Es gibt zweierlei Arten von Hören. Einerseits ein Hören im Zeichen der sinnlichen Wahrnehmung; hier ist das Ohr eine Membran, der Mensch ein Resonanzkörper, das in-der-Welt-Sein ein sonisches Ereignis. Andererseits ein Hören, welches nicht Klang, sondern Bedeutung fokussiert. Bedeutung, welche stets für bestimmte, teils ideologische, teils herrschaftliche Zwecke instrumentalisiert ist. Dies wäre, äußerst verknappt, die zentrale Unterscheidung, die Jean-Luc Nancy in “A l’écoute” (“Zum Gehör”) einführt, um im Zuge dessen Sinn (Wahrnehmung) und Sinn (Bedeutung) zu differenzieren. Doch wie kann man das konkret fassen? Worin unterscheidet sich Hören als bloße Wahrnehmung von Hören, das schon im Vorfeld alles einer festgeschriebenen Bedeutung zuordnet?
Ich möchte das an Christoph Kolumbus festmachen. Als der Seefahrer nach der Überquerung des Atlantik erstmals die karibische Inselgruppe erreicht, als er die Naturpracht und die nackten Menschen sieht, als er ihre Bräuche, Sitten und Tänze kennen lernt – in diesem Moment ist er schlichtweg überfordert. Die Erfahrung, die alles Bekannte übersteigt, macht ihn sprachlos. Als ihm die Worte fehlen, reproduziert er in den Notizen seines Bordbuchs, Gelesenes. Die Menschen etwa beschreibt er in Anlehnung an die ihm bekannten Bilder der Orientalen aus Marco Polos Schriften; er sucht den Seeweg nach Indien und zu den Goldinseln vor China; er will zum Großen Khan, in das heutige Japan.
Ich höre, also bin ich
Sprachlosigkeit paart sich bei Kolumbus mit einem äußerst eingeschränkten Hörvermögen. So meint er die von ihm bewunderten Insulaner von ihren menschenfressenden Feinden sprechen zu hören – zu einem Zeitpunkt, da er ihre Sprache nicht versteht. Am 11. Dezember 1492 notiert er: “Alle sprechen mit großer Angst von den Canniba.” Dies sei eine “intelligente Rasse”, die sich aus den Untergebenen des großen Khan rekrutiere. Sein fehlgeleitetes Hören manifestiert sich im geschriebenen Wort, denn er glaubt, wie in der spanischsprachigen Überlieferung des Bordbuchs nachzulesen ist – er glaubt erkannt zu haben “que Canniba no es otra cosa sino la gente del Gran Khan.” “Canniba”: die Leute des “Gran Khan”.
Die Kolumbus-Episode zeigt, wie die von Nancy getroffene Unterscheidung zwischen Hören und Hören beziehungsweise Sinn (Wahrnehmung) und Sinn (Bedeutung) funktioniert. Und sie zeigt wie ein Hören, das festgeschriebenen Bedeutungen verpflichtet ist, zu einem Nicht-Hören wird. Ja: zu einem buchstäblichen Taub-Sein. Kolumbus hört, was er hören will und er hört, was von ihm erwartet wird. Die Welt, die im Zuge seiner Reisen im Entstehen begriffen ist, wird von Madrid aus entworfen. Es ist eine imperiale Welt mit Zentrum und Peripherie, mit Innen und Außen. Es gibt ein Hier und ein Da. Und es gibt die guten, aufrichtigen Europäer und die unzivilisierten Wilden.
Die “Kannibalen”
Die “Canniba”, die bald als die Kannibalen in das europäische Kollektivbewusstsein eingehen werden, stehen für die Spaltung dieser Welt. Sie stehen darüber hinaus für das Unvermögen einer kulturellen Tradition, die im Namen des Universalismus das große Ganze zu erfassen vorgibt, aber doch immer nur in Hälften und Spaltungen zu modellieren im Stande ist. Denn eines ist klar: Das große Ganze, das hier als weltumspannendes Imperium entworfen wird, kann sich ohne einen identitäts- und einheitsstiftenden Gegenpol (etwas Ausgegrenztes, etwas Außenstehendes) nicht konstituieren.
