In den 1990er Jahren hatte ich mehrfach die Gelegenheit Programme mit japanischen Filmen zu kuratieren. Ein Hoehepunkt dieses Engagements war 1997 erreicht: Die von mir kuratierte, 18 Filme [8, 16 & 35 mm] umfassende Reihe >Young Japanese Cinema< wurde in Holland, Belgien, Oesterreich und Deutschland gezeigt, u.a. in den Filmmuseen von Frankfurt und Antwerpen, sowie im Kuenstlerhaus Stuttgart.
Damals lag es gewissermassen auf der Hand: Ich lebte in Tokio, kannte sehr viele der dortigen Regisseure persoenlich [mit einigen war ich sogar befreundet] und schrieb ueber japanisches Kino. Wenn ich dieser Tage fuer den Filmklub 58 die Filmreihe >Winter-Reise< zusammengestellt habe, die uebrigens noch bis Anfang Maerz laufen wird, dann sind die Umstaende zwar gaenzlich andere, jedoch nicht weniger intim. Aus der heutigen Perspektive besteht die Moeglichkeit, gewisse Motive des japanischen Films aus der Distanz zu reflektieren. Und wenn das Thema den gemeinsamen Nenner der oikos-Dialektik hat, dann bringt dies nicht nur eine filmhistorische Betrachtung mit sich, sondern auch eine individuell-persoenliche - der familiaere Rahmen des Filmklubs macht beides moeglich. Oikos?, werden Sie fragen. Georges Van Den Abbeele hat mal gesagt, dass eine Reise nur auf der Grundlage eines priviligierten Fixpunktes [oikos] gedacht werden kann. Dieser Punkt, den wir gemeinhin Heimat nennen, koenne nur rueckwirkend Gestalt annehmen - schliesslich muesse man seine Heimat verlassen, um sie also solche zu empfinden. Wenn die Heimat nur auf Kosten des Verlusts existieren kann, der oikos also positioniert wird, wenn es bereits >zu spaet< ist, stellt sich einerseits die Frage, ob auf semantisch-mentaler Ebene die Reise nicht schon immer bereits begonnen hat, zumindest fuer all jene, die, ohne sich vom Fleck zu ruehren, eine Vorstellung von ihrer Heimat haben. Andererseits, Heimat als Konstrukt begriffen, wie jenes sich ex negativo, im Spiegelbild der Ferne zusammensetzt. Der Titel dieser Filmreihe erdet und konkretisiert diese abstrakte Fragestellung mit Blick auf das Medium Film: >Winter-Reise< zitiert ein seminales Buch des Fotografen Nobuyoshi Araki: >Sentimental Journey/Winter Journey< [1991], das er veroeffentlichte als seine Frau starb. Darin enthalten sind Bilder ihrer zehnjaehrigen Ehe, in denen sie immer sein liebstes Modell war - von der Hochzeitsreise bis zum Krankenbett und ihrem Tod. >Nach Yokos Tod wollte ich nichts als das Leben fotografieren.< erinnert sich Araki heute. >Doch jedes Mal wenn ich den Ausloeser drueckte, geriet ich dadurch in die Naehe des Todes, denn wenn man fotografiert, dann haelt man die Zeit an.< Eine Reise von Leben nach Tod and back again; eine Reise durch eine 10-jaehrige Ehe; eine Reise durch Erinnerungen, uswusf. Kurz: >Sentimental Journey/Winter Journey< dokumentiert eine Reise, die auf unterschiedlichen Leveln ihren Lauf nimmt, auf ebenso vielen Achsen wird das Reisen in der Filmreihe >Winter-Reise< reflektiert. Zusammengetragen habe ich Road Movies wie >Boy< und >The White<, die, passend zur Jahreszeit, in den Norden Japans fuehren, nach Hokkaido. Kontrapunktisch bauen >Tears of Ecstasy<, >Paradise View< und >Merry Christmas Mr. Lawrence< die Bruecke in den Sueden. In ihnen wird allegorisch ein anderes Japan entworfen. Die Figuren wandeln auf Territorien, die weder klar umrissen sind, noch eine eindeutige Zugehoerigkeit haben. Zuschauer treten eine Reise an, in ein sonnendurchflutetes Fantasieland, in dem neu verhandelt wird ueber Geschichte, nationale Identitaet und Geschlechterkonstrukte. Als Road Movies lassen sich auch Takeshi Kitanos >Getting Any?< und >Stereo Future: SF Episode 2002< bezeichnen. Mit einer langen Kamerafahrt auf einer Bahn durch japanische Sommerwaelder tauchen wir in >Stereo Future< ein. Asao, der Protagonist von >Getting Any?< ist ein Grossstadt-Nomade permanent unterwegs. Road Movies sind diese beiden Filme jedoch auch auf einer abstrakteren Ebene. Mittels wilder Parodier-Techniken werden Zuschauer auf eine Odyssee geschickt zwischen den Bildern und Erzaehlebenen. Das trifft auch auf >Audtion< zu, der gemeinsam mit >Zwischen Himmel und Hoelle< den Kontrast bildet zu den ironischen Parodien. Es sind zwei Thriller, voller Spannung und Abgruende. Waehrend bei >Audition< die Frage nach dem Raum zwischen den Bildern zur entscheidenden Realitaets-Frage wird - Was sehen wir eigentlich? Ist es Traum, Illusion oder [filmische] Wirklichkeit? - ist es bei >Zwischen Himmel und Hoelle< eher eine Meta-Frage: Eine entscheidende, in der Filmgeschichte oft zitierte Stelle des Films, findet im Zug statt, in dem die Polizei ueberlistet wird, weil die verbrecherischen Erpresser via Telefon fordern, den Geldkoffer aus einem Fenster des fahrenden Zuges zu werfen. Plastisch wird damit, was Wolfgang Schiberbusch bezogen auf die Korrespondenz zwischen Transportmittel und dem visuellen Medium des jeweiligen Zeitalters konstatierte: Waehrend zum Beispiel der panoramische Blick der Ballon-Fahrer mit dem fotografischen Kamera-Blick korrespondiert, sind die sukzessiven Bilder der Zugkabinen mit dem Film analog. Willkommen zur Winter-Reise!