Wie können wir das Ende der Welt in ein emanzipatorisches Projekt verwandeln?

Angesichts der Klimakatastrophe ist es an der Zeit, alles in Frage zu stellen, was uns an diesen Punkt geführt hat – und damit auch die vorherrschenden Systeme, in denen wir Produktion organisieren und denken. Weil sie längst als unbrauchbar, ja katastrophal entlarvt worden sind, müssen sowohl der Kapitalismus als auch die Denkweisen im Zeichen des Fortschritts gegen Alternativen ausgetauscht werden, wie der politische Theoretiker Lukas Stolz argumentiert.

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In Zeiten der Klimakatastrophe hat die liberale Moderne ein Storytellingproblem: Drohende ökologische Kipppunkten stellen den optimistischen Blick auf die Geschichte, der die Moderne kennzeichnet, grundsätzlich in Frage. Die Metaerzählung des historischen Fortschritts, die in unser kollektives temporales Imaginäres eingebrannt ist, geht im Grunde davon aus, dass die Menschheit auf dem Fahrersitz der Geschichte sitzt und auf einer Autobahn in Richtung Wohlstand und Gerechtigkeit braust.

Auf theoretischer Ebene ist diese Geschichte vielfach als ein Mythos entlarvt worden. Ein Mythos, der unter anderem das andauernde Regime der kolonialen Enteignung und Zerstörung legitimiert: Von Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen über die post- und dekoloniale Kritik des Historismus, feministische und queere Kritiken am teleologischen Denken und der ‘straight time’ bis hin zu David Graebers und David Wengrows jüngstem Buch “Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit”. Auf einer praktischeren Ebene bleibt das Problem jedoch bestehen und wird durch die Diagnose verstärkt, dass “das Zeitalter des Aussterbens da ist – einige von uns wissen es nur noch nicht“, wie der Wirtschaftswissenschaftler Umair Haque unter dem Eindruck der jüngsten und tödlichsten Hitzewelle auf dem indischen Subkontinent schrieb. In seinem brillanten Essay “Es sollte nicht so enden” beschreibt der politische Ökonom Geoff Mann das Versagen der liberalen Moderne, sich mit einer zunehmend verzweifelten Realität abzufinden: “Die Tragödie des Liberalismus ist seine Unfähigkeit, das Ende des Fortschritts zu erklären.”

Die Tragödie der Linken

Der Niedergang der Fortschrittserzählung als Deutungsrahmen der Geschichte ist jedoch nicht nur ein Problem für die liberale Moderne im Allgemeinen, sondern auch und gerade für politische Versuche, den zerstörerischen neoliberalen Status quo zu überwinden. Die Emanzipationsgeschichten, die der überwiegende Teil der politischen Linken sich und Anderen in den letzten zwei Jahrhunderten erzählte, ist ebenfalls im Fortschrittsparadigma angesiedelt. Leider kann die Linke deshalb nicht von der Unfähigkeit des Liberalismus profitieren, das Ende des Fortschritts zu erzählen: Sie teilt dessen geschichtsphilosophischen Grundannahmen. Genau genommen zerbricht die Linke sich schon seit dem ‘Ende der Geschichte’ 1989 den Kopf über dieses Problem, dem sich jetzt angesichts der katastrophalen Weltlage auch liberale Denker*innen nicht mehr entziehen können. Welcome to the Party.

Alternative Erzählweisen wie Donna Haraways “Staying with the trouble” mögen einen legitimen erkenntnistheoretischen Anspruch formulieren, der sich auch wunderbar als Ausstellungstitel für Anthropozän-Kunst eignet, nur lassen sich wahrscheinlich mit einem solchen Slogan in der näheren Zukunft keine Wahlen gewinnen (man stelle sich dazu einmal vor, ‘Staying with the trouble’ auf einem Wahlplakat einer großen Partei zu sehen). Gleichzeitig klingen positivere Formulierungen wie “die Zukunft erfinden” zunehmend hohl und befinden sich zudem in problematischer Nähe zum liberalen Post-Krisen-Mantra des “building back better“, ganz zu schweigen von der rechtspopulistischen Forderung “making xxx great again”. Diese Unfähigkeit der Linken, die Krise des Liberalismus besser auszunutzen, könnte man als eine Tragödie innerhalb der allgemeinen Tragödie bezeichnen.

