Wir wollten die Phantasmen einer Gesellschaft, in der alles und alle fluide (sprich: flüssig, flexibel, flüchtig) sind, weiterdenken. Wir wollten Gegen-Phantasmen hervorbringen: Wir suchten nach Vorstellungen, Fiktionen und Visionen, die das fluide Moment nicht einfach nur trocken legen – wer möchte schon auf trockenem, gänzlich unbeweglichen Boden stehen? Sondern das fluide Moment auf sein kritisches, emanzipatorisches Potenzial hinterfragen.
Unsere erste Beobachtung war: Die neoliberale Gesellschaftsordnung schmückt sich mit Fiktionen des Fluiden. Diese Fiktionen von einem fluiden Ich und einer ebenso fluiden Welt, in der Kapitalströme, Daten und Identitäten flüssig geworden sind – diese Fiktionen werden selten auf ihr Element zurückgeführt beziehungsweise befragt. Dieses Element ist: Wasser.
Unsere zweite Beobachtung: Die Verunsicherung, die heutzutage in den neoliberalen Fiktionen unausgesprochen zum Ausdruck kommt: man verliere den Boden unter den Füssen und einen verlässlichen Zugriff auf Welt – diese Verunsicherung wird von einem Klimakatastrophendiskurs begleitet, unterstützt und supplementiert, der mal mehr mal weniger deutlich sein Kernelement reflektiert. Auch dieses Element ist: Wasser. (Denken Sie etwa an Roland Emmerichs “The Day After Tomorrow”)
Was wissen wir über Wasser?
Es lag für uns folglich auf der Hand, mehr wissen zu wollen über Wasser. Wir wollten den Diskursen nachspüren, in denen Ökologie, Kultur und Ökonomie sich verschränken. Und wir wollten, um neue Vorstellungen, Fiktionen und Visionen hervorbringen zu können, ein neues Wissen prägen. Dieses Wissen haben wir in unserem Editorial zum Jahresschwerpunkt der Berliner Gazette 2009 WASSERWISSEN genannt.
Die Berliner Gazette führte dazu 50 Interviews. TeilnehmerInnen aus den unterschiedlichsten geografischen und disziplinären Regionen wurden im Zuge dessen an die Grenzen ihrer Zuständigkeitsbereiche geführt – an diesen Grenzen entstand ein neues Wissen. Wissen, welches vom Wasser gespeichert wird: über unsere Kultur, Gesellschaft und Zivilisation. Und Wissen, das wasserförmig ist, insofern es über die gesicherten Landnahmen herkömmlicher Expertenkulturen hinaus weist und im Fluss bleibt.
Im Zuge einer Zusammenarbeit mit dem Philosophen Jean-Luc Nancy stießen wir auf Anne Immelé. Ihre fotografische Arbeit hatte den Denker zu dem Buch “Die Annäherung” und darin zu Aussagen über eine Welt im Zeichen des Fluiden veranlasst. Aussagen über Wasser, die nicht reibungsloses Fließen und Zirkulieren, die auch nicht Transparenz priveligierten, sondern etwas anderes. Zitat:
“Wasser ohne Strömung und ohne Wellenbewegung, Wasser, kaum flüssig, Wasser, das weder Transport noch Passage bewirkt wie der Fluss oder das Meer, sondern Zurückhaltung, Verborgenheit, Tiefe und Unberührtsein.”
Dialog mit Bildern
Dieses Wasser hat Nancy auf dem Foto “Lac blanc” von Anne Immelé zu Gesicht bekommen (oben ist “Lac Rouge” zu sehen). Mit seinen Gedanken taucht er darin ein, umkreist es im Spazierschritt und blickt darauf aus dem Weltall, während er dort mit Husserl und Leibniz spricht.
Wir wollten weitere Dialoge mit Bildern initiieren und starteten Ende letzten Jahres, als der Schwerpunkt WASSERWISSEN kurz vor dem Abschluss stand, die Initiative „Fiktionen des Fluiden“.
Wir schickten den Aufruf “Wozu brauchen wir Fiktionen des Fluiden?” an unsere LeserInnen und baten um Antworten in Bildform. Wir wählten unter den Einsendungen künstlerische Arbeiten aus, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit der Fragestellung beschäftigen, darunter Fred Fröhlich, Noëlle Pujol, Antje Majewski, Martin Conrads, Anna Mandoki, Philipp Geist, Maja Beganovic, Markus Miessen, Ingo Günther, Felix Obée – einige dieser Künstler hatten wir für WASSERWISSEN interviewt.
Wir verstehen diese Initiative als Möglichkeit, das angesammelte WASSERWISSEN zu aktualisieren und im Dialog mit der Kunst in neue Räume einfließen zu lassen. Anne Immelés Vortrag, der heute Abend im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien stattfand, ist ein Schritt in diese Richtung gewesen, dem hoffentlich bald weitere Schritte folgen werden.
Ein Kommentar zu “Wasser, kaum flüssig”