Jugoslawiens Modernisierungsprojekt hatte zwar zum Ziel, die Natur zu beherrschen. Doch gleichzeitig schuf das Projekt genossenschaftliche und kooperative Plattformen für ein soziales Miteinander, das nicht nur nachhaltige Lebens- sondern auch Wirtschaftsweisen ermöglichen sollte. Das ist ein radikaler Unterschied zu aktuellen Ansätzen, immer mehr und profitabler zu produzieren, und damit ein möglicher Ausgangspunkt für den dringend benötigten Übergang in eine gerechte Welt, argumentiert die Wissenschaftlerin Katarina Kušić in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism”.
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Fast 50 Jahre nach der Grünen Revolution wird über die dringende Notwendigkeit einer weiteren Revolution gesprochen. Nicht nur, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, sondern auch, um auf den Verlust von Agrarflächen zu reagieren, die Bodendegradation zu stoppen und die Landwirtschaft weniger CO2-intensiv und insgesamt “grüner” zu machen. Während viele die neomalthusianischen Ängste vor einer “Überbevölkerung” ad acta gelegt haben, haben wir immer noch Angst vor leeren Feldern, die unbedingt genutzt werden müssen, vor Wüstenbildung, die uns den Boden raubt, und insgesamt davor, dass wir das Land, das wir haben, nicht angemessen, vollständig und zufriedenstellend nutzen. Damit sind wir an einem paradoxen Punkt angelangt: Wir müssen mehr aus einem Raum herausholen, der zu schrumpfen scheint.
In Osteuropa gehen die demografischen Trends in eine andere Richtung – in Richtung einer schrumpfenden Bevölkerung und Abwanderung. Die Herausforderung, mehr Menschen zu ernähren, steht hier eigentlich nicht auf der Tagesordnung. Dennoch bleibt die Angst vor einer unzureichenden Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen allgegenwärtig. In dem Raum, der einst Jugoslawien ausmachte, wird diese Angst in öffentlichen Diskussionen über landwirtschaftliche Bodenmärkte deutlich. Der Wunsch, Land besser zu nutzen, strukturiert die politische Diskussion und treibt die Landnahme an.
Die Angst vor dem “brachliegenden Land” wurde bei den ersten Privatisierungen von landwirtschaftlichen Großbetrieben mobilisiert (u.a. durch den Verkauf von Landbesitz zu Bruchteilen des Marktwertes). Sie ist auch heute noch präsent in der öffentlichen Diskussion um Investorenverträge, in der Feier neuer Privatisierungen und im Ruf nach mehr und besseren Technologien.
In Serbien und in ganz Osteuropa erleben wir eine massenhafte Privatisierung und Konzentration landwirtschaftlicher Flächen, die mit Bewirtschaftungsmängeln, unzureichenden Erträgen und der allgemeinen Unfähigkeit, das scheinbar im Überfluss vorhandene Land zu nutzen, begründet wird. Diese Tropen und Ängste haben eine lange Geschichte in der populären Vorstellung von der Landbevölkerung und den ländlichen Räumen. Gleichermaßen sind die Inspirationsquelle für Träume von technologischen Lösungen und einer neuen landwirtschaftlichen Revolution.
Vergangenheit und Gegenwart des ländlichen Raums
Die Vorstellung von der dringenden Notwendigkeit, Land besser zu nutzen, steht in Verbindung mit dem Bild der ländlichen Bevölkerung als “rückständig”, d. h. “alt, unfähig und unwillig, moderne Technologien der Lebensmittelproduktion kennenzulernen und zu nutzen”. 2016 plante der deutsche Schweinefleischproduzent Tönnies, der während der COVID-19-Pandemie wegen ungerechter und illegaler Praktiken bei der Vergabe von Unteraufträgen traurige Berühmtheit erlangte, in Serbien zu investieren. Es war eine Zeit, in der der damalige Ministerpräsident Aleksandar Vučić nicht nur von der Modernisierung der Landwirtschaft, sondern auch von einem allgemeinen Wandel sowohl des Einzelnen als auch der Gesellschaft sprach. Nach einem Besuch in der Tönnies-Zentrale prognostizierte Vučić, dass die bloße Anwesenheit von Tönnies in Serbien “die Kultur des Wirtschaftens verändern” werde.