Das Verständnis von politischer Veränderung verändern

In ihrem Leitartikel für das Projekt After Extractivism schlagen die Redakteure der Berliner Gazette (BG) Übergangsgerechtigkeit (Transition Justice) als ein Konzept vor, das die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und die Forderungen nach Umweltgerechtigkeit integriert. Übergangsgerechtigkeit ist eine begriffliche Weiterentwicklung des Konzepts des gerechten Übergangs (just transition), das von Gewerkschaftsbewegungen entwickelt wurde, um die Interessen der vom Strukturwandel der letzten Jahre betroffenen Arbeitnehmer*innen zu artikulieren. Die BG-Redakteure schreiben: “Übergangsgerechtigkeit schlägt vor, einen Schritt weiter zu gehen, nämlich auch die Forderungen der Bewegungen für Umweltgerechtigkeit zu berücksichtigen: ethische, rechtliche und politische Fragen der Rechenschaftspflicht und Verantwortung für die Folgen der ökologischen Verwüstungen, die seit der so genannten ‘europäischen Expansion’ im Zuge der Kolonisierung und Industrialisierung entstanden sind.”

Artwork: Colnate Group (cc by nc)

Der wesentliche Punkt, auf den ich hier hinauswill, ist folgender: Übergangsgerechtigkeit als ein Konzept, das die anhaltende ökologische Katastrophe jenseits der Märchen des grünen Kapitalismus anspricht, muss sich diesem Problem des Storytellings stellen. Alternative Konzepte wie Übergangsgerechtigkeit stehen nicht nur vor der Herausforderung eine Kritik des grünen Kapitalismus zu formulieren und Alternativen zu ihm zu entwickeln, sondern die Idee des Übergangs, und damit der politischen Veränderung selbst, neu zu denken – und zwar jenseits des höchst problematischen Fortschrittsparadigmas. Die zentrale Frage emanzipatorischer Politik in Zeiten der Katastrophe ist, wie wir unser Verständnis politischer Veränderung verändern können – jenseits des Phantasmas eines mehr oder weniger linearen Fortschreitens hin zu einer besseren Zukunft. Gleichzeitig stellt sich die Frage, woher die Motivation für politisches Handeln kommen soll, wenn nicht von der Aussicht auf Fortschritt und Verbesserung?

Zivilisatorische Verzweiflung und grausamer Öko-Optimismus

Am Ende ihres Buches “Undoing the Demos” wirft die politische Theoretikerin Wendy Brown die Frage der Verzweiflung als Reaktion auf den erloschenen Glauben an die menschliche Fähigkeit, die Zukunft zu beeinflussen, auf: “Die Linke hat nicht nur die ohnehin schon schwierige Aufgabe, den allgemeinen neoliberalen Common Sense zu durchbrechen und eine überzeugende Alternative zur kapitalistischen Globalisierung zu entwickeln. Nein, sie muss darüberhinaus auch noch einer zivilisatorischen Verzweiflung entgegenwirken”. Wenn wir Brown folgen und ihre Perspektive auf die Klimakatastrophe übertragen, sehen wir, dass die Linke in der Tat mit einer doppelten Aufgabe konfrontiert ist: Einerseits muss sie der Verzweiflung entgegenwirken und der Versuchung des ‘Öko-Fatalismus’ widerstehen. Andererseits muss sie dem entgegenwirken, was ich mit einem von der Kulturtheoretikerin Lauren Berlant entlehnten Begriff als ‘grausamen Öko-Optimismus’ bezeichnen möchte: Fantasien von nachhaltiger Entwicklung und grünem Kapitalismus, die letztlich den Status quo erhalten und stabilisieren.

Lauren Berlant hat den Begriff “grausamer Optimismus” geprägt, um zu erklären, warum die meisten von uns immer noch an den amerikanischen Traum glauben, obwohl er für die Mehrheit eindeutig nicht funktioniert. Der Ausdruck beschreibt die Verbundenheit zu einem Objekt unseres Begehrens, obwohl wir wissen, dass es uns letztlich schadet.

