Ob die Demokratisierung der Information kommt und was Whistleblower-Plattformen wie WikiLeaks dazu beitragen könnten, stand gestern Abend bei einer Veranstaltung im Wiener Haus der Musik zur Debatte. Die Historikerin und Berliner Gazette-Autorin Christine Mayer war dabei.
*
WikiLeaks könne als Präzedenzfall für eine Entwicklung gesehen werden, die in Zukunft eher die Regel als die Ausnahme im Kampf um Informationsfreiheit darstellen wird: Plattformen, die Rohdaten für alle zugänglich machen. Traditionellen Medien werde immer stärker misstraut; durch die allerorts konstatierbare hohe Medienkonzentration steige der Wunsch nach unabhängigem, investigativem Journalismus. So die einhellige Meinung der ExpertInnen.
Auf dem Podium saßen Daniel Domscheit-Berg (Ex-WikiLeaks Sprecher; OpenLeaks), Constanze Kurz (Sprecherin des Chaos Computer Club Berlin), Peter Pilz (Nationalratsabgeordneter Die Grünen) und Konrad Becker (Direktor World-Information Institute). Sie diskutierten mit Moderatorin Alexandra Föderl-Schmid (Chefredakteurin Der Standard) über neue Techniken und Strategien für das Zugänglichmachen staatlicher Informationen für alle Bürger und Bürgerinnen.
Wider die Medienkonzentration
Gerade die österreichische Medienlandschaft zeichnet sich durch besonders geringen Wettbewerb aus: ein Großteil des Printbereichs liegt konzentriert in der Hand zweier großer Medienkonzerne, im Radio- und TV-Bereich dominiert der staatliche ORF, da der Bereich der Privatsender nur gering ausgebaut ist. Plattformen, die ungefilterte Rohdaten zur Verfügung stellen, können hier eine Lücke füllen: durch die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Originaldaten werden nicht zuletzt auch die Interpretationen und Manipulationen der Medien transparenter und besser vergleichbar.
Daniel Domscheit-Berg versteht dies als einen der Vorteile von OpenLeaks gegenüber anderen Whistleblower-Seiten: statt selbst redaktionell aktiv zu werden, soll OpenLeaks nur eine technische Funktion übernehmen. Will heißen: OpenLeaks will nicht selbst Material sichten, auswählen, bearbeiten (z.B. indem im gegebenen Fall Namen oder Orte geschwärzt werden) und im Anschluss an handverlesene Medienpartner leaken – und zwar um nicht der Versuchung zu erliegen, selbst eine politische und finanzielle Agenda jenseits der Informationspflicht zu entwickeln.
Stattdessen sollen in Zukunft InformantInnen selbst entscheiden können, an welche Institutionen sie mittels zuverlässig anonymisierter Briefkastentechnik ihre Dokumente im Netzwerk versenden wollen. Ein digitales “Löwenmaul” also, das aber anders als in der venezianischen Denunziantenrepublik nicht Informationen über Privatpersonen an den Staat weiterleiten soll, sondern den BürgerInnen die Möglichkeit gibt, nach eigenem Ermessen NGOs und Medien gefahrlos mit Informationen über Staat und Wirtschaft zu versorgen.
Alle Daten öffentlich zugänglich machen
Genau hier verortet jedoch Peter Pilz, seit Jahrzehnten in Österreich als “Aufdecker der Nation” aktiv, besonderes Problempotenzial: Whistleblower würden oft nicht genau wissen, welche Medien kontaktiert werden sollten und gerade in Fällen des Amtsmissbrauchs in Politik, Justiz und Verwaltung könnten sensible Dokumente auf diese Weise leicht in die falschen Hände geraten, da Staats- und Medieneliten oft in nicht einsehbarer Weise verbunden und verbrüdert sind.
Außerdem vermisst Pilz in Österreich, dem er ein besonders schwach ausgeprägtes Grundrechtsverständnis konstatiert, eine Whistleblower-Regelung gerade für den öffentlichen Bereich. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei die Mitarbeit eines Beamten an der Aufdeckung eines Amtsmissbrauchs vor dem Gesetz als krimineller Akt einzustufen. Es wäre an der Zeit, alle Daten öffentlich zugänglich zu machen und konkret zu definieren, welche sicherheits- oder steuerpolitischen Themen davon ausgespart werden sollten. Statt wie bisher anzunehmen, dass grundsätzlich alle Behördendaten dem Amtsgeheimnis unterliegen sollten.
