Gesellschaft in der Sackgasse: Wie Migration durch rechte Ideologien zur ‚Mutter aller Probleme‘ wird

Notunterkunft, Berlin, 2016. Foto: Krystian Woznicki (cc by nc)
Notunterkunft, Berlin, 2016. Foto: Krystian Woznicki (cc by nc)

Die Migrationspolitik in Deutschland folgt seit Jahrzehnten dem gleichen Muster von Rassialisierung und Kontrolle. Die Folgen reichen weit über die aktuelle Wahlkampfdebatte hinaus, in der sich die Spitzenkandidat*innen um das höchste Amt darin überbieten, wer Migrant*innen am effektivsten in die Schranken weisen kann. Sabine Hess dekonstruiert dominante Migrationsdiskurse und zeigt, wie die rassistische Fixierung auf Migration als ‚Mutter aller Probleme‘ gesellschaftlichen Schaden anrichtet und von den eigentlichen gesellschaftlichen Problemen ablenkt.

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„Die Mutter aller Probleme ist die Migration“ – mit diesem viel zitierten Satz prägte der damalige Innenminister Horst Seehofer 2018 nachhaltig den Diskurs über die Migration. Dabei waren bereits damals die Geflüchtetenzahlen im Vergleich zum Vorjahr um 16,5 Prozent gesunken. In den Folgejahren spitzte sich die Debatte weiter zu: Heute geht es nur noch um ‚irreguläre Migration‘. Gemeint sind dabei allerdings dieselben Menschen, die 2015 als Geflüchtete mit leidvollen Erfahrungen begrüßt wurden. Dies zeigt auch die Asylstatistik für 2024: Die Hauptherkunftsländer der nach Deutschland geflohenen Menschen sind weiterhin Staaten mit anhaltenden Kriegen und Konflikten. Von den hier ankommenden fliehenden Menschen steht 62 Prozent ein Schutzstatus zu und die restlichen 38 Prozent können mehrheitlich aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden.

Die Verwendung des Begriffs der irregulären Migration im Gegensatz zum Begriff der Fluchtbewegung insinuiert im Diskurs eine Negativität, spricht den legitimen Fluchtbewegungen ihre Legitimität ab und rückt sie damit in einen Bereich außerhalb des internationalen Rechtsrahmens und der Genfer Flüchtlingskonvention. Flucht wird damit zur ‚illegalen Angelegenheit‘, zur Migration ohne Rechte. Gewissermaßen wird hier eine klassische Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Es sind allen voran die restriktiven Migrationspolitiken – wie die restriktive Visapolitik –, die Fluchtmigrant*innen auf irreguläre Wege zwingen.

Migration ohne Rechte

Während jedoch im politischen Diskurs mittlerweile von ‚Zustromsbekämpfungsgesetzen‘ (CDU) die Rede ist, macht ein Blick auf die numerische Ebene deutlich, dass die Zahlen die Dramatisierungsnarrative nicht stützen: So ist die Nettozuwanderung nach Deutschland im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 55 Prozent gesunken. Rund 79 Prozent derer, die nach Deutschland kamen, kamen dabei aus einem europäischen Land. Auch die Zahlen derer, die in Deutschland Asyl beantragen, sind in Folge um 30,2% gesunken. Insgesamt machten im Jahr 2022 Geflüchtete nur etwa 2,6 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Auf die EU bezogen, liegt der Wert gerade einmal bei 1,6 Prozent. Dabei zeigen historische Forschungen, dass diese oder auch andere Zahlen in der Debatte über Migration lediglich nebensächlich sind. Sie sind im Diskurs als relational zum gesellschaftlichen Klima zu betrachten. Migration hat – ähnlich wie andere Themen in Deutschland – im Jahr 1945 keinen demokratischen Neuanfang erfahren. Keine Stunde Null. Vielmehr hat teils das gleiche Personal nach 1945 weitergemacht und hat wieder ‚Fremde‘ und ‚Nichtdeutsche‘ im Rahmen der neuen Ausländergesetzgebung an die Ränder der abstammungsdeutschen Gesellschaft gedrängt. Das zeigen jüngste historische Migrations- und Rassismusforschungen, wie die Arbeit der Historikerin Maria Alexopoulo sehr deutlich. Damals waren es die Überlebenden der Shoah und die sogenannten Displaced Persons, die damals die ‚ersten Ausländer‘ wurden.

Wer Einwanderungskontrollpolitiken geschichtlich einordnet, wird feststellen, dass sie historisch betrachtet relativ neu sind. Einige Rechts-Historiker*innen wie Tendayi Achiume sehen in dem US-amerikanischen Chinese Exclusion Act (zu Deutsch: Gesetz zum Ausschluss der Chinesen) von 1882 den ersten migrationspolitischen Akt der nationalistisch und rassistisch argumentierte, um spezifische Einwanderungsbewegungen auszusieben. Um dies durchzusetzen, benötigte der damalige Präsident Chester A. Arthur ein enormes Maß an Bürokratie, Kontrallakteuren und teils auch militärischer Ausrüstung. Das heißt, das angeblich souveräne Recht von Staaten, auszuschließen, ist ihnen nicht in die Wiege gelegt worden, sondern erst vor gut 140 Jahren im Rahmen ökonomischer und politischer Erwägungen gesetzt worden – und zwar gegen den Widerstand von Ländern des globalen Südens, die bereits damals auf eine antidiskriminierende offene Eiwanderungspolitik pochten.

