag oder Pakt zwischen Mensch und Gott herstellte. Wenn wir das tun, tut Gott das. Jetzt und Später. In diesem und im nächsten Leben. Fortschritt. Die Thora beschrieb beides als Geschichte und Flugbahn. Wir können die Erde zu einem besseren Ort machen.
Jetzt arbeiten, um zukünftig Gewinn daraus zu ziehen: So ziemlich alles in unserer Gesellschaft wurde um diese bequeme und motivierende Konstruktion herum aufgebaut. Ob wir unsere Seelen retten oder für unseren Ruhestand sparen, unser Fokus liegt auf der Ziellinie. Das ist eine nützliche Strategie, besonders, um Leute zu Dingen zu motivieren wie Schiffe zu bauen oder Kriege zu führen. Aber es zeigt sein wahres Gesicht – genau wie die Wurzeln seiner Alterung – im neoliberalen Unternehmenskapitalismus.
Kapitalismus auf Zeit
Was hat den Aufstieg des Kapitalismus vorangebracht? Imperialistische Expansion. Neue Gebiete zu erobern, neue Ressourcen auszuschöpfen, neue Märkte aufzubauen und neue Konsumenten anzulocken. Solange die Wirtschaft wachsen könnte, würde es neue Menschen und Geschäfte zum Ausleihen geben, die mehr Geld in den Umlauf bringen, und so weiter. Das ist der Grund, weshalb wir in einer Welt leben, in der Maße wie das Bruttosozialprodukt, Bauprojekte und Preis-Leistungs-Verhältnisse zählen. Es bedeutet, dass die Zukunft größer sein wird als die Vergangenheit. Das ist nicht mehr nur ein Weg, Menschen zu motivieren: Es ist die Voraussetzung unseres ökonomischen Betriebssystems. Wenn die Existenz einer Wirtschaft auf Anleihen einer Zentralbank besteht, ist die einzige Option für die Wirtschaft zu wachsen oder zu scheitern. Ohne Morgen gibt es kein Heute.
Am Ende des 20. Jahrhunderts sind wir alle Futuristen. Wir investieren in eine geplatzte Dotcom-Blase, befinden uns in einem Wettkampf um die nächste große Sache und zählen auf einem Wohnungsmarkt, der uns erst erlaubt hat, unsere Eigentumswohnungen zu finanzieren.
Natürlich war das nur der letzte Auftritt in einem größeren Vermögenssystem, das den Westen über Jahrhunderte hinweg zahlungsfähig gehalten hat. Es begann mit Kolonialismus. Europäische Nationen (und später auch die USA) expandierten in jede Ecke des Globus und beschlagnahmten Ressourcen und Arbeitskräfte. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden diese Praktiken heruntergefahren zu einer Art virtuellen Kolonialismus, in dem man mit Anleihen bei der Weltbank zu barmherziger und wohltätiger Entwicklungshilfe für Staaten von Afrika bis zu den Philippinen ermutigen wollte. Alles, was diese Staaten im Gegenzug tun mussten, war, ihre Märkte dem Westen zu öffnen – was bedeutete, ihre Länder und Menschen umweltverschmutzenden Firmen, destabilisierenden landwirtschaftlichen Importen und Ressourcenabbau auszuliefern.
Aber irgendwann brachen sie zusammen. Verwüstete Nationen wie Somalia wurden unkontrolliert gewalttätig, während sich andere neue Herausforderungen wie Venezuela einfach verweigerten, zu bezahlen. Als Barack Obama Präsident wurde, erklärte er dem Westen in seiner ersten Amtsantrittsrede, dass „wir uns diese Gleichgültigkeit nicht länger leisten können gegenüber Leidenden außerhalb unserer Grenzen, noch die Ressourcen der Welt verbrauchen können, ohne auf die Auswirkungen zu achten. Die Welt hat sich verändert und wir müssen uns mit ihr verändern.“
Während die Entwicklungsnationen schmerzlich gelernt haben, dass „offene Märkte“ eine Offenheit für Ressourcenerschöpfung und Löhne unter einem Existenzminimum bedeuten, ermüdeten die Konsumenten, die im globalen Kapitalismus eigentlich gedeihen sollten. Werbung stachelte sie dazu an, mehr zu kaufen, schneller, jedes Jahr. „Black Friday“-Sales schlichen sich in Thanksgiving. Konsumenten begannen, Stauraum-Einheiten zu mieten, um ihren Überschuss an Besitztümern unterzubringen.
Wandel in der Wirtschaft
Inzwischen ist die digitale Wirtschaft nicht mehr abhängig von riesigen Investoren und Geld, was die Rolle der Zentralbanken noch verkompliziert.
Für Internet Startups braucht es nur eine gute Idee, ein paar Kids, die programmieren können, und viellicht einen Laptop. Das hinterlässt Berge von Geld, die nirgendwo hinfließen müssen, und, was viel wichtiger ist, nirgendwo wachsen können. Zusätzlich zu dieser Tatsache lassen viele Apps dieser Startups eine Art Tauschbörse entstehen. Austausch ersetzt dann die traditionelle Abhängigkeit von großen, zentralen Unternehmen. So hast du einen Markt, der mehr auf Zirkulation als Anhäufung basiert, mehr auf Nachhaltigkeit als Wachstum.
