Unerhörte Verbindungen: Warum der Südatlantik erst heute als Kulturlabor entdeckt wird

AMBIENT REVOLTS sind politische Umbrüche, die fast unmerklich im Hintergrund ablaufen. Sie sind kaum wahrnehmbar, doch wer sich für Stille sensibilisert, kann diese Veränderungen registrieren – oder sie aktiv gestalten. Die Postkolonialismus-Forscherin Kerry Bystrom hat sich vor diesem Hintergrund mit dem Global South Atlantic beschäftigt. Ein Protokoll.

*

Im Jahr 1993 veröffentliche Paul Gilroy das wegweisende Buch The Black Atlantic. Zu dieser Zeit war der “transnation turn” noch nicht passiert. Geschichte und Literatur, wie viele andere Gebiete auch, wurden fast ausschließlich durch eine nationale Perspektive betrachtet. Und die wichtigsten Nationen wurden damals in Nordamerika und Europa verortet. Im Kampf gegen diese künstliche Trennung und Hierarchie macht das Konzept des Black Atlantic ein Netz von intellektuellen, kulturellen und politischen Verbindungen sichtbar, die seit Beginn der Sklaverei von Menschen afrikanischer Herkunft über den Ozean hinweg zwischen Europa, Afrika, den Vereinigten Staaten und der Karibik entstanden sind.

Sein “Chronotop”, wie Gilroy es nennt, ist das Segelschiff. Der Ort, an dem so viele verschiedene Völker dicht zusammengedrängt wurden und multinationale und multilinguale Mikro-Communities schufen, während sie Schiffe steuerten oder über die Meere geschleppt wurden. Ich möchte hinzufügen, dass Gilroy zusätzlich zu den okkludierten transnationalen Geschichten auch die Verbindungen von schwarzem Denken mit der Entwicklung der westlichen Moderne betont und einen rassischen Essentialismus ablehnt, der das schwarze Leben und den schwarzen Ausdruck auf eine vormoderne “traditionelle” Dimension beschränkt. Black Atlantic in diesem Sinne ist der Geburtsort dessen, was Gilroy eine “Gegenkultur der Moderne” nennt.

Black Atlantic: Wirkungen und Probleme

Ich glaube, man kann die Wirkung des Black Atlantic gar nicht hoch genug würdigen. Das Konzept ist für mich sowie für andere ForscherInnen im Bereich der Postcolonial Studies und der African and African Diaspora Studies, eine extrem wichtiger Bezugspunkt. Es diente als Grundlage für eine erneuerte und viel integrativere Vision des Atlantiks. Wie Joey Slaughter und ich in unserem Buch “The Global South Atlantic” betonen, sind im Gefolge von Gilroys bahnbrechender Arbeit eine ganze Reihe farbkodierter “Atlantics” entstanden. Vom Grünen Atlantik der irischen Diaspora bis zum Roten Atlantik indigener Gemeinschaften.

Ein Vorwurf, der gegenüber Gilroy aufkam, ist, dass seine Denkweise verkürzt sei. Der Sklavenhandel und seine Folgen würden auf die Verbindung zwischen Afrika und Nordamerika beschränkt. Ich denke, ein Teil der Erklärung für die Dynamik, zumindest in Bezug auf Gilroys Arbeit, findet sich in seinem eigenen Hintergrund und seiner Perspektive als schwarzer Brite mit karibischen (guyanischen) Wurzeln, der in Großbritannien und den USA arbeitet.

Der Black Atlantic ist im Grunde eine Analyse von schwarzen anglophonen Diasporiaerfahrungen und -Kulturen, die sich mit US-Politik, deutschem Denken oder französischer Gesellschaft und gelegentlich mit Ereignissen auf dem afrikanischen Kontinent selbst auseinandersetzen. Das Sprachproblem ist ein echtes und wichtiges Thema. Ein anderer Faktor, der die Betonung dieses Buches auf den Norden bestimmte, war das reelle und dringende Bedürfnis, das Vorhandensein von schwarzem Denken und schwarzen Erfahrungen innerhalb eines sich stark dem Norden zuwendenen Kanons der Moderne, sichtbar zu machen.

Bei diesem starken Fokus auf den Norden, gerät aus dem Blick: Es wurden viel mehr versklavte Menschen in die Karibik und nach Südamerika geschickt als nach Nordamerika. Mehr als elf Millionen Afrikaner wurden nach Lateinamerika und in die Karibik gebracht. Dies sind, wie der renommierte Gelehrte Henry Louis Gates Jr. in seinem Dokumentarfilm Black in Latin America ausführt, “fünfundzwanzigmal so viele, wie in die Vereinigten Staaten gebracht wurden”.

Gates merkt an – und das betonen wir auch in unserem Buch “The Global South Atlantic” –, dass ein Großteil dieser Geschichte zugunsten von Diskussionen über nördliche Routen der Sklaverei unterdrückt wurde. Es ist nach wie vor möglich, dass ein durchschnittlicher US-Bürger (oder ein brasilianischen Staatsbürger, usw.) überrascht ist von der Bedeutung afrikanischer Menschen und Traditionen in Lateinamerika.

Die Süd-Süd-Verbindung und ihre Bedeutung

Die erzwungene Bewegung der versklavten Völker über die wir hier sprechen, ist bei weitem die größte und am besten organisierte “Mobilität” zwischen den Kontinenten. Aber es ist nicht die einzige. Zusammen mit unseren Mitwirkenden bei “The Global South Atlantic” berichten Joey und ich über den Austausch von Menschen und Ideen: Etwa von der kubanischen Unterstützung für den angolanischen Befreiungskampf oder über die argentinische Polizei, die Wissen über Foltertechniken mit dem Apartheid-Südafrika teilt.