Bei der Vorstellung der Investition erklärte Vučić, dass die Serben “lernen” müssten, “wie die Deutschen es machen”, “wie sie es auf die sauberste Art und Weise machen, auf die beste Art und Weise, und warum sie die erfolgreichsten in Europa sind!” Auch wenn diese spezielle Investition nie zustande kam, hatte Vučićs Aktivismus von oben nach unten dennoch weitreichende Folgen. Heute beanspruchen ähnliche staatlich ausgehandelte Investitionen in landwirtschaftliche Flächen in Serbien Zehntausende von Hektar, wobei der Verkauf des Poljoprivredni Kombinat Beograd und der von ihm genutzten 18.000 Hektar landwirtschaftlicher Flächen in der Nähe von Belgrad den Höhepunkt bildete. Die Diskussionen über diese Verkäufe, sowohl unter den politischen Entscheidungsträger*innen als auch in der Öffentlichkeit, basieren auf demselben alten Narrativ der “Unterauslastung”.
Die Notwendigkeit, “besser zu produzieren und mehr zu gewinnen”, wird hier nicht nur durch die neomalthusianische Panik vor einer wachsenden Bevölkerung gestützt, sondern findet auch einen fruchtbaren Boden in Übergangsdiskursen, die die Menschen in Osteuropa als “ohne die richtige Arbeitsmoral” und “unfähig, genug herauszuholen” darstellen. Vučićs bereits erwähnte Anspielung auf die Sauberkeit ist kein Zufall. Er macht sich die zivilisatorischen Abstufungen der Hygiene zunutze, die entlang der geopolitischen Abhänge von Entwicklung und Fortschritt konstruiert wurden. Darüber hinaus verweist sie auf die spezifisch ländliche Rückständigkeit – ein nicht nur in den Übergängen nach 1989 verbreitetes Motiv, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil des Modernisierungsprojekts in Jugoslawien.
Obwohl der Faschismus auf dem Land erfolgreich bekämpft wurde, nahmen die landwirtschaftliche Produktion und die Bauern im sozialistischen Projekt keine privilegierte Position ein. Im Gegenteil. Während die Fabriken an die Arbeiter*innen gingen, wurde die Übergabe von Land an die Bauern als Rückfall in eine traditionelle kapitalistische Eigentumsform angesehen. Außerdem musste die traditionelle Subsistenzlandwirtschaft dringend ausgeweitet werden: Als die Menschen die Dörfer verließen und in die Städte zogen, um das Projekt der Industrialisierung in Angriff zu nehmen, mussten die Bauern nicht nur für sich selbst produzieren, sondern auch für einen wachsenden Teil der Bevölkerung. Der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung schrumpfte dramatisch: 1948 lag er bei 67,2 %, 1962 bei 49,6 %, und 1981 wurden nur noch 19,9 % der Bevölkerung als landwirtschaftlich eingestuft (Radenković und Solar 2018, S. 159). Ihre Effizienz musste mit allen Mitteln gesteigert werden.
In dieser Zeit der intensiven Industrialisierung kam die Angst vor einer unzureichenden Nutzung des Bodens auf. Einige verließen die Dörfer und zogen in die Städte. Doch viele blieben und beschränkten sich auf wöchentliche oder monatliche Wanderungen, arbeiteten in Fabriken und bewirtschafteten kleine Parzellen, um ihr Einkommen aufzubessern. Diese sogenannten “Landarbeiter*innen” wurden als Treiber*innen der Unternutzung angesehen: Sie besaßen bis zu einem Fünftel des gesamten Ackerlandes, hatten aber keinen Anreiz, ihre Produktion zu maximieren (Radenković und Solar 2018, S. 160).