Das Unvermögen dieser kulturellen Tradition erreicht in der Ära Kolumbus einen traurigen Höhepunkt. Wie wohl keine historische Phase zuvor und vielleicht auch bis heute keine spätere Phase danach, konnte zu diesem Zeitpunkt das große Ganze auf einen neuen Boden gestellt werden: Der Planet wird auf neue, präzendenzlose Weise greifbar, die Ausmaße und die Form der Erde gaben sich erstmals vollständig zu erkennen. Ein planetarisches Bewußtsein und ein neues Denken des großen Ganzen jenseits der Logik des Außen und der Einheit hätten sich entfalten können.
Das Ohr neu öffnen
Doch Kolumbus, der dieses Potenzial mit seinem Entdeckergeist personifiziert, stellt sich im Angesicht der historischen Chance taub. Was Nancy uns zu denken gibt: Wenn die besagte Tradition bis heute in einer Kultur überlebt hat, welche das Hören deaktiviert oder auf ein Dekodieren von bereits festgeschriebenen Bedeutungen reduziert, dann muss der Versuch unternommen werden, die Ohren neu zu öffnen. Es gilt die Implosion aller Erwartungen und Wissensgrundlagen zu affirmieren und sich der “Öffnung einer Welt in Resonanzen” (Nancy) und den sich überstürzenden Sinneseindrücken eines “Ocean of Sound” (Toop) hinzugeben. Mehr als 500 Jahre nach Kolumbus, in einer Ära, in der das große Ganze als ein sich auflösender und neu entstehender Zusammenhang restrukturiert wird – jetzt ist für diesen Schritt der optimale Zeitpunkt.
Ich glaube, dass Leute bis heute sehr oft nur das hören, was sie hören wollen – so versucht man, unangenehmen Situationen aus dem Weg zu gehen… Du doch bestimmt auch manchmal, Krystian, oder?
Noch ein Lesetipp:
Listen: A History of Our Ears
Peter Szendy, Foreword by Jean-Luc Nancy, Translated by Charlotte Mandell
Fordham University Press
In this intimate meditation on listening, Peter Szendy examines what the role of the listener is, and has been, through the centuries. The role of the composer is clear, as is the role of the musician, but where exactly does the listener stand in relation to the music s/he listens to? What is the responsibility of the listener? Does a listener have any rights, as the author and composer have copyright? Szendy explains his love of musical arrangement (since arrangements allow him to listen to someone listening to music), and wonders whether it is possible in other ways to convey to others how we ourselves listen to music. How can we share our actual hearing with others?
Along the way, he examines the evolution of copyright laws as applied to musical works and takes us into the courtroom to examine different debates on what we are and aren’t allowed to listen to, and to witness the fine line between musical borrowing and outright plagiarism. Finally, he examines the recent phenomenon of DJs and digital compilations, and wonders how technology has affected our habits of listening and has changed listening from a passive exercise to an active one, whereby one can jump from track to track or play only selected pieces.
PETER SZENDY teaches at the Université de Paris X Nanterre and is a consultant to IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique), an organization that has been a pioneer in electroacoustic innovation and a mecca for contemporary music.
JEAN-LUC NANCY is Distinguished Professor of Philosophy at the Université Marc Bloch, Strasbourg. The most recent of his many books to be published in English is Listening (Fordham).
Among the many books CHARLOTTE MANDELL has translated are Maurice Blanchot’s Faux Pas, which was awarded the Aldo and Jeanne Scaglione Prize for a Translation of a Scholarly Study of Literature for 2001–2002 by the Modern Language Association, and Jean-Luc Nancy, Listening (Fordham).