“Wie asozial!”: Ko-Existenz für Fortgeschrittene

„Assi“ (auch „Asi“) scheint eine Art Urwort zu sein, folgt man Freuds Bestimmung von dessen inhärentem Gegensinn: „echt as(s)i(g)!“ (oder auch explizit: „wie asozial!“) kann sowohl Ausdruck größter Verachtung als auch höchster Bewunderung sein. Theatermacher und Berliner Gazette-Autor Alexander Karschnia begiebt sich auf die Suche nach einer Definition.

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Slanguage-Studien decken Bereiche der gegenwärtigen Gesellschaft auf, die sich nur dem anthropologisch geschulten Blick erschließen. So befinden wir uns im Fall des „As(s)is“ im Bereich des Heiligen, des Opfers. Die despektierliche Bezeichnung „Du Opfer“ wäre ein weiterer Fall für die Sakralsoziologie. Diese erfreute sich in den 30er Jahren einer gewissen Verbreitung im Pariser Intellektuellenmilieu.

Eine der einflussreichsten anthropologischen Studien war jene von Marcel Mauss zur Gabe. Die Praxis der Gabe stellt das gesamte Wissen über den homo oeconomicus auf den Kopf. Hier begegnen wir nicht länger rationalen Akteuren, die sich in einer idealen Sphäre, dem sog. „Markt“ begegnen, wo sie ihre unsichtbaren Hände schütteln und Waren oder Dienstleistungen tauschen, sondern scheinbar extrem unvernünftigen Gemeinschaften, die sich gegenseitig an Geschenken und Gegengeschenken überbieten, um sie dann in einem irrationalen Exzess zu verschwenden: dem Potlatsch.

Nach dem großen Crash von 1929, der zu einer nie zuvor erlebten Vernichtung von Gütern bei gleichzeitig allgemeinem Mangel geführt hatte, schien diese Handlungsweise mit einem Mal nicht mehr archaisch fremd. Eine solche spektakuläre Warenvernichtung ist uns in den letzten sieben Krisenjahren erspart, bzw. verborgen geblieben. Dennoch hat die Praxis der Gabe durchaus auch in diesem Zusammenhang eine gewisse Relevanz. So ließe sich fragen, ob die astronomischen Summen, die als Kredite gewährt wurden – nicht nur in Form von Staatsschulden, sondern auch als Konsumentenkredite – sich noch im Bereich des utilitaristischen common sense abspielen oder längst einen Systemwechsel anzeigen von der kapitalistischen Tauschgesellschaft zu einer „Ökonomie der Verausgabung“ (Georges Bataille).

Geschenke = “gift”?

Vor 16 Jahren hat Christoph Schlingensief diese Tendenz erkannt und den deutschen Bund der Industrie aufgefordert: „Verschenkt Euer Geld und rettet so die Marktwirtschaft!“ Was damals nach einer ironischen Kunstaktion klang, bekam keine zehn Jahre später mit Ausbruch der Krise einen realpolitischen Sinn. Sollte es wirklich so sein, dass das Geld zur Gabe geworden ist, so hätte sich sein Wesen fundamental verändert: Dann ginge es nicht länger um die alte Idylle des Marktes vom harmonischen Ausgleich, den jene unsichtbare Hand herbeiführt, sondern um radikale Asymmetrie: Wer am meisten schenkt, gewinnt.

Geschenke sind in diesem Sinne really a „gift“, eine Art Attacke, die in den Zeremonien des Potlatsch die Eröffnung einer neuen Runde feindseliger Liebenswürdigkeiten anzeigt. Befinden wir uns nicht längst inmitten eines gefährlich zugespitzten EUROPOTLATSCH. Wäre es nicht höchste Zeit, uns das anthropologische Wissen darüber und seine philosophische Verarbeitung durch die avantgardistischen Pariser Künstlerkreise anzueignen, um einen Ausweg aus der Krise zu finden?

Contre-Attaque war der Name eines Zeitschriftenprojektes, das sich in Anbetracht der faschistischen Gefahr in Europa dem Projekt eines neuen antifaschistischen Mythos verschrieben hatte. Wie soll heute das Opfer ausfallen, das zu erbringen man jeden Tag die überschuldeten Südländer auffordert? Ein „sacrifice“, das keine „victims“ fordert – ein Gegengeschenk, das die Beschenkten absolut überfordert: „Ich schenk’ dir alles was ich hab’ / Besieg’ dich dadurch ganz und gar“, singen Tocotoronic („Der Achte Ozean“). Denn das sollte mittlerweile klar geworden sein: Potlatsch bedeutet Krieg. Oder besser gesagt: Potlatsch offenbart den Krieg der Ökonomie, den Handelskrieg. Während die westliche Version der Ökonomie uns eine friedliche Welt des Handels vorgaukelt, enthüllt die Gabe die Gewalt der Ware. Geschenkt? As(s)i, Alter. Geschenkt!

