
Ob Lebenshaltungskostenkrise oder Klimakrise – die Lage ist zum Verzweifeln. Im Hier und Jetzt an der wünschenswerten Welt von morgen zu arbeiten, bedeutet nicht zuletzt, die kapitalistisch geprägte Wirtschaft zu demokratisieren. Eine vielversprechende Methode dafür ist die Vergesellschaftung, die derzeit von Graswurzelbewegungen in so unterschiedlichen Bereichen wie Wohnen, Energie und Verkehr vorangetrieben wird. Vincent Janz, einer ihrer vielen Initiator*innen in Deutschland, skizziert das Potenzial der Vergesellschaftung.
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Kürzlich feierte der Volksentscheid von ‘Deutsche Wohnen und Co. Enteignen’ (DWE) in Berlin sein dreijähriges Jubiläum. Damals stimmten 59 Prozent der Wahlberichtigten in Berlin – und damit über eine Million Menschen – für die Enteignung der großen Immobilienkonzerne, die über 3.000 Wohnungen in der deutschen Hauptstadt besitzen. Die Wohnungsbestände dieser zwölf betroffenen Wohnungsunternehmen, die von dieser Grenze betroffen sind, würden durch den Volksentscheid mittels Artikel 15 des Grundgesetzes vergesellschaftet und in eine demokratische Anstalt des öffentlichen Rechts überführt werden. Diese neue Institution wäre damit mit einem Mal der größte Immobilienverwalter in Berlin und mit der gemeinwohlorientierten, demokratischen und nachhaltigen Verwaltung der Wohnungen beauftragt.
„Kein minderes Mittel“
Seit dem Volksentscheid allerdings verzögert die Berliner Politik die Umsetzung der Entscheidung mit allen Mitteln und beeindruckender Dreistigkeit. Die damals noch unter der Führung der SPD agierende Regierung berief nach dem Volksentscheid eine Expert*innenkommission ein, die prüfen sollte, ob eine solche Vergesellschaftung überhaupt umsetzbar ist. Sie kam zu einem eindeutigen Ergebnis: Nicht nur wäre die Enteignung der Deutsche Wohnen und Co. und ihre Vergesellschaftung der Wohnungsbestände rechtlich machbar und sozial-gerecht. Die Kommission gab außerdem zu verstehen, dass es derzeit „kein minderes Mittel gäbe, dass eine eindeutig gleiche Wirksamkeit wie das anvisierte Vorhaben entfalten könnte, und dass die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränken – und die Allgemeinheit nicht stärker belasten würde, als die von der Initiative vorgeschlagene Vergesellschaftung es tun würde“. In Anbetracht dieser Eindeutigkeit lässt sich die Verschleppung der Umsetzung nur auf mangelnden politischen Willen und die Verteidigung der Interessen der Immobilienlobby zurückführen.
Der Wohnungsmarkt allerdings entwickelt sich rasant weiter. Alleine im letzten Jahr sind die Angebotsmieten in Berlin um 26,7 Prozent gestiegen. Darüber hinaus verlieren zahlreiche Wohnungen derzeit ihre Sozialbindung, was zu weiteren dramatischen Mieterhöhungen und einer Welle an Eigenbedarfskündigungen führt. Die Kampagne für eine Vergesellschaftung kündigte vor eineinhalb Jahren allerdings bereits den nächsten Schritt an: einen zweiten Volksentscheid. Diesmal handelt es sich allerdings um einen Gesetzesvolksentscheid und nicht – wie beim ersten Mal – um einen Beschlussvolksentscheid. Sollte dieser zweite Entscheid erfolgreich sein, so würde er laut Verfassungsrecht sofort und rechtlich bindend in Kraft treten. Dann wäre Vergesellschaftung Gesetz. Hierbei würde es sich um einen Präzedenzfall handeln, schließlich wurde Artikel 15 des Grundgesetzes noch nie angewandt.
Die hoffnungsvolle Vision der Vergesellschaftung schlägt auch jenseits von DWE Wellen. Wichtiger noch ist allerdings die Tatsache, dass immer mehr mutige Aktivist*innen die Eigentumsverhältnisse ins Zentrum ihrer politischen Arbeit gerückt haben. Immer wieder skandalisieren sie die katastrophale private Verfügungsgewalt über Produktionsmittel. Die Vergesellschaftung stellt dabei eine strukturelle Antwort auf die Ausbeutung von Arbeitskraft, die Zerstörung des Klimas und das Herunterwirtschaften essenzieller Wirtschaftsbereiche dar. Das Kernmodell der Vergesellschaftung im Sinne der Demokratisierung von autokratischen Strukturen privater Konzerne ist allerdings in diesem Sinne keine simple Schablone. Wo DWE zwar mit ihrem ausgefeilten Konzept einer demokratischen ‚Anstalt öffentlichen Rechts‘ und einem subsidiären Räteprinzip für den Wohnsektor in Berlin ein hervorragendes Modell skizziert hat, ist es in Bezug auf den Energiesektor komplexer. Dort wären eine Vielzahl an Eigentumsmodellen notwendig, die zwar stets demokratisch, aber teils zentraler und teils dezentraler aufgebaut sein müssten, um der Komplexität des Energiesystems gewachsen zu sein.