Mit dem ‘grausamen Öko-Optimismus’ versuche ich eine ähnliche Dynamik zu beschreiben: Obwohl wir wissen, dass die bisherige Klimapolitik im wesentlichen als “too little too late” zusammengefasst werden kann und wir deshalb bereits in das Zeitalter des Aussterbens eingetreten sind, schrecken die meisten von uns davor zurück, die notwendigen politischen Konsequenzen zu ziehen. Es fällt uns schwer, unsere erdölbasierten und letztlich kapitalismusbasierten “Freiheiten” aufzugeben. Grausamer Öko-Optimismus – das Festhalten an Geschichten von nachhaltiger Entwicklung und ‘grünem’ Wachstum, weil wir uns die Fiktion von ‘Normalität’ wünschen, obwohl wir es eigentlich besser wissen – ist ein zentraler Faktor für die Aufschiebung notwendiger politischer Maßnahmen in die Zukunft.

Eine Frage der politischen Imagination

Um es klar zu sagen: Mit dem Konzept des grausamen Öko-Optimismus versuche ich nicht, die politische Verantwortung zu individualisieren. Die Hauptschuldigen für 30 Jahre Untätigkeit beim Klimawandel sind immer noch die Konzerne, die enorm vom Ende der Welt profitieren, und Politiker, die den amerikanischen ‘way of life’ (sprich: die Lebensweise der industriellen Moderne) nicht zur Disposition stellen, wie George Bush senior auf der ersten Klimakonferenz 1992 in Rio bekanntlich sagte. Dementsprechend müssen wir den “Klimawandel als Klassenkampf” verstehen, wie ein kürzlich erschienenes Buch von Matthew T. Huber deutlich macht.

Wenn ich von der doppelten Aufgabe spreche, der Verzweiflung einerseits und dem grausamen Öko-Optimismus andererseits gleichermaßen entgegenzuwirken, versuche ich vielmehr die Aufmerksamkeit auf die psychosoziale Dimension dieses Klassenkampfes zu lenken, der auch ein Kampf um die politische Vorstellungskraft sein wird. Ja, es stimmt, am Ende des Tages geht es darum, das zu tun, was in der Gegenwart ohnehin getan werden muss, und Spekulationen über katastrophale oder kommunistische Zukünfte beiseite zu schieben. Aber wie Cornelius Castoriadis zentrale These über das politische Imaginäre in der “Imaginären Institution der Gesellschaft” besagt, kann die Fähigkeit, materiell zu intervenieren und das zu tun, was getan werden muss, nicht von der Fähigkeit getrennt werden, sich Alternativen zum Status quo vorzustellen – weshalb das Problem des Geschichtenerzählens, mit dem ich begonnen habe, überhaupt von Bedeutung ist.

So können Geschichtsphilosophie und Fragen der politischen Vorstellungskraft überaus weltliche Konsequenzen haben. Die Frage ist also, wie man sich die Möglichkeit einer anderen Welt trotz einer katastrophalen Gegenwart und Zukunft vorstellen kann, ohne in die entpolitisierende Doppelfalle eines grausamen Öko-Optimismus oder Öko-Fatalismus zu tappen. In gewisser Weise besteht die Herausforderung darin, politische Veränderung jenseits des modernen chronopolitischen Regimes zu denken, dessen logische Fortsetzung ganz offensichtlich die Fantasien von der Kolonisierung des Weltraums sind, die in so unterschiedlichen Regionen wie dem Silicon Valley und den Vereinigten Arabischen Emiraten entstehen. Die Praxis des Widerstands in Zeiten des ‘post-earth’ Kapitalismus erfordert imaginative Strategien, welche die hegemoniale moderne politische Vorstellungskraft nicht bieten kann. Sie ist zu sehr der Idee einer besseren Zukunft verhaftet, um heute revolutionäres Denken zu inspirieren.