Das mag die Wall Street in Unordnung gebracht haben, aber ich begrüße es. Eine Zivilisation die auf Wachstum basiert, ist schließlich dazu gezwungen, eine Alternative zu betrachten. Das passiert seit einer Weile. Sogar die amerikanische Mittelklasse hat begonnen, seine Rentenvorsorge aus Investmentfonds herauszuziehen, weise vorhersehend, dass die Börse nicht weiterhin expandiert. Besonders seitdem die Grenzen des Kolonialismus erreicht sind und die Ressourcen der Erde fast vollständig abgezapft wurden. Es ist, als wäre die westliche Gesellschaft erwachsen geworden. Egal, wie lange „Global Business Network“-Futuristen noch über Booms schreiben, es ist herausgekommen, dass die Wirtschaft nicht wie das Universum ist und nicht unendlich expandiert. So, wie die Maya es versucht haben uns mitzuteilen, endet die lange Reise schließlich in die Zukunft.
Die Jetzt-Kultur
Nein, 2012 bedeutete nicht das Ende der Zeiten, aber das Ende der Zeit. Wir kamen aus einer zukunftsbezogenen Gesellschaft und gingen in eine gegenwartsbezogene. Die Orientierung nach vorne, die unsere Zivilisation seit der Erfindung von Landwirtschaft und Text charakterisiert hatte, verlor an Überzeugung. Die Mythen, die uns spirituell und wirtschaftlich vorwärts getrieben haben, machten plötzlich keinen Sinn mehr. Joseph Campbells „hero’s journey“ mag eine geeignete Struktur für George Lucas „Star Wars“ oder Steve Cases „AOL business plan“ geboten haben, aber es war nicht mehr der geeignete Plan für eine Kultur, die nicht länger ihren starren Blick auf einen fernen Horizont richtet.
Vorwärtsdenken und zukunftsbezogene Ziele gehen zurück, etwas anderes nimmt seinen Platz ein: Ein Fokus auf die Gegenwart. Hier sind wir! Entertain us! Wilde Ideen von unendlichem Wachstum werden durch realistischere Modelle von Nachhaltigkeit ersetzt. Wir entwickeln ein stärkeres Bewusstsein davon, wo und wie wir unseren Müll entsorgen, als immer neue Ausreden zu erfinden, wie wir mehr davon produzieren und verkaufen können. In dieser Denkweise wird Gewinn vermieden, weil es das Spiel beendet.
Im Einklang mit all dieser Gegenwärtigkeit – vielleicht sogar mit beschleunigender Wirkung – sind digitale Medien und die programmierten Welten, die sie generieren. So wie Zeit im Zeitalter von analogen Uhren, hat digitale Zeitmessung keine schwungvolle zweite Hand, noch einen Sinn für kontinuierliche Bewegung. Es ist 16:22. Dann ist es 16:23. Die Zahlen lehnen sich nicht vorwärts, die Gesamtheit von 16:22 bleibt gleich, und dann verändert sie sich augenblicklich zum nächsten Moment. Zeit ändert sich, wir bewegen uns durch eine Reihe von Stop-Motion-Bildern, eine Sequenz von Standbildern, eine Serie von vielen „Jetzt“.
Überforderung durch Vernetzbarkeit
Digitale Medien verstärken diese Art von Gegenwärtigkeit in uns: Die Jetzt-Zeit der Unmittelbarkeit und Simultanität. Die Desorientierung durch Informationsüberfluss, über die sich jeder beschwert, hat in Wirklichkeit weniger mit dem Berg an Daten zu tun, mit dem wir konfrontiert werden, sondern mehr mit der Zahl von Menschen, mit denen wir simultan in Kontakt sind. Es gibt viele Reproduktionen von uns, die die ganze Zeit durchlaufen – unsere Twitter-, Facebook und LinkedIn-Profile sind immer da, auch wenn wir es nicht sind. Unsere Posteingänge und Kalender füllen sich, ob wir uns in sie einloggen oder nicht.
In bestimmten Aspekten war das eines der Ziele von Entwicklern der digitalen Technologien: Das Outsourcen unseres Gedächtnisspeichers sollte uns befreien, um uns danach auf das Jetzt zu fokussieren. Aber wir begeben uns in Gefahr, diese kognitive Erleichterung zu Gunsten von Trivialitäten zu verschleudern.
Unsere Echtzeit-Technologien drängen sich uns mit Neuigkeiten von der Welt und unseren Freunden auf. Wir versuchen verzweifelt, alles zu bewältigen, als ob ein leerer Posteingang und eine up-to-the-second Twitter-Beteiligung bedeutet, dass wir endlich angekommen sind im „Jetzt“ der digitalen Kultur. Aber diese Technologien sind Rückspiegel, die uns vom Jetzt fern halten. Umso mehr Likes, Follower und Retweets, umso stärker sind wir im falschen „Jetzt“. Aber tatsächlich zeigt es uns, wie weit entfernt wir von der Wirklichkeit sind.