Trotz dieser Befürchtungen wuchs die landwirtschaftliche Produktion in Jugoslawien, nachdem die Kollektivierungsbemühungen nach sowjetischem Vorbild aufgegeben und durch eine Zusammenarbeit zwischen dem individuellen und dem gesellschaftlichen Sektor ersetzt worden waren, d. h. zwischen Bauern und großen Unternehmen, Kombinaten und Genossenschaften in gesellschaftlichem Besitz. Diese Großbetriebe waren zweifelsohne auf Effizienz und Akkumulation ausgerichtet. Kombinate vereinten die Primärproduktion mit der Verarbeitung und dem Einzelhandel. Ihr damaliger Slogan “vom Ackerland auf den Tisch” findet Anklänge in den heutigen Bemühungen um eine Konzentration der Lebensmittelproduktion durch “vertikale Integration” sowie den Visionen eines anderen Lebensmittelsystems in der EU, der “Vom Bauernhof zum Teller”-Strategie.
Trotz ihrer Bemühungen um Effizienzsteigerung und Industrialisierung der Landwirtschaft boten die sozialistischen Kombinate und Genossenschaften auch soziale Plattformen für ländliche Gemeinschaften. Als beispielsweise das vor Poljoprivredni Kombinat Beograd (vor kurzem übrigens privatisiert) gebaut wurde, legten Arbeiter*innen aus ganz Jugoslawien nicht nur den Sumpf trocken, der zu Ackerland wurde, sondern bauten auch die kleinen Städte, die noch immer die neu geschaffenen Felder umgeben. Als wir einen der ehemaligen Arbeiter interviewten, erzählte er uns seine Familiengeschichte: drei Generationen arbeiteten auf dem Land, mehr als ein Mensch kam bei Arbeitsunfällen ums Leben.
Diese Form der landwirtschaftlichen Produktion sollte die Technologien der Lebensmittelsysteme revolutionieren und ein sozialistisches politisches Bewusstsein sowie eine neue Lebensweise hervorrufen. Es lohnt sich, diese Denkweise zu berücksichtigen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir gemeinsam eine gerechtere Zukunft aufbauen können: Wenn wir über neue Technologien, Investitionen und Formen der Lebensmittelproduktion diskutieren, welche Art von Leben stellen wir uns dann vor?
Die Kombinate und Genossenschaften wurden in durch und durch korrupten Prozessen privatisiert, bei denen sowohl die Bauern als auch ganze ländliche Gemeinschaften zerstört wurden (siehe Srećković 2015). Heute werden Ideen der “vertikalen Integration” – ein Eckpfeiler der jugoslawischen Agrarentwicklung – in den Dienst des arbeitskräfteausbeutenden Kapitals gestellt (zum Beispiel in den Plänen für die bereits erwähnte Tönnies-Investition, die alles vom Anbau von Lebensmitteln bis zur Verarbeitung von Schweinefleisch umfassen sollte), oder sie werden als neuartige Importe aus dem “Westen” dargestellt. In ähnlicher Weise wird die Abneigung der Landwirte, genossenschaftlich zu arbeiten und zu produzieren, regelmäßig auf “rückständige” Denkweisen und “wirtschaftliche Unkenntnis” zurückgeführt, wobei die historischen Verluste, die die Bauern erlitten, als Genossenschaften in Konkurs gingen und privatisiert wurden, und als das von ihnen bewirtschaftete Land durch korrupte Verkäufe verschwand, nicht anerkannt werden.
Neue Initiativen zur Förderung der genossenschaftlichen Entwicklung fallen alten Korruptionsmustern zum Opfer und belohnen diejenigen, die bereits erfolgreich sind, anstatt die Türen für junge Menschen und Neueinsteiger*innen in die Landwirtschaft zu öffnen (Petrović 2019, S. 25). Diese Tatsachen sind sowohl in nationalen als auch in internationalen Berichten gut dokumentiert, scheinen aber in Diskussionen, die darauf abzielen, die Entscheidungen der Bauern von heute zu verstehen, zu fehlen.