Eine öffentliche Diskussion zu Open-Data-Themen und einen konkreten Schritt in der Rechtssprechung á la Freedom of Information Act nach Modellen, die in anderen Ländern schon seit Jahrzehnten klare Regelungen schaffen, wünscht sich auch Konrad Becker. Er kritisiert nicht nur, dass Daten in Österreich derzeit noch immer wie zu Zeiten Metternichs auf Gutdünken der Behörden verwaltet werden. Becker macht darüber hinaus aufmerksam, dass Bürger und BürgerInnen zunehmend transparenter (lies: durchsichtiger) würden für in gleichem Maße zunehmend intransparente Gruppen.
Kritische Auseinandersetzung mit technischen Infrastrukturen
Die Debatte rund um Freiheitsstandards im Netz müsse also zwangsläufig auch eine Frage der Kontrolle von Datenströmen sein, die gerade in der Sicherheitsindustrie von großem finanziellen Interesse sind. Desweiteren fordert er zeitgemäße Standards im Sinne von “Government APIs” für direkte Schnittstellen zu Regierungsdaten, damit die Möglichkeit der Interpretation auf viele verschiedene Interessensgruppen verteilt wird.
Bei der Diskussion zu Open Data stünden jedoch nicht nur die Zugänglichkeit zu Rohdaten und deren redaktionelle Aufbereitung zur Debatte, sondern auch die kritische Auseinandersetzung mit den konkreten technischen Infrastrukturen, meinte Constanze Kurz. Selbst wenn WikiLeaks und Co. nicht ganz so leicht zu zensieren seien wie traditionelle Printmedien, wäre es doch wichtig in Zukunft stark verteilte Netzwerke zu bilden. Darüber hinaus sollte man nicht nur dem investigativen Journalismus, sondern auch dem “investigative Computing” Impulse geben.
Auf Gesetzgebungsebene können auch Initiativen wie IMMI (Icelandic Modern Media Initiative) neue Anstöße geben. Doch selbst wenn Deutschland im Ländervergleich mit Österreich etwas besser abschneidet und dort ein Informationsfreiheitsgesetz bereits existiert, gibt Kurz sich wenig Illusionen hin: der Kampf um mehr Zugang zu Informationen ist letztlich da wie dort ein Kampf um die Macht – und die geben die Mächtigen nicht ohne weiteres ab.
Anm.d.Red.: Die Veranstaltung “Kommt die Demokratisierung der Information?” wurde auf Video aufgezeichnet, das hier zu sehen ist.
cool, danke!
“zeitgemäße Standards im Sinne von “Government APIs” für direkte Schnittstellen zu Regierungsdaten, damit die Möglichkeit der Interpretation auf viele verschiedene Interessensgruppen verteilt wird.”
guter Punkt!
woher kommt eigentlich der ausdruck “digitales löwenmaul”?
“Whistleblower würden oft nicht genau wissen, welche Medien kontaktiert werden sollten und gerade in Fällen des Amtsmissbrauchs in Politik, Justiz und Verwaltung könnten sensible Dokumente auf diese Weise leicht in die falschen Hände geraten, da Staats- und Medieneliten oft in nicht einsehbarer Weise verbunden und verbrüdert sind.”
dem muss ich absolut zustimmen!
Ich habe zwar kein Geheimnis, das ich in die Welt setzen möchte. Aber wenn: absolute Überforderung. Bild Zeitung? Focus? Oder doch lieber eine Zeitung, die ich selbst lese?
Da brauche ich keinen sicheren Briefkasten, sondern einen sicheren Berater.
vielen Dank! Ich fühle mich als Bürgerin angesprochen, ganz direkt, diese WikiLeaks-Hysterie ging mir bis jetzt ziemlich auf die Nerven, aber Demokratie, da möchte ich mich informiert fühlen. Mich würde sehr interessieren, wie die Verfasserin des Berichts selbst die Aussichten auf eine “Demokratisierung der Information” einschätzt. Müssen wir dafür unsere Idee von Demokratie erweitern? Oder unsere Idee von Information?
@niruman: woher “löwenmaul” kommt, ich weiß auch nicht, ich muss da erst an blumen denken :)
( http://www.gartendatenbank.de/photo/2008122801 )
@niruman & jay: Eine Erklärung des “Löwenmaul” habe ich ja schon im Text versucht, wahrscheinlich aber zu wenig schlüssig – die Idee, eine Analogie herzustellen, kam mir wegen des von Daniel Domscheit-Berg oft bemühten Vergleichs, dass OpenLeaks bloß eine “Briefkastenfunktion” übernehmen solle. Briefkästen für anonyme Meldungen sind ja historisch gesehen nichts Neues. Die bekanntesten sind wahrscheinlich eben jene “bocche di leone” in Venedig, die dazu dienten, dass DenunziantInnen anonyme Schreiben an den Staat richten konnten. Es gab hier zwar auch die Möglichkeit, sich über Behörden zu beschweren, doch wie effektiv 8und ratsam) es wahrscheinlich war, sich im 14.Jh. bei einem willkürlich waltenden Staat über seine Inquisitionsbehörden zu beschweren, ist die Frage. (Bin keine Spezialistin auf dem Gebiet der Venezianischen Republik und ließe mich gerne überraschen!)