Auf Deutschland bezogen, hat die Darstellung von Migration als zentrale Problematik des nationalen und sozialen Zusammenhalts bereits eine lange Geschichte. Angesichts einer soliden und – so scheint es – beständig wachsenden rechtspopulistischen Wählerschaft, welche nicht nur Migrant*innen ablehnt, sondern die Demokratie und den Rechtsstaat selbst, ist dieses Framing nicht nur fatal, sondern auch toxisch und zersetzend. Es gefährdet nicht nur jene, die diese Formation des Diskurses immer wieder als Nicht-Zugehörige, Fremde und Belastung markiert, sondern es gefährdet ebendiese demokratische Ordnung und den sozialen Zusammenhalt, der in seinem Fortbestand den Fortbestand des Rechtsstaats garantiert.

‚Hostile Environment‘-Politik

Dabei entfernt ich der öffentliche Migrationsdiskurs immer weiter von der eigentlichen Sachlage. Es findet eine Entkopplung von politischen, immer schriller werdenden Problemlösungsvorschlägen und der Realität statt. Der zentrale Fokus rechtspopulistischer Ideologieproduktion, die vor allen Dingen über Politiken der Angst und der Dauererregung funktioniert, hat zu einem Klima geführt, in dem keine Maßnahmen außerhalb der politischen Möglichkeiten mehr zu sein scheinen. Der Ruf der AfD nach Remigration ist dabei weniger überraschend als die Forderung einer ‚Hostile Environment‘-Politik einer FDP im Sinne einer ‚Brett-Brot-Seife‘-Strategie gegenüber abgelehnten doch nicht abschiebbaren Geflüchteten, die sich einst als Bürgerrechtspartei verstand. Politiker verweisen dabei gerne auf England und Dänemark – beide regiert von Sozialdemokraten. Dort sinken zwar die Zahlen derer, die noch in der Asylstatistik auftauchen wollen, vor allen Dingen aber hat das Erschaffen einer ausländerfeindlichen Umwelt zu mehr Gewalt und grassierendem Rassismus geführt.

Notunterkunft, Berlin, 2016. Foto: Krystian Woznicki (cc by nc)

Noch 2012 hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil zum Asylbewerberleistungsgesetz entschieden, dass „die Menschenwürde migrationspolitisch politisch nicht zu relativieren“ ist. Auf gesetzlicher Ebene wurde dieser Grundsatz seitdem mehr als einmal in extremer Weise relativiert. Inzwischen werden auf dem Gebiet der Migrationspolitik Recht und Gesetz, ob internationale und europäische Menschenrechtsreformen, völkerrechtliche Standards oder nationale Gesetze, eher als hinderlich dargestellt und ganz offen von Mitgliedstaaten der EU ignoriert. Im September 2023 äußerte sich der ehemalige Bundespräsident und DDR-Bürgerrechtler Joachim Gauck im ZDF und mahnte dort, es sei „moralisch nicht verwerflich“, sondern „politischen geboten“, die Zuwanderung zu begrenzen und dass man dafür „neue Spielräume entdecken“ müsse, die „zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen“. Er forderte von der Politik mehr Mut und weniger „Furcht vor einer brutal klingenden Politik“. Bundeskanzler Scholz war nur drei Wochen später auf dem Cover des SPIEGEL zu sehen, in dem er forderte, „wir“ müssten „endlich im großen Stile abschieben“. Jens Spahn forderte daraufhin im Bundestag, „irreguläre Migrationsbewegungen“ gegebenenfalls „mit physischer Gewalt“ aufzuhalten. Im Januar 2025 stimmten zum ersten Mal in der bundesrepublikanischen Geschichte die CDU, die FDP und die AfD gemeinsam im Bundestag ab. Die CDU hatte vorher einen Antrag mit fünf Punkten zur Begrenzung der Migration und einer effektiveren Abschiebepolitik eingebracht.

Bereits zu Beginn der 1990er Jahre konnten Diskursforscher*innen des Duisburger Instituts für Sprach- und Diskursforschung (DISS) anhand der Analyse von Reden von Politiker*innen der Mitte feststellen, dass diese als ‚Brandsätze‘ fungierten. Durch die Verwendung von drastischen Bildern und Worten riefen Politiker den Notstand aus und inszenierten einen staatlichen Kontrollverlust, um die erste große Asylrechtsreform 1993 durch das Parlament zu bringen. Analysen dieser Reform wie auch Analysen der Anfang 1990 ‚eskalierenden rassistischen Gewalt‘ zeigen, wie beide Phänomene sich ursächlich bedingten und aktiv in ein Wechselwirkungsverhältnis durch Politik, Medien und rechten Straßen-Aktivist*innen gebracht wurden. Der Historiker Patrice Poutros spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kombination aus politischer Mobilisierung, Kampagnenjournalismus und rassistischer Gewalt“, die die Abstimmung im Bundestag im März 1993 möglich gemacht hat.

