Oder sollte es heissen: Wir sollten blind werden? Marcus Steinweg, Deutschlands juengster Philosophie-Star und Berliner Gazette-Autor spricht von der Wahrheitsberuehrung, also davon, dass man die Wahrheit zwar nicht greifen und besitzen, wohl aber ertasten kann, mit dem feinsten uns zur Verfuegung stehenden Sensorium: dem Tastsinn. Was anderes sagt er damit, als dass wir blind seien? Also nicht sehen koennen, was auch gut ist, denn: seeing is believing. Und glauben ist doch gestern, Mittelalter, da soll es ja zumindest hin, heute wollen wir Wahrheit. Wir, die wir blind sind und nicht glauben wollen.
Yasuzo Masumuras >Blind Beast< [Rapid Eye] erzaehlt die Geschichte eines Blinden, der sich als Bildhauer versucht und dessen isoliertes Atelier in einem entlegenen Lagerhaus liegt, wo nachgebildete Koerperteile wie warhol’sche Ready Mades zahlenfrisch aus den Waenden ragen. Als Inspirationsquelle dient ihm ein seinerzeit [die 1970er] mittelmaessig beruehmtes Modell, welches er dorthin verschleppt hat. Er moechte sie nachbilden, sie verfaellt ihm, wird seine Sklavin, wird seine erste Frau. Bald erblindet auch sie: In der Dunkelheit seines Ateliers, in der absolut finsteren Welt dieses Blinden, dessen primaeres orientierungs- und sinngebendes Instrument der Tastsinn ist.
Aki Shima, so heisst das junge Modell, lernt fortan den Tastsinn schaetzen und die Tatsache, dass alles nur dann wirklich durchdrungen werden kann, wenn es beruehrt wird. Die Beruehrung wird ihr zur einzigen Quelle der Welt- und Wahrheitserfahrung: Das Atelier des Blinden wird ihr zur Ersatzwelt, der Blinde selbst wird ihr zum wahren Geliebten. Doch waere >Blind Beast< kein Klassiker des japanischen Horrorkinos, wenn diese Geschichte nicht einen Haken haette: Die beiden erfahren die Beruehrung als eine sich abnutzende Lust. Sich auf den gigantischen Koerperskulpturen waelzend, treiben sie es immer einschneidender bis sie der Tod scheidet. Blutige Blindenschrift.
Wie meint er das denn, der Herr Steinweg? Du verrätst gar nicht, wie er dazu kommt, haptisch sei die Wahrheit zu erfassen, visuell aber nicht.
Auf der einen Seite deutet ja schon die Wendung “etwas erfassen” an, dass die Idee vom Erkennen/Verstehen als etwas Haptischem nicht so neu ist.
Auf der anderen Seite fallen mir eine Menge Wahrheiten ein, die ich allenfalls visuell verifizieren kann, wo es mit dem Tastsinn recht schnell vorbei ist.
Also wo ist da sein Point?!
Die Sache mit der “Berührung”. Bei Steinweg und auch bei anderen seiner Zunft wird das als Modell der Aneignung verstanden, inbesondere in Bezug auf Wahrheit, die man “nur” berühren kann, für einen Moment.
Die Sache mit dem “blind sein” bzw. “sehen” in Zusammenhang mit “glauben”, das habe ich jetzt reingebracht und würde das ebenfalls in erster Linie als Modell und nicht allzu wörtlich verstehen wollen. Blind Beast lese ich entsprechend als Metaphern-Reservoir.
Steinweg selbst spricht von der Blindheit im Zusammenhang mit dem Sehen des Unsichtbaren:
DER BLINDHEIT, weil es kein SEHEN gibt, das nicht bereits NICHTSEHEN wäre, MANGEL AN ÜBERBLICK, LIMITIERTE SICHT. Die FRAGE DER BLINDHEIT rührt an das UNSICHTBARE, das dem SEHEN vorausgeht, ohne es je zu verlassen. Das SUBJEKT DER BLINDHEIT wie das SUBJEKT DER SICHT sind schon vor die WAND DES UNSICHTBAREN gestellt. Im Verhältnis zu dieser WAND riskiert das SUBJEKT seine EINSICHTEN, sein WISSEN und seine ENTSCHEIDUNGEN.
BLINDSEIN bedeutet am LEBEN sein, im RAUM SEINER ENDLICHKEIT existieren.