Diffusität der Vergesellschaftung überwinden
Natürlich stellt die Tatsache, dass Artikel 15 des Grundgesetzes noch nie angewandt wurde, eine Herausforderung dar. Aber eben auch eine Chance. Die Ambivalenz des Begriffs kann im gesellschaftlichen Diskurs dazu führen, dass das Konzept missverstanden oder abgelehnt wird. Dass Vergesellschaftung allerdings je nach Kontext eine Vielfalt an demokratischen Eigentumsformen und unterschiedlichen Umsetzungsstrategien mit sich bringt, sollte als Stärke begriffen werden. Um die Diffusität der Vergesellschaftung aufzulösen, möchte ich drei Pfeiler benennen, die bestehen müssen, damit wir von Vergesellschaftung sprechen können. Diese drei Pfeiler, die die Sozialwissenschaftlerin und DWE Aktivistin Jenny Stupka formuliert hat und auf die wir uns seitdem beziehen, sind: erstens, die Änderung der Eigentumsverhältnisse von privatem zu kollektivem Eigentum, zweitens die Demokratisierung des kollektiven Eigentums und, drittens, die Ausrichtung am Gemeinwohl und Bedürfnissen.
Der erste Pfeiler bedeutet im Sinne einer Änderung der Eigentumsverhältnisse die Überführung von privatem Eigentum in die Formen des Gemeineigentums. Oder anders: Enteignung. In allen Bereichen, in denen von Vergesellschaftung gesprochen wird, wird eine positive Vision von einem Neuaufbau erdacht, der weitestgehend unabhängig von Kapital- und Staatsinteressen, Gerechtigkeit, Demokratie und Gemeinwohl in das Zentrum ihres Schaffens rückt. Vergesellschaftung setzt daher eine Übernahme der Ressourcen voraus, die heutige von Wenigen vereinnahmt und ausgebeutet werden.
Der zweite Pfeiler stellt die Demokratisierung dar und meint die Veränderung der Entscheidungsstrukturen von Marktmechanismen oder staatlicher Autorität hin zu demokratischen Strukturen. Der Prozess der Enteignung an sich reicht explizit noch nicht aus, um nachhaltig zu vergesellschaften. Der Staat agiert in seiner aktuellen Form nicht im Interesse der Vielen, sondern steht im Dienste der Wettbewerbsfähigkeit des ‘Wirtschaftsstandorts’ Deutschland und wird somit auch staatliches Eigentum immer wieder privatisieren, sobald eine Krise diesen Schritt rechtfertigt. Da ebendiese Krisen im Kapitalismus schon abzusehen, sogar vorprogrammiert sind, ist eine bloße Verstaatlichung nicht nachhaltig.
Der dritte Pfeiler beschreibt die Gemeinwohl- und Bedürfnisausrichtung. Er repräsentiert die Ausrichtung der Bewirtschaftungszwecke weg von der Profit- und Kapitalmarktorientierung und hin zu bedürfnisorientiertem Wirtschaften. Solidarische Kooperation tritt an die Stelle der Konkurrenz. Ein Gemeinwohl, bestehend aus partikularen Interessen, zu bestimmen und darzustellen, ist einer der spannendsten und schwierigsten demokratischen Prozesse. Sicher ist allerdings, dass eine Wirtschaft, die am Allgemeinwohl ausgerichtet ist, die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum, den Schutz der Natur und eine zugängliche Gesundheitsversorgung für alle garantieren muss. Das Ziel einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft ist öffentlicher Luxus.
Um von Vergesellschaftung reden zu können, müssen alle drei dieser Kriterien erfüllt sein. Zwar ist die Erfüllung von einer oder zwei der Kriterien bereits ein Zeichen progressiver Maßnahmen für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik – wie es beispielsweise Rekommunalisierung und Genossenschaften sind. Allerdings sollte hierbei nicht von Vergesellschaftung gesprochen werden. Im Sinne des Diskurses um diesen Begriff sollte mit ihm vorsichtig umgegangen werden. Nur dann kann er uns verbinden und sein Potenzial entfalten.
