
In der aktuellen Debatte um die deutsche Kolonialgeschichte stehen die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika oder im Pazifik im Vordergrund. Ein wichtiges Kapitel ist jedoch bis heute weitgehend unbeachtet geblieben: die preußische Expansion in Polen, die zahlreiche Merkmale kolonialer Herrschaft aufweist. Agnieszka Pufelska zeigt, warum eine post-preußische Perspektive notwendig ist, die Preußen systematisch in eine europäische Geschichte des Imperialismus einbettet.
*
Vor 140 Jahren, im Jahr 1885, wurden rund 32.000 polnische und jüdische Bewohnerinnen und Bewohner aus Preußen ausgewiesen – ein dramatisches Ereignis, das in Deutschland weitgehend vergessen, in Polen jedoch tief im kollektiven Gedächtnis verankert blieb. Diese sogenannte ‚Polenausweisung‘ war nicht nur eine Maßnahme gegen ungeliebte ‚Fremde‘, sondern auch ein Ausdruck der preußisch-deutschen Nationalstaatsbildung, die auf ethnischer Homogenität und kolonialen Vorstellungen beruhte. Systematische Germanisierung, Siedlungspolitik und rassistische Diskurse gegenüber der polnischen und jüdischen Bevölkerung machten die preußischen Ostprovinzen zu einer Art innerem Kolonialgebiet. In der aktuellen Debatte um die deutsche Kolonialgeschichte stehen die ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika oder im Pazifik im Vordergrund. Ein wichtiges Kapitel ist jedoch bis heute weitgehend unbeachtet geblieben: die preußische Expansion in Polen, die zahlreiche Merkmale kolonialer Herrschaft aufweist.
Der Grund für die forcierte Ausgrenzung Preußens aus der kolonialen Vergangenheit Deutschlands ist nicht zu übersehen. Alleine die wiederhergestellten Fassaden des Berliner Schlosses machen deutlich, dass Preußen immer noch als ein positiver Referenzpunkt der deutschen Geschichte gilt. Um dieses idealisierte Bild vom Kulturstaat Preußen nicht zu trüben, bleibt besonders in den Berliner und Brandenburger Kultureinrichtungen die Doppelstaatlichkeit von Deutschem Kaiserreich und Preußen ausgeblendet. Bei ihrer gern nach Außen kommunizierten postkolonialen Perspektive ignorieren sie durchgehend, dass Preußen nicht nur treibende Kraft des Gründungsprozesses war, sondern auch nach 1871 das Reich und seine koloniale Politik mitbestimmte.
Germanisierung
Die preußische Landnahme in Polen begann mit den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts. Der östlichen Expansion verdankte Preußen auch seinen Aufstieg zur europäischen Großmacht. Der bis heute so populäre preußische König Friedrich II. rechtfertigte die Annexion polnischer Gebiete mit der Behauptung, es handle sich um einen „zivilisatorischen Akt“, der die „rückständige polnische Bevölkerung“ unter preußische Führung stellen sollte.
Mit der Einverleibung weiter Teile des östlichen Nachbarn wuchs jedoch nicht nur das Territorium, sondern auch die Zahl der nicht-deutschsprachigen Untertanen. Besonders in den Provinzen Posen und Westpreußen blieben die polnisch- und jiddischsprachigen Einwohnerinnen und Einwohner in der Mehrheit. Keineswegs stellten sie eine homogene Gruppe dar. Diese bestand aus Landarbeiter*innen, wohlhabenden Gutsbesitzer*innen, städtischen Kaufleuten und Handwerker*innen. Unabhängig von ihrer sozialen Stellung wurden sie jedoch in den Augen der preußischen Verwaltung zunehmend als ‚Fremdkörper‘ betrachtet, die es zu assimilieren galt. Dies erschien umso dringlicher, als die polnische Bevölkerung mit eigenen Schulen, Zeitungen und Organisationen wirtschaftlich und gesellschaftlich aktiv blieb. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erklärte die preußische Regierung die Bekämpfung nationaler Strömungen innerhalb der polnischen Bevölkerung zum Gebot der Stunde und setzte zunehmend auf eine Politik der Ausgrenzung und Germanisierung.