Zukunftsvorstellungen
Die Notwendigkeit, den Planeten zu ernähren, ist zwar nicht verschwunden, aber die Landwirtschaft wird nun auch als ein wichtiger Teil der Klimakrise erkannt – ihr Beitrag zu den gesamten Treibhausgasemissionen wird auf 20 bis 30 % geschätzt. Das Ziel ist also ein zweifaches: mehr und “grüner” zu produzieren. In diesem Streben nach mehr nachhaltiger Effizienz (oder effizienter Nachhaltigkeit) wird Innovation oft mit Digitalisierung verwechselt: “Präzisionslandwirtschaft” und “Smart Farming” setzen auf gentechnisch veränderte Pflanzen, GSI-Systeme, Drohnen und Fernerkundung. Dabei verlieren die Landwirte durch Urheberrechtsgesetze die Kontrolle über ihre eigenen Produktionsmittel, und die Zahl der Landwirte nimmt ab, da ihre Arbeitskraft überflüssig wird.
In den letzten zehn Jahren bestständig neue Technologien entstanden, die sowohl Reichtum als auch Erfolg versprechen. Einige werden zynisch als neoliberale, aber grün gewaschene Produkte lanciert. Hinter anderen wiederum steht ein starker Glaube an die Technologie als Ausweg: Wir haben dem Planeten vielleicht Unrecht getan, aber wir können ihn weiter ausbeuten, wenn wir nur die richtigen Technologien einsetzen.
Ein Beispiel für ein solches Unterfangen ist ein neues 4000-Hektar-Projekt in der Vojvodina. Nach dem erfolgreichen Verkauf einer äußerst beliebten mobilen App haben slowenische Investoren ihr Geld in Land investiert, um “neue nachhaltige und ökologische landwirtschaftliche Praktiken in großem Maßstab” zu entwickeln. Was das für die Menschen bedeutet, die das Land zuvor bewirtschaftet haben, oder für diejenigen in Serbien, die mit der Landwirtschaft beginnen möchten, bleibt offen. Wenn das Elektroauto das Symbol des grünen Kapitalismus ist, dann sind Felder mit Biokraftstoffen und organischen Monokulturen, die von Drohnen überwacht werden, ein Symbol der grünen kapitalistischen Landwirtschaft. Deshalb: Jede neue Technologie muss von dem Kampf begleitet werden, sie in den Händen der Bauern und ihrer Gemeinschaften zu halten. Das mag wie Wunschdenken klingen, ist aber in Wirklichkeit ein gewaltiges und spannendes Projekt, das bereits von vielen in Ost und West in Angriff genommen wird.
Es ist schon fast eine Binsenweisheit, dass “Eroberung durch Technik” eine gefährliche Sache ist. Während die erste Industrialisierung darauf abzielte, die Natur zu beherrschen und aus ihr zu gewinnen, will der “grüne” Übergang sie beherrschen, gewinnen und damit davonkommen. Aber wenn wir den “grünen” Übergang an der Bewirtschaftung des Landes bemessen, gehen wir über das Ökologische und Ökonomische hinaus und betonen das Soziale: Lebensmittel sind nie nur Nährstoffe, Produktion ist nie nur Technologie, und Menschen sind nie nur Arbeitskräfte. Landwirtschaft ist eine Form von Sozialität, die Schaffung und Reproduktion von Kollektiven, von geistigen und familiären Bindungen, von Zugehörigkeit und Erinnerungen. Und sie findet auf dem Land statt, an einem Ort, im Haus eines Menschen.
Dies ist der radikale Unterschied zwischen der “vertikalen Integration” der jugoslawischen Kombinate und den aktuellen Konzentrationstendenzen in den Lebensmittelsystemen. Während das jugoslawische Streben nach Modernisierung die gleiche Herrschaft über die Natur anstrebte, wie wir sie heute in dem Drang, mehr und besser zu produzieren, erleben, schuf es auch eine Plattform für Sozialität. Die Wiederbelebung dieser Sozialität als Plattform für die Agrarökologie ist eine Vorbedingung für das Imaginierenneuer Lebensformen. Und das erfordert ein Umdenken in Bezug auf die landwirtschaftliche Produktion und die Menschen, die sie betreiben.
Anm.d.Red.: Dieser Artikel ist ein Beitrag zur “After Extractivism”-Textreihe der Berliner Gazette; seine englische Version ist hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism” Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de