Kann das Sammeln und Archivieren von digitalen oder analogen Daten eine Volkskunst sein? Ist Volkskunst nicht das genaue Gegenteil? Etwas, das aus dem Handwerk eines Objekts ein einzigartiges und persönliches Statement macht, häufig eines, das ein größeres Gemeinschaftsethos ausdrückt? Der Poet und Theoretiker der Kreativität Kenneth Goldsmith hat wenig Zweifel: Herstellen, Sammeln und Archivieren sind die neue Volkskunst. Eine Spurensuche.
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Archivierung ist die neue Volkskunst. Ein Beispiel dafür sind die prachtvollen Patchworkdecken aus Gees Bend, die seit Generationen von einer Gruppe afroamerikanischer Frauen produziert werden, die zurückgezogen in Alabama leben. Jede Decke ist einzigartig, sie ist aber als Produkt dieser Gemeinschaft erkennbar. Oder die spektakulären kosmischen Visionen wie von Rev. Howard Finster, dessen obsessive, emotionalen und von Hand gearbeiteten religiösen Bilder und Skulpturen nur dem einzigartigen Genie Finster selbst entsprungen sein können.
Wie die Herstellung von Patchworkdecken bedient sich das Archivieren des obsessiven Verbindens von vielen kleinen Teilen zu einer größeren Vision, einem Versuch die chaotische Welt zu ordnen. Es ist kein großer Sprung vom Hersteller von Patchworkdecken zum Briefmarkensammler oder Büchersammler. Walter Benjamin, selbst ein besessener Sammler, hat über die enge Beziehung zwischen dem Sammeln und Herstellen in seinem Essay „Ich packe meine Bibliothek aus – Eine Rede über das Sammeln“ geschrieben: „Unter Kindern ist das Sammeln nur ein Erneuerungsprozess; andere Prozesse sind das Malen von Objekten, das Ausschneiden von Figuren, das Anbringen von Aufklebern – die ganze Bandbreite an kindlichen Methoden der Beschaffung, vom Anfassen der Dinge bis hin zu ihrer Benennung.“ Nach Benjamin können diese Impulse – das Herstellen, Sammeln und Archivieren – als Volkspraktiken aufgefasst werden.
Der Einzug der digitalen Kultur hat uns alle zu unbeabsichtigten Archivaren werden lassen. Unsere archivalischen Impulse beginnen ab dem Moment, in dem wir bei elektronischen Dokumenten den „Speichern als“-Befehl nutzen. „Speichern als“ impliziert eine Wiederholung, und Wiederholung verlangt komplexere Überlegungen: Wo lege ich die Kopie ab? Wo ist das Original gespeichert? In welcher Beziehung stehen die beiden? Archiviere ich beide oder lösche ich das Original?
Untrennbarer Prozess
Sobald sich unsere Computer vernetzen, wird es komplizierter. Wenn wir ein Dokument nehmen und es per Email an einen Freund oder Professor schicken, dann archiviert unser Emailprogramm automatisch eine Kopie der Email, dupliziert den Anhang und speichert beides im Ordner „Gesendete Objekte“. Wenn das Dokument an einen Emailverteiler geschickt wurde, dann läuft dieser archivalische Prozess auf dutzenden, wenn nicht sogar tausenden Computern ab, dieses Mal bei „Empfangene Objekte“. Wenn wir als Empfänger im Emailverteiler den Anhang öffnen, müssen wir entscheiden ob und wo wir das Dokument speichern. Schreiben auf elektronischen Plattformen ist nie einfach nur Schreiben, es ist auch Archivierung, die beiden Prozesse lassen sich nicht trennen.
Die gleiche Überlegung lässt sich auch auf den vermeintlich einfachen Akt des Musikhörens übertragen. Wenn wir uns genauer ansehen, was wir täglich machen ohne darüber nachzudenken, stellen wir fest: es ist gar nicht so einfach. Wenn ich auf meinem Computer eine CD abspielen will, dann öffnet sich mit dem Einlegen der CD eine Datenbank wie Gracenote und fängt an, meine CD mit ID3 Tags zu versehen, die nützlich sind, wenn ich aus meiner CD ein MP3 machen möchte. Der Archivierungsprozess hat begonnen.