Visionen des Zusammenhalts

Vor dieser Reform und auch danach wurde die Migration immer wieder zum Wahlkampfthema – auch von den Parteien der Mitte. Dies wirkte ähnlich wie heutzutage als verstärkendes Element des Rechtsrucks im gesamten Parteienspektrum, da die Mitte-Parteien die Rhetorik der extremen Rechten von NPD, und später REP und DVU eher übernahmen, als sich davon abzugrenzen, gemäß dem Motto des damaligen CDU-Vorsitzenden Baden-Württembergs Teufel „Niemand soll deshalb die NPD wählen müssen“. Bei diesem Überbietungswettbewerb allerdings wird immer – und das zeigen die letzten 45 Jahre – das rechte Parteienspektrum siegen. Das Original bleibt in dieser Hinsicht für die Wählerschaft immer attraktiver und glaubhafter als der opportunistische Wolf im Schafspelz.

Blickt man wieder zurück auf den Diskurs, so muss man konstatieren, dass er es im Sinne seiner verdrehenden Übersetzung selbst verunmöglicht, die realen sozialen Probleme zu adressieren, sondern diese vielmehr verschleiert. Die propagierten Lösungen sind oft nicht dazu geeignet, das zu leisten, was sie propagieren: die Migration zu steuern, sie zu regulieren oder aus ihr wenigstens im neoliberalen Sinne den ökonomischen Nutzen von migrantischer Arbeitskraft abzuschöpfen. Vielmehr tragen die vermeintlichen Lösungen zu einer erheblichen Chaotisierung des Migrationsgeschehens und zu einer Verschwendung von Humanressourcen bei, die sich Industrieländer und Deutschland im Besonderen gar nicht leisten können. Die Rechtswissenschaftler Gammelthoft-Hanen und Tan sprechen von einem deterrence regmine – einem Abschreckungsregime – welches die EU und ihre Mitgliedsstaaten mittlerweile errichtet hätten. Während gegen Ende des kalten Krieges 200 Kilometer Grenzlinien mit Zäunen versehen waren, sind es mittlerweile knapp mehr als 2000. Oder in Prozent: Damals machten Zaunanlagen 1,7 Prozent der Grenzen aus, heute sind es 15,5 Prozent.

Notunterkunft, Berlin, 2016. Foto: Krystian Woznicki (cc by nc)

Jüngst brachte es dabei die Rechtswissenschaftlerin Anuscheh Farahat auf den Punkt. Kontrollpolitische Rationalitäten erschaffen eine hungrige Bestie, da sie immer härtere Kontrollen und Maßnahmen nach sich ziehen, da die Erlassenen nicht die gewünschten Effekte erzielen. Unzählige Studien aus den 1990er Jahren weisen bereits darauf hin, dass sich Flucht-Migrationsbewegungen nicht durch militarisierte und gewaltvolle Grenzregime stoppen lassen. Sie lassen sich vielleicht temporär umleiten und verschwinden für eine Zeit, aber sie werden an anderer Stelle wieder auftauchen. Vor allem aber treiben sie jedoch die sozialen, physischen und psychischen Kosten der Flucht-Migration in die Höhe. Was sich die europäischen Staaten mit ihrer Militarisierung und Brutalisierung der Migrations- und Grenzpolitiken erkaufen, ist vielleicht etwas Zeit, doch die Bewegungen ordnen, können sie nicht. Die beiden Migrationsforscher Matthew J. Gibney und Randall Hansen von der Universität Oxford bezeichnen daher die Abschreckungspolitiken als ineffizient, aber essenziell: In Bezug auf ihre Wirkung auf die Migration sind die Maßnahmen der Politik häufig ineffizient, ihre Wirkung auf die Gesellschaft ist allerdings essenziell. Die Aufrüstungsmaßnahmen produzieren Gefühle und Bilder, die es den Staaten möglich machen, den starken Staat zu demonstrieren, der seine Bevölkerung – vorgestellt als homogen und weiß – zu schützen und unter Kontrolle zu haben scheint. Auch dies ist ein zentrales Element rechtspopulistischer Ideologieproduktion.

So ergibt sich ein tragisches Ergebnis dieser Politik: Nicht nur lösen sie nichts, sie spielen denjenigen in die Hände, die schon immer wussten, dass die etablierte Politik es nicht lösen wird. Sie sägen selbst an dem Ast, auf dem sie sitzen, und gefährden damit die demokratische Ordnung. Im Sinne des Zusammenhalts hingegen sollte es vielmehr darum gehen, nicht Migration gebetsmühlenartig als Problem zu stilisieren, sondern gerade angesichts der Faktizität von Einwanderung endlich anzufangen, Politik zu machen und Visionen des Zusammenhalts in einer und für eine Migrationsgesellschaft zu formulieren.

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