Liest man Marguerite Duras, ist man sogleich aufs Meer verwiesen, ueberall bewegt sie sich an den Ufern irgendeines Wassers. Mal ist es das Wasser des Mekongs, mal ist es der Indische Ozean, dann der Atlantik. Zuletzt spielt das keine Rolle. Was zaehlt ist, dass Duras sich der Erfahrung des Wassers oeffnet, wie man sich der Erfahrung irgendeiner Wueste oeffnet. Diese Erfahrung ist ebenso fundamental wie bedrohlich. Auf dem Meer, in der Wueste kreuzen sich die Erfahrungen von Endlichkeit und Unendlichkeit, immer handelt es sich um eine extreme Situation.
Da ist zunaechst die Weite, die derart total zu sein scheint, dass sie einem die Orientierung nimmt. Sie ist schon die Erfahrung einer gewissen Beengung, Einsamkeit und Not. Die Weite ist Freiheit und Begrenzung von Freiheit, da sie das Subjekt dieser Erfahrung mit seiner Endlichkeit kurzschliesst. Duras weiss, dass diese Erfahrung nicht irgendeine Erfahrung ist. Sie betrifft das Subjekt als Subjekt. Denn Subjektsein bedeutet, auf diesen originaeren Ozean bezogen zu bleiben, der den Ort dessen einnimmt, was die Substanzontologien das Wesen oder die Natur des Menschen genannt haben.
Das Meer verweist auf die Dimension des Ursprungs, und – mit derselben Intensitaet – auf die Ungewissheit, den Entzug oder primordialen Verlust dieser Dimension. Es ist Name einer Inkommensurabilitaet, die die Leere im Herzen des Subjekts markiert. Das Meer ist diese Leere, dieses Nichts, das den intimsten Bereich des Subjekts bewohnt. Das aber heisst: im Innersten des Subjekts persistiert eine Leere, die es mit jedem anderen Subjekt teilt. Im Innersten des Subjekts findet sich dieses Aussen, diese weder positivierbare noch internalisierbare Gegenwart, die einen neuen Begriff von Universalitaet zu denken erlaubt.
Universalitaet nenne ich eine Praesenz, die absent bleibt. Ihre Funktion liegt in der Begrenzung des Regimes des Identifizier- und Repraesentierbaren, d.h. des ganzen Universums der Praesenz. Deshalb bedeutet auf eine Universalitaet bezogen zu sein, eine Oeffnung seiner Realitaet und seines Lebens und seiner Welt auf ihre implizite Begrenzung, auf das, was in dieser Realitaet, in diesem Leben, in dieser Welt keinen Platz hat, keine Anerkennung finden kann, keine Repraesentanz. Das Meer ist ein Name einer solchen Universalitaet, deren Kraft im Wesentlichen eine Kraft der Aufloesung ist, der Destabilisierung und Unterspuelung anerkannter Wirklichkeit.
Es ist klar, dass die Erfahrung des Schreibens im Durasschen Sinn sich hier mit der philosophischen Erfahrung kreuzt, zu der die gleichzeitige Oeffnung auf die Dimensionen des Endlichen und des Unendlichen, der Praesenz und der Absenz, der Realitaet und der Idealitaet, des Moeglichen und des Unmoeglichen, des Lebens und des Unlebbaren gehoert. Die Erfahrung des Wassers muss eine Hier-und-Jetzt-Erfahrung bleiben. Sie ist alles andere als poetisch oder traeumerisch oder fiktional. Wie jede Erfahrung, die diesen Namen verdient, oeffnet sie das Subjekt auf den Konfliktbereich zwischen den genannten Ordnungen.
Hier verliert das Subjekt die Option der immer narzisstischen Selbstliterarisierung. Deshalb besteht Duras auf der Unversoehnlichkeit von Schreiben [ecrire] und Literatur. Weil die Erfahrung des Schreibens alle moeglichen Traeume unterbricht, indem sie den literarischen Narzissmus wie die narzisstische Literatur unmittelbar zerstoert. Weil zu dieser Erfahrung das Wagnis der Oeffnung auf die Zerstoerung als eine Art ontologischer Gesetzmaessigkeit gehoert.
Die Dimension des Meeres ist diese Dimension ontologischer Destruktion, fuer die die Geschichte der Philosophie verschiedene Namen kennt: Werden, Chaos, Aussen, Desaster oder Kontingenz. Schreiben nennt Duras die Oeffnung auf etwas zu Grosses, zu Unbekanntes, zu Unheimliches als dass man es schlicht erzaehlen koennte. Schreiben ist die Erfahrung einer gewissen Besitzlosigkeit. Schreibend bewegt sich das Subjekt auf das ozeanische Nichts inmitten seiner >selbst< und inmitten jeder Bedeutungsarchitektur zu. Man versteht jetzt, warum die maritime Erfahrung nicht eine unter anderen sein kann: Sie betrifft die Stellung des Subjekts in der Seinstotalitaet.