Anders als bei einer Schallplatte, wo die Platte nur auf den Plattenspieler gelegt werden muss und dann gehört werden kann, verlangt der MP3-Prozess, dass ich zum Bibliothekar werde. Durch die ID3 Tags lässt sich mein Artefakt schnell in meinem Archiv finden. Wenn Gracenote es nicht finden kann, muss ich diese Felder – Künstler, Album, Titel usw. – selbst eintragen. iTunes speichert diese MP3s automatisch in meinem „iTunes Music“-Verzeichnis und erstellt dabei zwei neue Ordner: einen mit dem Namen des Künstlers und einen mit dem Namen des Albums. Im Albumordner haben die Titel Nummern und Namen zugewiesen bekommen sowie ID3 Tags. Wenn ich diese MP3s in iTunes ziehe, um sie abzuspielen, dann erstellt iTunes automatische eine weitere Datenbank mit all diesen Informationen, und sucht zusätzlich nach Albumcovern usw.
Aber vielleicht entscheide ich mich dagegen, meine Dateien nach dem Schema von iTunes auf meiner Festplatte zu speichern, die schnell randvoll ist. Stattdessen verlagere ich meine ganzen MP3s auf eine große externe Festplatte, organisiere sie nach einem für mich sinnvollen Prinzip, das wiederum ein weiteres Level von Transfer und Archivierung mit sich bringt. Sobald ich meine MP3s mit anderen Menschen teilen möchte, muss ich an einer anderen Stelle weiter archivieren.
Archivieren anstatt zu konsumieren
All das muss durchgängig durch Backups gesichert werden, das wiederum eine weiteres Archivierungslevel einführt. Niemand will seine Daten verlieren. Da ich in den letzten 15 Jahren nahezu online gelebt habe, ist die Archivierung meiner Arbeit – Dokumente, Korrespondenzen, meine Sammlung etc. – eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Erstellung neuer Artefakte geworden. Weil ich in der Vergangenheit zu viele Daten verloren habe, mache ich religiös Sicherheitskopien, manche externen Festplatte sind doppelt oder dreifach abgespeichert.
Das ist weit entfernt vom einfachen Akt des Musikhörens. Ich verbringe inzwischen mehr Zeit damit meine Artefakte zu erwerben, zu katalogisieren und sie zu archivieren als sie dann zu nutzen. Die Art und Weise wie Kultur verteilt und archiviert wird ist spannender geworden als die Kultur selbst. Es ist zu einer Umkehrung des Konsums gekommen, einer in der wir uns mehr mit dem Erwerb selbst beschäftigen statt mit dem was wir erwerben; statt den Wein zu trinken, betrachten wir lieber die Flasche.
Unser erster Impuls hat sich von den Herstellern zu den Sammlern und Archivaren verschoben, wie Walter Benjamin es vorausgesagt hat: „Wenn meine Erfahrung als Nachweis dienen kann, dann ist es wahrscheinlicher, dass jemand ein geborgtes Buch zurückgibt ohne es gelesen zu haben. Und sie werden einwerfen: Das Nicht-Lesen von Büchern ist charakteristisch für Sammler? Sie werden sagen: Das ist mir neu. Aber es ist ganz und gar nicht neu. Experten werden mir zustimmen, wenn ich sage, dass es das älteste Verhalten auf der Welt ist. Es reicht die Antwort zu zitieren, die Anatole France einem Spießbürger gab, der seine Bibliothek bewunderte und dann mit der Standardfrage endete: „Und sie haben alle diese Bücher gelesen, Monsieur France?“ „Nicht ein Zehntel davon. Oder benutzen sie täglich ihr Meißner Porzellan?“
Anm.d.Red.: Aus dem Englischen von Anne-Christin Mook. Das Bild oben ist ein Detail dieses Fotos.
Ein Kommentar zu “Sammeln und Archivieren: Gedanken zu einer Volkskunst der digitalen Ära”