Was ist das Eigene und was das Andere? Die Grenzen zwischen beiden sind immer fliessend, so dass man sagen koennte, eine Beschaeftigung mit dem Anderen bedeutet auch eine Beschaeftigung mit dem Eigenen. Hier geht es um eine Horizontenverschmelzung und eine Horizontenueberlappung. Das wurde mir bewusst, als ich begann, Biographien zu schreiben.
Ueber die tragische Karriere des chilenischen Liedermachers Victor Jara, das Toleranzanliegen des Religionswissenschaftlers Gustav Mensching und die interkulturell wirkungsmaechtigen Taetigkeitsfelder Guenter Wallraffs. Zentral sind theoretisch und praktisch begruendbare und auf die Praxis zielende Arbeitsweisen, die den Blick nach aussen richten, und zwar nach allen Seiten, und die Konsequenzen dieser Rundschau fuer Gerechtigkeit, Religionsfrieden und Demokratie fruchtbar machen: Jara als Saenger, Mensching als Universitaets- professer und Wallraff als Mahner zur Menschlichkeit.
Ausgehend von der Tatsache, dass jeder hermeneutische Vorgang die gesamte schriftstellerische Taetigkeit umfasst, ist anzunehmen, dass ich mich im Gespraech oder im Diskurs mit dem Anderen, in welcher Form auch immer, veraendere. Es besteht zwar ein Oszillieren zwischen dem Eigenen und dem Anderen, das aber so offen gestaltet sein soll, dass man jederzeit zu sich zurueckkehren oder das Andere bei sich revidieren kann. Daran koennen sich weiterfuehrende Gedanken entzuenden.
Meine Beschaeftigung mit Guenter Wallraff, einem der umstrittensten Schriftsteller und Journalisten der Gegenwart, geht auf ein Initialerlebnis meines Lebenspartners, des interkulturellen Philosophen Hamid Reza Yousefi zurueck. Er hatte die ›Ali‹-Reportagen gelesen und sah darin Probleme widergespiegelt, die nicht an Bedeutung eingebuesst haben. Romantisierungs- und Kriminalisierungsdiskurse des Anderen sind hier zentral, weil das Fremde schon im Vorfeld als gefaehrlich, schwaermerisch-exotisch oder gar als minderwertig dargestellt wird. Diese Gedanken haben wir 2005 in unserem gemeinsamen Werk ›Interkulturelles Denken oder Achse des Boesen. Das Islambild im christlichen Abendland‹ niedergelegt.
Diese Erfahrung hat mich dazu motiviert, mich intensiv mit Wallraffs Werk im Kontext seines Lebens zu beschaeftigen. Meine Auseinandersetzung erfolgt von einem interkulturellen Standpunkt aus. Interkulturalitaet fordert, den Anderen in seiner Andersheit anzuerkennen, sowie jegliche zentristische Denkpraxis zurueckzuweisen, die von einem Machtzentrum ausgeht, das wiederum eine Ohnmachtperipherie voraussetzt. Wallraffs Erschuetterung ueber die >Borniertheit und Eiseskaelte einer Gesellschaft, die sich fuer so gescheit, souveraen, endgueltig und gerecht< haelt, galt mir als ein verbindliches Motto fuer meine gesamte Wallraff-Forschung. Wallraffs Werk laesst sich als eine Frage nach dem Sinn des In-der-Welt-Seins bestimmen. Insofern geht es ihm um die kritische Beleuchtung der Zeit, in der er lebt und wirkt. Der Mensch soll >Dinge reklamieren, an die sich andere laengst wie an das Selbstverstaendliche gewoehnt haben<. Wir koennen dementsprechend von Wallraff lernen, kritisch zu reflektieren ueber das Eigene, das Andere und die Gesellschaft, in die wir hineingeboren sind und in der vieles fuer selbstverstaendlich gehalten wird. Hier ist von einem Referenzmassstab die Rede. Wallraff fragt, wer diesen Massstab definiert und wer ihn manipuliert. Unsere Weltgesellschaft bewegt sich in Richtung einer immer radikaleren Pluralisierung. In der postmodernen Zeit gibt es im Gegensatz zur Moderne viele Wahrheiten, viele >Vernunften<, viele Aesthetiken. Ferner ist die Geschwindigkeit zentral fuer unser Zeitbewusstsein geworden. Eine Zeitverschiebung liegt mit der >Internetisierung< vor, von deren Moeglichkeiten der Mensch profitiert. Beschleunigung ist aber nicht nur von Nutzen, sondern auch von Nachteil, weil der Mensch ueberall und jederzeit erreichbar und kommunizierbar sein muss. Eine radikale Individualisierung hat automatisch eine Vereinsamung des Einzelnen zur Folge. Wir sollten uns auf Werte besinnen, die uns verbinden. Eine Folge, dass Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit herrschen, haengt damit zusammen, dass einige Richtung und Sinn gebende Werte ihre bindende Kraft verloren haben. Wallraff will fuer die Notwendigkeit einer neuen sozialen Bewegung sensibilisieren, die >sich anders definieren und organisieren muss, ohne die neuen technischen Moeglichkeiten zu ignorieren<. Von der Beschleunigung des Alltags sehe ich insbesondere Frauen tangiert, die als Muetter und Berufstaetige mit dem Druck sich ueberschneidender Rollen konfrontiert sind. Diesem Dilemma ist durch eine klare Abwaegung zu begegnen, was wirklich wichtig ist, ob das Familiaere an erster Stelle stehen soll oder ob es sich lohnt, eine Karriere anzustreben. Ich moechte mich an der Gestaltung meines Zeitalters aktiv beteiligen, ohne meine individuell auferlegten ethisch-moralischen Kategorien preisgeben zu muessen. Jeder moderne Mensch wird sich dieser Ambivalenz nicht entziehen koennen.