Heute ist Bildung das geistige Pendant zum Bodybuilding: Während die Universität zu einem leistungsorientierten Fitnesszentrum umgebaut wird, verwandeln sich Studenten in Einzelkämpfer. Doch muss man wirklich diesem Wettbewerbsdruck nachgeben, um in der Gesellschaft zu bestehen? Dazu befragte Berliner Gazette– Herausgeber Krystian Woznicki Joseph Vogl, der ausserhalb der akademischen Welt vor allem durch seine Fernsehgespräche mit Alexander Kluge hervorgetreten ist.
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Worin besteht für Sie der Unterschied zwischen “lernen” und “sich bilden”?
JV: Lernen und sich bilden kann man schon etymologisch unterscheiden. “Lernen” geht wohl auf eine gotische Wurzel zurück und kann in die Nähe von “etwas erfahren” gebracht werden. Ob es einem also zustößt oder aktiv betrieben wird – durchs Lernen wird man in einer bestimmten Sache klug.
Bildung dagegen ist weniger auf eine Sache oder Thema bezogen, sondern mehrdimensional. Für die Naturhistoriker des 18. Jahrhunderts war das vor allem ein Vermögen der Natur: Nur sie konnten einen Körper plastisch und mit einem Zug in alle drei Dimensionen, nach Innen und nach Außen gleichzeitig gestalten oder “bilden”. Bildung ist also so etwas wie die Arbeit an einer inneren Gestalt oder Statue.
Wie ist Ihnen dieser Unterschied erstmals bewusst geworden?
JV: Wahrscheinlich ging es mir wie den meisten: wenn man durch Zufall oder Empfehlung auf ein Buch stößt und nicht mehr von der Lektüre wegkommt. Bei mir war es Musils “Mann ohne Eigenschaften”, ich war damals wohl Student im dritten Semester. Habe mir eigens dafür einen Stuhl in die Mitte des Zimmers gestellt, sieben Tage daran gelesen; und war mir dann sicher, nach der Lektüre ganz anders denken zu müssen. Aber vielleicht ist das auch nur ein Rückschaufehler und eine Beschönigung, die ich mir selbst gern erzähle.
In welchem Verhältnis standen fortan “lernen” und “sich bilden”?
JV: In einem nicht sehr schmeichelhaften. Das heißt: Lernen hatte für mich immer etwas mit Überforderung zu tun und sollte mit den damit verbundenen Unannehmlichkeiten minimiert oder vermieden werden. Und ausgestattet mit einem schlechten Gedächtnis sind mir alle Versuche des Auswendiglernens – von Gedichten, von chemischen oder mathemathischen Formeln – eigentlich mißlungen.
Dagegen gab es Reisen vom Hundertsten ins Tausendste: Man kommt vom Einen zum Anderen, stolpert im Wissenswerten herum und stößt auf überraschende und eigentlich unüberschaubare Zusammenhänge. Wollte man auch das noch Bildung nennen, dann wäre das der Versuch zur ‘Ausbildung’ eines Gespürs dafür, dass die Welt ungemein mannigfaltig ist.
Wie erlebten Sie das Studium an der Universität?
JV: Die Massenuniversitäten, an denen ich studierte, hatten den großen Vorzug, dass man den Unterschied zwischen Innen und Außen nicht machen musste oder konnte. Dadurch wurde zwar der Sinn für strenges wissenschaftlches Arbeiten – das ja über solche Distinktionen und über Exklusionen funktioniert – weniger entwickelt; umgekehrt aber Freundschaftsverhältnisse privilegiert: Freundschaften mit Leuten, Büchern, Einfällen oder Theorien. Auch mein erstes, gemeinsam mit Thomas Anz herausgegebenes Buch “Die Dichter und der Krieg” (1982) hatte da seinen Platz.
Wenn Sie auf die Bildungsdebatten der 1980er, 1990er zurückblicken – was von den Problemen und Streitpunkten hat Ihre Entwicklung zum Professor am stärksten beeinflusst?
JV: Nichts wirklich Konkretes. Prägend war wahrscheinlich die Erfahrung, dass alle so genannten Bildungsdebatten auf eine Verschärfung von Wettbewerb hinausliefen. Und sollte das für meine Rolle als Professor eine Bedeutung gehabt haben, dann mit der Hoffnung verbunden, kleine Reservate von kooperativen Aktivitäten, also Gedankenwerkstätten im allgemeinen Kompetitionslärm zu erhalten.
Was sind die blinden Flecken der Bildungsdebatte in Deutschland?
JV: Die hochfinanzierte Durchsetzung von Wettbewerbslagen und Konkurrenz, die Schaffung immer neuer Mikromärkte auch an den Universitäten ist ein Sozial- und Wissenschaftsexperiment mit offenem Ausgang. Und es ist durchaus möglich, dass die damit verbundene Profilierung von Arbeiten und Laufbahnen zu einem spürbaren Fallout an interessanten Biographien und Frageweisen führen wird.
Was also fehlt, sind Überlegungen dazu, wie und wo die Verunstaltung von Charakteren, Forschungsprofilen und intellektueller Beschäftigung durch die Imperative des Markts angehalten oder begrenzt werden könnte. Das betrifft auch den Blick auf die USA: Im Augenblick scheint man die Nachteile des hiesigen Systems – Unterfinanzierung und immer neue Belastungstests – mit denen des dortigen – z.B. Verschulung – kombinieren zu wollen. Daraus könnte durchaus ein Monster entstehen.
Welche Ihrer Initiativen als Professor nehmen direkten Bezug auf diese Situation?
JV: Von Initiativen oder Projekten zu sprechen, wäre vermessen. Es sind eher Anstrengungen. Das heißt etwa: In Wettbewerben – wie dem so genannten ‘Exzellenzwettbewerb’ – mitzuspielen, es sportlich zu nehmen, vielleicht doch zu gewinnen, um dann für sich und andere Freiräume zu schaffen. Das hat bislang nicht geklappt.
Wie “investieren” Sie heute in Ihre eigene (Weiter)Bildung? Welche Rolle spielen dabei digitale Medien?
JV: In ‘Bildung’ und ‘Weiterbildung’ investiere ich persönlich eigentlich kaum mehr, weil die wichtigste Ressource dafür fehlt, nämlich Zeit. Und was in diesem Zusammenhang Ihre Frage nach den digitalen Medien betrifft: Sie sind ja nicht dazu da, dass man sie benutzt, sondern dass man von ihnen benutzt wird. Damit muss man sich wohl abfinden.
(Anm.d.Red.: Joseph Vogl (Jahrgang 1957) ist Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität Berlin und darüber hinaus Visiting Professor of German an der Princeton University. Er ist Autor des Buchs Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Seine Fernsehgespräche mit Alexander Kluge sind kürzlich unter dem Titel Soll und Haben veröffentlicht worden.)
Hier spricht die gute alte Stimme der Aufklärung, danke!
Inwiefern wird man von den digitalen Medien denn “benutzt”? Ich benutze grade diese Kommentarfunktion hier – und nicht umgekehrt, oder?
@Luna: wenn Vogl das sagt, dann hat das einen philosophischen Hintergrund, aber man kann es auch ganz konkret an der täglichen Praxis fassen. Beispiel facebook: man wird dort benutzt, in dem man ständig direkt oder direkt angehalten wird, Dinge zu tun, die das Netzwerk beleben, und damit auch das ökonomische Modell, das dieses Netzwerk trägt.