“No Future”-Zukünfte

Um die Herausforderung anders zu formulieren: Man könnte sagen, dass die Aussicht auf eine unbewohnbare Erde ein neues chronopolitisches Terrain markiert, auf dem sich der Klimaklassenkampf abspielt. Es ist ein Terrain, das durch prekäre Zukünfte definiert ist und in dem es keine Gewissheiten bezüglich des Verlaufs der Geschichte mehr gibt. Dies macht die geschichtsphilosophischen Landkarten, anhand derer sich die meisten progressiven politischen Bewegungen in den letzten zwei Jahrhunderten orientiert haben, obsolet. Mit einem Begriff, der dem afrofuturistischen Denker Kodwo Eshun entlehnt ist, können wir das Schlachtfeld als “feindliches Terrain” beschreiben. Um uns in diesem feindlichen Terrain zurechtzufinden, sind wir vielleicht gut beraten, uns mit Traditionen zu beschäftigen, von denen wir in dieser Hinsicht etwas lernen können. Widerstands-Traditionen, die Erfahrungen in der Bewältigung von Situationen haben in denen es keine vielversprechenden Zukünfte gibt.

Wir könnten über Calvin Warrens “Black Nihilism and the Politics of Hope” nachdenken und von der Black Radical Imagination etwas über den Unterschied zwischen Freiheitsträumen und grausamem Optimismus zu lernen. Mit Déborah Danowski und Eduardo Viveiros de Castro können wir die eurozentrische Geschichtsschreibung dezentrieren, indem wir über das Ende der Welt, das den Beginn des Kolonialismus markierte, aus der Perspektive der Amerikas nachdenken. Aus den Queer Studies können wir eine Kritik des reproduktiven Futurismus übernehmen und uns mit den Versuchen beschäftigen, einen Begriff von Utopie zu entwickeln, der jenseits teleologischer Entwicklungslogiken liegt. Mit dem Autor*innenkollektiv Out of the Woods können wir die Frage stellen, was es bedeuten würde, den Katastrophenkommunismus als einen Weg des Widerstands gegen die kommende Barbarei zu denken.

Und wir sollten eine Tradition in der kritischen Theorie wiederentdecken, die mit Walter Benjamin begann und in jüngerer Zeit zu dem Vorschlag einerLinken ohne Zukunft” und der Frage führte, was “Politik in einer tragischen Tonart” bedeuten könnte. Wahrscheinlich werden uns auche diese intellektuellen Weggefährt*innen in naher Zukunft nicht gerade dabei helfen, Wahlen zu gewinnen. Aber sie könnten zur Erweiterung der politischen Vorstellungskraft beitragen – einer Vorstellungskraft, die notwendig ist, um die Kämpfe zur Verhinderung der Katastrophe fortzusetzen. Wie der heterodoxe Marxist mit anarchistischen und surrealistischen Neigungen, Robin D.G. Kelley, schreibt: “Diese Kämpfe sind weder dem Untergang geweiht, noch ist ihr Erfolg garantiert“.

Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englische Version ist hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de

Ein Kommentar zu “Wie können wir das Ende der Welt in ein emanzipatorisches Projekt verwandeln?

  1. Ja, es ist elementar, den rasanten Klimawandel mit anderen existentiellen Fragen kurz zu schließen: mit der Sozialen Frage, der Frage totalitärer Herrschaft, der Kriegsfrage. Zugleich aber, dies gilt es noch stärker herauszuarbeiten, geht die Klimafrage nicht in diesen anderen existentiellen, die Gesellschaftlichkeit selbst infrage stellenden Problemen auf.
    Es bedarf einer komplexen Strategie und zahlloser situierter Taktiken des Kampfes, die die Problemdrastik und -schwere anerkennen. Dazu gehört der schwere totalisierende Charakter der Klimafrage: Sie heizt alle anderen existentiellen Fragen an, kennt – aus humanistischer Warte – weder Raum-, noch Zeitlimits.
    Im Kern geht es also – bei allen weiteren Problemen und ihren vermeintlichen Vordringlichkeiten – immer auch zuerst darum, das post-fossile Zeitalter herbeizuführen, alle Verbrennung und Emmission von Klimagasen zu stoppen.

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