Einen leider eher unstrukturierten und unvollständigen Überblick dazu gibt’s auf Wikipedia:
( http://de.wikipedia.org/wiki/Venezianische_Staatsinquisition )
( http://de.wikipedia.org/wiki/Bocca_di_Leone )
@Angelika Prangnitz: Danke für das Feedback! Um die Frage zu beantworten, wie ich selbst die Aussichten auf eine “Demokratisierung der Information” einschätze: Grundsätzlich ist jede Strategie und Technologie zu begrüßen, die das starke Ungleichgewicht in der Informationslandschaft zugunsten der Zivilgesellschaft und der/ des Einzelnen verschiebt. Einem allzu optimistischen Hype will ich mich aber nicht anschließen: auch andere euphorischen Demokratisierungserwartungen, die seit 20 Jahren an das Internet gerichtet werden, haben sich nicht oder nur teilweise erfüllt. Ich halte es da mit Constanze Kurz: es geht um Macht und Deutungshoheit, die schwer umkämpft sind – und bleiben werden.
dankeschön. “bocche di leone” kannte ich nicht. ich war noch nie in italien…
Demokratie oder Diktatur — an der Macht sind die Mächtigen und sie legen die jeweilige Verfassung zu ihren Gunsten aus.
In diesem Artikel ist der Blick auf die Geschichte spannend.
Der Blick fällt zurück und nach vorn.
Wie wird es in 100 oder 500 Jahren aussehen?
Kann man Herrschaftsformen einführen, die immer nur Eliten begünstigen?
Wird die “Demokratisierung der Information” nicht einfach nur eine neue Elite an die Macht bringen (die Info-Elite), sondern die Gesellschaft, den Staat neu organisieren?
http://www.nytimes.com/2011/03/02/world/europe/02assange.html?_r=3
die Revolutionen in Nord-Afrika zeigen: die Demokratisierung der Information ist nicht aufzuhalten. Und (@Krystian Woznicki): zwischen “Diktatur” und “Demokratie” gibt es sehr wohl einen unterschied.
danke für den Bericht
und was, wenn die digitalen Löwenmäuler gar nicht das sind, was die Menschen jetzt brauchen? was, wenn die Leute gar keine Lust und Zeit haben, sich zu beschweren? müsste man sich nicht etwas ausdenken, was die Mehrheit der Menschen dort abholt, wo sie sich befinden? an einem Ort, wo es zwar nicht wirklich gemütlich ist, der sie aber busy hält und davon abhält sich zu empören…
Spannend. Schöner Artikel. By the way: Berichte im Leaks Blog von Zeit Online über aktuelle Entwicklungen zum Thema Leakingportale und Co.
http://blog.zeit.de/leaks-blog
angenehm nüchterne, distanzierte und historische Betrachtung, speziell wenn man bedenkt wie stark die Entertainment Maschine Wikileaks vereinnahmt hat, man lese nur, wie ich gerade bei netzpolitik.org, dass Nach Angaben der Webseite deadline.com Dreamworks, das Studio von Steven Spielberg, die Rechte an den Büchern von Daniel Domscheit-Berg und des Guardian-Buches über Wikileaks gekauft hat und eine Verfilmung plant.
Danke für das reichliche Feedback – jetzt gibt’s auch einen Link zum Video der Veranstaltung:
( http://ichmachpolitik.at/questions/1072 )
und bald auch Fotos hier:
http://world-information.org/wii/wikileaks
oder das hier:
http://www.youtube.com/watch?v=O4vbdusj7Pk
Wäre ja schon schön, wenn man mal an die Rohdaten vom IPCC (“Weltklimarat”) rankäme. Verstehe überhaupt nicht, warum eine (öffentlich finanzierte) Organisation, die solche Unmengen an Geld bewegt und Gemüter erhitzt, sich nicht an Usancen halten muss, wie sie z.B. in der (öffentlich finanzierten) Physik (z. B. CERN) völlig üblich sind. Könnte mir die bitte mal jemand hacken?