Mit anderen Worten: wir kommen schließlich zurück in die Gegenwart, aber lediglich um unsere potentielle Freiheit aufzugeben für eine neue Art von temporärer Gefangenschaft. Das ist was ich mit Gegenwartsschock (Present Shock) meine: Ich fürchte, dass wir es so ungewohnt sind, in der Gegenwart zu leben, dass wir die daraus entstehenden Möglichkeiten gar nicht annehmen würden.
Wir sind so weit entfernt von dem angeborenen Enthusiasmus der Babyschildkröten, dass wir das Fehlen von Zielen mit einem Fehlen von Leidenschaft verwechseln.
Anders als vorangegangene Generationen sind wir konfrontiert mit einer Reihe von Herausforderungen, die nicht nach Sieg schreien. Wir führen keinen kalten Krieg, in dem wir ein willkürliches Ziel am Ende des Jahrzehnts anstreben, wie die amerikanische Flagge auf den Mond zu stecken.
Wir müssen uns stattdessen um einen anhaltenden Status bemühen, ein nachhaltiges Etwas. Nicht in einem pessimistischen Sinn, in dem wir gebunden sind, mehr als eine Art neue Reife und ein Wille, sich daran zu gewöhnen. Es ist weniger die Sensation einer bevorstehenden Bevölkerungsexplosion als eine kreative Herausforderung von Buckminster Fullers Handbuch für das Raumschiff Erde. Diesem Verlangen nach kreativer Nachhaltigkeit unterliegt alles, vom Produzenten bis zum Permakultur-Landwirt. Wir müssen den Rückzug von Wachstum nicht als Wermutstropfen betrachten.
Die Zeit lieben lernen
Die Griechen hatten zwei verschiedene Wörter für Zeit. Das gebräuchlichere der beiden, chronos, bedeutet Zeit auf der Uhr, aber das andere, kairos, bedeutet mehr als timing. Während chronos bloß die Stunden misst, misst kairos unsere Bereitschaft, unsere Fähigkeit, den Moment zu erfassen. Nur mit chronos zu leben, bedeutet das Ticken der Uhr zu beobachten und den Raum dazwischen zu ignorieren, während unser Leben an uns vorbeiläuft. Ohne kairos sieht jeder Moment aus wie jeder andere. Kein Wunder, dass unser Zeitalter so viele von uns in existenzielle Hoffnungslosigkeit wirft.
Die Wiederaufnahme von kairos erfordert nicht von uns, chronos komplett aufzugeben. Aber es bedeutet, dass wir uns für die Möglichkeit öffnen, dass Zeit nicht so verteilt ist wie unsere digitalen Technologien es suggerieren. Zeit ist nicht gleich Zeit. Anstatt uns stetig an digitale Realität anzupassen, können wir unsere Geräte und unseren digitalen Lifestyle so programmieren, dass sie sich an unseren zugrunde liegenden Rhythmus anpassen. Es gibt keinen Aberglauben mehr wie Jet-Lags, Jahreszeiten bedingte Unordnung oder ansteigende Krebsraten unter Schichtarbeitern.
Zum Beispiel, so wie jede Jahreszeit uns verschiedene Aufgaben stellt, badet der Mondzyklus unsere Gehirne jede Woche in verschiedenen Neurotransmittern. Wir bewegen uns von Acetylcholin zu Serotonin, zu Dopamin, zu Norepinephrin. Und wir machen das als Gruppe! Wenn wir nur wüssten, wie wir dieses Wissen für die Planung unserer Parties, unserer Arbeitswochen und wichtiger Meetings nutzen könnten.
Oder genauso: Anstatt nach einer Welt zu streben, in der wir zu jedem Zeitpunkt alles bekommen können, was wir wollen, könnten wir einfach essen, was in unserer Region wächst. In der Jahreszeit, in der wir es ernten können. Indem Unternehmen sich von öffentlichen Märkten isolieren, könnten sie sich von dem Imperativ befreien, jedes Quartal wachsen zu müssen. Stattdessen könnten sie lernen, auf der Ebbe und Flut der Nachfrage zu surfen. Wie Menschen und Organisationen können auch wir uns selbst vom künstlichen Industriezeitalter befreien. Nehmen wir den Blick runter von Preisen, und schauen wir uns gegenseitig im Hier und Jetzt an.
Sich zu dieser Gegenwart zu verpflichten, mag dazu führen, dass wir Muster und Wege darin wieder entdecken. Wir können eine neue Chance bekommen, wie die Babyschildkröten zu kriechen, immer in die richtige Richtung, auch wenn wir keine Ahnung haben, wohin wir gehen.
Anm.d.Red.: Der Essay basiert auf Douglas Rushkoffs Buch “Present Shock: When Everything Happens Now”. Die Fotos stammen von qmnonic und stehen unter einer Creative Commons Lizenz. Der Text ist im englischen Original in The New Inquiry erschienen und wurde von Martina Dietz übersetzt.