Was ist nur los mit dem Kapitalismus, dem alten Schlawiner? Nix zu verschenken zu haben galt früher als Tugend, heute soll es ein Laster sein? Dabei war die Verwandlung von privaten Lastern (Geiz, Habgier) in öffentliche Tugenden (Wohlfahrt) der zentrale Mythos des schlechten alten Kapitalismus, sein Betriebsgeheimnis: wie sich durch asoziale Aktionen asozialer Individuen die bürgerliche Gesellschaft konstituiert. Auch Brecht war davon fasziniert und schuf eine ganze Reihe „Großer Asozialer“: Baal, Meckie Messer, und insbesondere den Egoisten Johann Fatzer.

Asozialen Sozialismus vs Kommunismus des Kapitals

Für Brecht war klar, dass auch ein kollektivistischer Staat großen Nutzen davon haben würde, Prachtexemplare wie Fatzer zu studieren und hat zu diesem Zweck die Gründung von Pädagogien vorgeschlagen, in denen Theater gespielt wird: „Der Staat kann die asozialen Triebe der Menschen am besten dadurch verbessern, dass er sie, die von der Furcht und von der Unkenntnis kommen, in einer möglichst vollendeten und dem Einzelnen selbständig beinah unerreichbaren Form von jedem erzwingt.“ Den ‘Assi machen’ als Dienst an der Gemeinschaft. Auch in diesem Slang-Ausdruck steckt eine tiefere Weisheit: Asozialität ist performbar. Doch es geht um mehr als Performance, es geht um Produktion: Der „Große Asoziale“ ist eine Produktivkraft, ein lebendes Paradox.

Diesem ‘asozialen Sozialismus’ gegenüber steht der „Kommunismus des Kapitals“ unsrer Tage, der schwarze Schimmel aus uns allen macht: „Arbeitskraftunternehmer“ – ein neues Urwort für eine Zeit, in der alle Gegensätze kollabieren: zwischen Kapital und Arbeit, Arbeit und Freizeit (bzw. Arbeitslosigkeit) usw. Im „Biokapitalismus“ wird das Leben Arbeit und umgekehrt. Aber soll man das wirklich noch Arbeit nennen: immaterielle, intellektuelle, symbolische, kognitive, kreative, affektive, sorgende, sexuelle Arbeit? Als Künstler kennt man das aus der eignen, tja: Arbeit.

Aber aus der Arbeitswelt? Während also das IT-Proletariat auf digitale Bohème macht, bemühen sich die Kulturproduzierenden, die besseren Manager ihrer Selbst zu werden. Das soll zu Synergie-Effekten führen – in Wahrheit führt es zu einer „mimetischen Krise“ zwischen monströsen Doppelgängern (feindlichen Brüdern), die sich leicht in endemischer Gewalt entladen könnte. Da stellt sich ganz neu die alte Frage nach dem Opfer, bzw. nach einem „Ende der Gewalt“ (René Girard). Hier käme also wieder der Potlatsch ins Spiel, nicht zwischen indigenen Gruppen oder Staaten, sondern zwischen den sog. Business-Punks (in T-Shirt, mit Sneakers) und den Künstler-Entrepreneurs (im Business-Suite): „Gib mir Deine Hand, / wir sind verwandt, / Hüll mich in Dein Gewand“.

Kapitalisierung des Kommunen

Der „neue Geist des Kapitalismus“ (Boltanski & Chiapello), den die neuere Management-Literatur verbreitet, ist nicht nur postfordistisch, sondern vor allem postprotestantisch: Während die protestantische Arbeitsethik auf Triebverzicht beruhte (Profit machen ist ok, solange man spart, bzw. Kapital akkumuliert, statt im Luxus zu leben), beruht der Postfordismus auf Hedonismus (Schulden machen ist ok, solange man exzessiv konsumiert). Für konservative Moralkritiker ist das eine Folge von ’68 und das stimmt auch: Der Postfordismus ist die Antwort des Kapitals auf die damalige Kulturrevolution – eine Konterrevolution im Wortsinne, die Umwertung aller gegenkulturellen Werte.

Hier beginnt der Rollentausch zwischen Bürger und Bohème. Früher nannte man es HiP (Hippies in Power), wenn ein Hippie irgendwo Chef wurde, heute ist es umgekehrt: Die Chefs sind Hippies geworden und haben sich die „Künstlerkritik“ an der Entfremdung zu Herzen genommen und den Arbeitsplatz zur Stätte der Selbstverwirklichung transformiert: „Wir sind hier alle per Du.“ (Du Opfer.) So wird aus dem Chairman ein Shareman: „Wir teilen alles.“ D.h. den Profit. Man kriegt seinen Anteil an der Beute: Aktien. Als „Sozialismus des Kapitals“ haben schon Karl Marx & Friedrich Engels die Aktiengesellschaften genannt:

„Abschaffung des Eigentums auf der Grundlage des Eigentums“. Doch das reicht nicht. Die Management-Ratgeber sind ratlos: Auch großzügige Beteiligung am Gewinn garantiert keine unbedingte Loyalität. Der „Biokapitalismus“ aber will den ganzen Menschen: das „Gattungswesen Mensch“, wie Marx es nannte oder den „General Intellect“, also die allgemeinen, von allen geteilten Vermögen: Sprach- und Lernfähigkeit, Imagination, usw. Das ist es, worum es im „Kommunismus des Kapitals“ wirklich geht: um eine Kapitalisierung des Kommunen.