Die Germanisierungspolitik wurde maßgeblich durch Otto von Bismarck vorangetrieben. Besonders nach der Reichsgründung war seine Regierung bemüht, der ‚Ostkolonisation‘ eine neue Dringlichkeit zu verleihen. Der Kulturkampf, den Bismarck in den 1870er Jahren entfesselte, war eine großangelegte Offensive gegen die katholische Kirche und damit auch gegen die polnische Bevölkerung, die überwiegend katholisch war. Neben den katholischen Einrichtungen geriet vor allem die polnische Sprache ins Visier der Behörden. Schulen wurden gezwungen, den Unterricht auf Deutsch umzustellen, polnische Zeitungen wurden streng zensiert, und der Gebrauch der polnischen Sprache im öffentlichen Raum wurde zunehmend als Akt des Widerstands interpretiert.
Siedlungspolitik
Um die ‚polnische Bedrohung‘ zurückzudrängen, war die deutsche Regierung bereit, jeden Preis zu zahlen. 1886 wurde die Königlich Preußische Ansiedlungskommission gegründet, die mit staatlicher Förderung von über 100 Millionen Reichsmark Land in den östlichen Provinzen von polnischen Gutsbesitzern aufkaufte, um es an deutschsprachige Siedler zu vergeben. Ziel war es, den Anteil der deutschen Bevölkerung in den Ostprovinzen zu erhöhen und so eine dauerhafte Kontrolle über das Gebiet zu sichern. Forciert wurde diese Landübernahme von mächtigen politischen Gruppierungen wie dem Ostmarkenverein sowie dem ihm nahestehenden Alldeutschen Verband. Ihre aggressive Siedlungspolitik kulminierte 1908 in einem Enteignungsgesetz, das dem Staat erlaubte, polnischen Grundbesitz zwangsweise zu konfiszieren. Doch der stark geförderte Siedlungskolonialismus stieß vom Anfang an auf wenig Zuspruch und der erhoffte ethnisch-nationale Wandel in den Provinzen Westpreußen und Posen drohte zu scheitern. Eine Strategie mit schnell erkennbaren Folgen war gefordert.
Die 1880er Jahre markieren eine entscheidende Phase der polenfeindlichen Politik im Kaiserreich. Während auf der Berliner Kongokonferenz die deutsche Expansion in Übersee verhandelt wurde, entschied Bismarck, sich auch im Inneren gegen unerwünschte Minderheiten zu wenden. Die preußische Regierung ließ die massenhafte Ausweisung von polnischen und jüdischen Arbeiter*innen, Handwerker*innen und Händler*innen anordnen, die keine deutsche Staatsbürgerschaft besaßen. Binnen weniger Monate verloren über 30 000 Menschen ihre Existenzgrundlage und standen vor dem Nichts.
Rassistische Ausgrenzung
Bismarcks Entscheidung kam nicht überraschend und befeuerte die Diskussion über die Stärke der so genannten ‚deutschen Kolonisationskraft‘. Um diese nicht zu verlieren, schlug der damals populäre ‚Philosoph des Unbewussten‘ Eduard von Hartmann vor, „das Slawentum in unseren Grenzen auszurotten“ und so „wenigstens in unserem eigenen Hause die unbedingte Herrschaft des Deutschtums sicherzustellen“. Auch wenn Hartmann die Mehrheitsmeinung vertrat, fehlte es nicht an Kritik. Am 15. Januar 1886 bezeichnete der Sozialdemokrat Wilhelm Liebknecht im Reichstag die laufende Ausweisung als einen „Akt der Barbarei, der im Namen der Kultur begangen wird“.