Wir brauchen eine Doppelstrategie
Auch wenn nun die Linkspartei bei der Bundeswahl 8,8 Prozent erringen und damit Positionen dieser Art zumindest salonfähiger machen konnte, muss konstatiert werden, dass wir bei jedem Schritt mit einem enormen Gegenwind konfrontiert sind. Dies ist natürlich wenig verwunderlich. Mit einer Vergesellschaftung wird der Kern der kapitalistischen Wirtschaftsweise angegriffen. Die herrschende Klasse versteht das und wird dementsprechend alles dafür tun, die Forderungen zu verwässern und im Zweifel auch geltendes Recht zu brechen, um einen gerechten und demokratischen Prozess zu sabotieren. Solange wir uns ausschließlich auf die Vergesellschaftung nach Artikel 15 GG ausrichten, bleiben die Erfolgschancen gering.
Strategisch lassen sich deshalb zwei Stränge fassen, die beide gemeinsam verfolgt werden müssen, um einen Erfolg der Vergesellschaftung zu ermöglichen. Der erste Strang strebt danach, eine gesetzliche Verankerung von Vergesellschaftung über den Weg der staatlichen Institutionen und nach deren Regeln zu erwirken. Die Auseinandersetzung findet dabei mit den Mitteln ebendieser Institutionen statt: dem Grundgesetz oder dem Volksentscheid. Auch wenn es zunächst kontraintuitiv erscheint, zielt dieser Strang längerfristig darauf ab, sich wieder vom Staat zu lösen: Indem die vergesellschafteten Infrastrukturen und Produktionsmittel an eine neuartige Form der demokratischen Selbstverwaltung übergeben werden, bei der Vertreter*innen des Staates zwar weiterhin Einfluss nehmen können, sie aber in ihrer Entscheidungsgewalt zugunsten der Nutzer*innen, Konsument*innen und Betreiber*innen deutlich eingeschränkt werden, wird die Macht des Staates langfristig reduziert. Eine solche Strategie benötigt allerdings ein hohes Maß an Mobilisierung, Organisation in der eigenen Basis und juristischer und fachlicher Kompetenz.
Neben dieser aktiven und lauten Seite der Strategie zielt der zweite Strang darauf ab, im Hier und Jetzt mit dem Aufbau einer Gegenmacht von unten anzufangen. Dabei geht es vor allen Dingen um die Frage, wie über Kampagnen-Zyklen hinaus eine gesellschaftliche Basis auf der Grundlage von geteilten Interessen organisiert werden kann. Eine solche organisierte Basis braucht jede Initiative. Nicht nur, um Vergesellschaftung auch gegen staatliche Widerstände durchzusetzen, sondern auch um jederzeit auf organisierte Strukturen und stabile Beziehungsnetzwerke zurückgreifen zu können. Diese werden vor allem dann relevant, wenn es um die hypothetische Umsetzung einer Vergesellschaftung geht. Hier müssten organisierte Strukturen bereits vorhanden sein, um die Verwaltung effektiv übernehmen zu können. Wir müssen aber auch ernst nehmen, dass diejenigen, die wir zur Vergesellschaftung befähigen wollen – nämlich uns alle – nicht von allein aus wissen, wie wir unsere neuen Rollen und Verantwortungen übernehmen sollen. Hierbei muss auf (Fort)-bildungsangebote gesetzt werden. Schließlich zielt dieser Strategiestrang darauf ab, bereits existierende Strukturen weiter auszubauen und sie als Vorläufer zu verstehen.
Vergesellschaftung zu fordern bedeutet, Strategien und Taktiken einzusetzen, die für viele von uns neu sind und die es erst zu lernen und zu erproben gilt. Bereits jetzt können wir allerdings Erfolge verzeichnen, wie etwa den Wahlerfolg der Linken bei der jüngsten Bundestagswahl. Der Haustürwahlkampf, das Fokussieren auf sozioökonomische Probleme und eine klare Haltung gegenüber rechtskonservativen Tendenzen konnten hier zu einem beachtlichen Erfolg führen. Mit diesen Erfolgen und dem Erproben neuer Strategien und Kampagnen, die in der breiten Bevölkerung anschlussfähig sind, kann sich das Potenzial von Vergesellschaftung voll entfalten. Sie ist eine politische Forderung, hinter der sich alle versammeln können; das Versprechen einer lebenswerten Zukunft für alle; ein Programm für konkrete, materielle Verbesserung der Vielen; eine Vision für einen besseren Morgen. Fangen wir damit an.