In Wahrheit haben wir das längst durchschaut: was früher ‘teile & herrsche’ hieß, heißt auch heute noch so, allerdings meint es etwas anderes: ‘share & conquer’. Natürlich werden wir jedes Mal erobert, when someone likes to share something with us. Wir werden geteilt, getrennt vom eigentlich Eigenen. Denn was man uns immer wieder als Geschenk verkaufen will, die immateriellen Güter (Gefühle, Gedanken, Stimmungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen) haben wir selbst produziert. Indem sich die Ware als Gabe tarnt, kann sie uns weiterhin trennen von dem, was seit je uns gehört. „Trennung ist das A und O des Spektakels“, verkündeten die Situationisten. Das ist nur die halbe Wahrheit: Die Trennung ist nur das A. Das O ist die Wiedervereinigung: Zusammen bringen, was man vorher selbst auseinander gerissen hat.

Liebe?

Social Media macht nicht Konsumenten zu Produzenten, sondern Produzenten zu Konsumenten. Wollen wir den Fetisch zerstören, müssen wir also mit facebook beginnen. Und auf einmal verschiebt sich auch die Bedeutung der Hymne von Schlingensiefs Partei Chance 2000: „De-her Blick in das Gesicht / eines Menschen, dem geholfen ist / ist der Blick in eine schöne Gegend / Freund Freund Freund.“ (Gefällt nicht nur mir nicht mehr.) Freund Freund Freunde haben wir jetzt alle viele, ihre Gesichter kennen wir (in Briefmarkengröße), aber getroffen haben wir sie noch nie. „Nein, ich gehe nicht mit Euch ins Bett!“ ruft Fabian Hinrichs in René Polleschs Kill your darlings, „Ihr seid gar kein Kollektiv, ihr seid ein Netzwerk!“ Das reicht noch nicht. Da fehlt doch was…

… die LIEBE? Eine universale Liebe wie diejenige des Hl. Franz von Assisi (sic!). Ihn bringen Toni Negri & Michael Hardt am Ende ihres linksradikalen Theoriebestsellers EMPIRE ins Spiel, um die nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück zu beschreiben, Kommunist zu sein. Ein christlicher Orpheus, der mit Tieren spricht, sich zusammenschließt mit Schwester Mond, Bruder Sonne, den Vögeln auf dem Feld, den Armen und Ausgebeuteten, den sog. „Vogelfreien“. Das Totenreich, aus dem er wiederkehrt, ist das Reich der toten Arbeit: der Kapitalismus. Seine Oberwelt ist geprägt von universeller biopolitischer Produktion: LIEBE. Nichts was er besingt, kann ihm schaden. Aber in seinem Gesang hatte die Fron der Bauern keinen Platz, deswegen war sein Platz unter dem Pflug.

Das „Ende der Arbeit“ war noch nicht gekommen. Heute jedoch ist es soweit. Das ist die gute Nachricht; die schlechte: „die Abschaffung der Arbeit geschieht auf der Grundlage der Lohnarbeit“. Das ist der Kern des „Kommunismus des Kapitals“. Oder wie Paolo Virno schrieb: „Arbeitslosigkeit ist unbezahlte Arbeit, Arbeit bezahlte Arbeitslosigkeit“. Schlingensiefs Aufruf „Beweis, dass es Dich gibt!“ kann heute nicht auf die europäischen Erwerbslosen beschränkt bleiben, sondern muss sich vor allem auf die beziehen, denen man verbietet zu arbeiten: Millionen illegalisierte MigrantInnen.

Sie sind der radikalste Ausdruck der gegenwärtigen Transformation der Ökonomie: hypermobile „Arbeitskraftunternehmer“, die ein Geschenk bringen, welches das EMPIRE anscheinend nicht annehmen kann: ihre Arbeitskraft. Das beweist, das Reich der toten Arbeit liegt im Inneren der Festung, die Unterwelt ist hier: das EUROPARADIES. Doch eine neue Lebensform regt sich im Widerstand gegen das neu-alte Imperium. Sie ist der (Alp)traum des kommunistischen Kapitals: mobil, flexibel, kreativ, innovativ – ‘lebendige Arbeit’: „Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.“ (Urworte, orphisch)

Anm.d.Red.: Der Beitrag erscheint parallel in kürzerer Fassung in der Zeitschrift Herbst. Theorie zur Praxis.

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