Der Aufruf von Hartmann macht deutlich: Die Feindseligkeit gegenüber der polnischsprachigen Bevölkerung als Slawen speiste sich nicht nur aus politischen, sondern auch aus rassistischen Motiven. Die neue Qualität eines national-rassischen Antislawismus gründete auf der ideologischen Überzeugung von einer umfassenden deutschen Überlegenheit. Diese griff auf tradierte kulturelle Feindbilder eines ‚barbarischen Ostens‘ zurück und verband sie mit neuen rassischen Vorstellungen der angeblichen Minderwertigkeit der Slaw*innen. Die Polinnen und Polen wurden dabei als eine homogene Ethnie dargestellt, der angeblich die Fähigkeit fehlt, ohne deutsche Intervention zivilisatorische Fortschritte zu machen und die den deutschen ‚Kulturraum‘ durch seine atavistischen Tendenzen bedroht. Die aggressive Assimilations- und Germanisierungsspolitik konnten dann als ‚Kulturleistung‘ legitimiert und propagiert werden.
Die rassistischen Warnungen vor der slawischen Dominanz ließen sich problemlos in den Kontext der weitverbreiteten Judenfeindschaft einordnen. Die von dem Historiker Heinrich von Treitschke formulierte Schreckensvision einer „Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge“, die Jahr für Jahr „aus der unerschöpflichen polnischen Wiege über unsere Ostgrenze“ hereindringt, legitimierte den vorherrschenden Antisemitismus gegenüber der jüdischen Zuwanderung. Das Bild von der vermeintlichen ‚Überflutung‘ durch die später so genannten ‚Ostjuden‘ wurde zum Topos des Berliner Antisemitismusstreits. Um dem Einhalt zu gebieten, wurden seit 1883 Jüdinnen und Juden ohne Aufenthaltserlaubnis ausgewiesen. Berlin übertraf alle vier Ostprovinzen Preußens zusammen und ließ innerhalb eines Jahres 677 Menschen ausweisen, während dort 662 Ausweisungen vollzogen wurden. Die darauffolgende ‚Polenausweisung‘, von der ebenfalls circa 10.000 Jüdinnen und Juden betroffen waren, verdeutlicht die bewusste Verschmelzung von Antisemitismus und Antislawismus. Der ‚barbarische Osten‘ wurde homogen gedacht, antisemitisch und antislawisch zugleich.
Postpreußen
Die diskursive Neuerfindung ehemals polnischer Gebiete als kolonialer Raum entwickelte sich parallel zu einer Reihe materieller Praktiken, die zwar nicht per se als vollständig kolonial definiert werden können und deutliche Unterschiede zum Überseekolonialismus aufweisen, aber dennoch die Ideale territorialer Expansion und rassischer Unterwerfung aufweisen. Strategisch geplante und durchgeführte Osterweiterungen der preußischen Grenze wurden begleitet von einer Politik der kulturellen Assimilation und Bevölkerungsverschiebung, die im Rahmen der inneren Kolonisation umgesetzt wurde.
Die im Berliner und Brandenburger Kulturbetrieb vorherrschende Ablehnung der Kategorisierung preußischer Polenpolitik im 19. Jahrhundert als ‚kolonial‘ erklärt weder die Präsenz des kolonialen Diskurses noch eliminiert sie dessen Einfluss auf Berlin und die östlichen Provinzen Preußens. Alleine aus dem Grund ist eine postpreußische Perspektive notwendig, die Preußen systematisch in eine europäische Geschichte des Imperialismus einschreibt. In dieser Perspektive treten die multiplen Verbindungslinien deutlich hervor, die zwischen der binneneuropäischen Imperialmacht Preußen und dem Deutschen Reichs als außereuropäischer Kolonialmacht existieren. Der postpreußische Blick nach Osten legt gleichzeitig eine längere Geschichte Preußens als historisches Zuwanderungsland frei. Heute, in einer Zeit, in der Migrations- und Grenzpolitik wieder hochaktuell sind, ist der kritische Rückblick gerade auf dieses Kapitel der deutschen Geschichte nötiger denn je.