In jüngster Zeit gab es ein Interesse an den gemeinsamen Erfahrungen, die in Lateinamerika und Afrika mit Kolonisierung und Neokolonialisierung gemacht wurden. Das kann man erkennen an Treffen wie den Afrika-Südamerika-Gipfeln. Dieser Austausch und diese Art der Solidarität wollen wir sichtbar machen und kritisch hinterfragen. Zumindest in einigen Fällen (nicht bei den argentinischen Spezialeinheiten!) finden sich hier Erinnerungen oder Visionen einer anderen Art, Menschen, Macht und Wissen zu ordnen.

Davon abgesehen, und mit diesem Problem versuchen wir uns auch in unserem Buch zu befassen, ist es, zumindest seit dem Ende der Ära des lusophonen Atlantiks, überhaupt nicht einfach zwischen Afrika und Lateinamerika zu reisen. Es gibt beispielsweise wenige direkte Flüge. Ich erinnere mich, dass, als ich 2004 in Buenos Aires und in Kapstadt forschte, der einzige Direktflug entweder ein wöchentlicher oder ein monatlicher mit Air Malaysia war.

Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Die Unterwasserkabel, die die Kontinente verbinden, verlaufen alle durch den Nordatlantik. Diese infrastrukturelle Herausforderung ist ein Artefakt ungleicher Entwicklung und ein wichtiger Faktor, wenn es um die Möglichkeiten geht, Verbindungen zu knüpfen. Nicht zu vernachlässigen sind die ohnehin großen Herausforderungen der Kommunikation über mehrere Kolonialsprachen hinweg. Diese Art der Unterbrechung muss man berücksichtigen, auch wenn wir über zukünftige Möglichkeiten nachdenken.

Die emanzipatorische Kraft des selbst gewählten Schweigens

South-Atlantic-ForscherInnen stimmen sich ein auf eine Stille, die hier vorherrscht. Es gibt viele Geschichten, die nicht erzählt werden oder in Vergessenheit geraten sind. Wie bereits erwähnt, ist es so, dass die Narrative über den nordatlantischen Sklavenhandel für viele Menschen die Geschichte des Südatlantik überdeckt hat. Einer der Beitragenden in unserem Buch, Jason Frydman, weist darauf hin, dass die Aufmerksamkeit für die christlichen Sklavenerzählungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert auch die Wahrnehmung ihrer arabischen und islamischen Gegenstücke überdeckt hat. Er erzählt von Job Ben Solomon, alias Ayuba Suleiman Ibrahima Diallo, Sohn eines muslimischen Klerikers in Gambia, der, als er einen Botengang für seinen Vater erledigte, versklavt wurde.

Ben Solomon, der sich die Faszination der USA und Europas für den Orient zunutze machte, verdiente buchstäblich seine Freiheit, indem er seine Lebensgeschichte im Sharazad-Stil erzählte. Er kehrte dann auf den afrikanischen Kontinent zurück und entzog sich den Versuchen seiner ehemaligen Meister und Wohltäter, ihn zu kontaktieren. Seine Lebensgeschichte erinnert uns an ein verschüttetes Archiv der Süd-Süd-Bewegung, zu dem wir zurückkehren müssen, nicht zuletzt, weil das helfen kann, tief verwurzelte kulturelle Erzählungen zu dekonstruieren, die den Islam als etwas Fremdes für Amerika darstellen.

Doch wie Frydman argumentiert, ist Ben Salomons Geschichte auch deshalb faszinierend, weil sie mit einer anderen Art von Schweigen endet: einem Schweigen, das nicht von hegemonialen kulturellen und politischen Kräften bestimmt wird, sondern vom subalternen Subjekt, das sich das Recht vorbehält zu verschwinden. Dieser Wunsch “unter dem Radar” zu bleiben, ist auch eine Art von Stille, die wir “hören” müssen und die wir respektieren müssen.

Die Idee des ozeanischen Raums

Was war also die Motivation für uns, uns auf diese Stille einzulassen, und die Geschichten des South Atlantic zu hören? Auf der einen Ebene wollten Joey und ich den Begriff des Black Atlantic erweitern, um Gebiete wie Südamerika in den Fokus zu rücken, die in Gilroys klassischem Werk weitgehend vernachlässigt werden. Zudem wollten wir die Barrieren der Sprache durchbrechen und auch Sprachen neben Englisch zu erkunden. Als postkoloniale Gelehrte und Komparatistinnen wollten wir zeigen, wie unterschiedlich der South Atlantic aussehen könnte, wenn wir einen wirklich auf den Süden ausgerichteten und mehrsprachigen Ansatz verfolgen.

Dies beinhaltet das Zusammenbringen der oben genannten farbkodierten Atlanten. Fragen der Gerechtigkeit werden aufgegriffen, indem einige der Träume antikolonialer Denker und Künstler wiederbelebt werden. Dies sind Menschen, die sich den Atlantik anders vorgestellt haben und (wie wir in unserer Einführung zu dem Band anmerken) die eine umfassendere Ausbildung der Ideen von Freiheit und Gleichheit forderten, die die ursprüngliche Atlantik-Charta motivierten. Ihre Visionen wurden jedoch verworfen, als nach dem zweiten Weltkrieg die “Neue Weltordnung” etabliert wurde. Bestehende Machthierarchien in Frage zu stellen und Platz zu schaffen für andere und hoffentlich bessere Alternativen ist doch der beste Ausgangspunkt, um die Gegenwart neu zu erfinden, oder?

Doch der Wunsch, Gilroys Paradigma zu erweitern oder zu vervollständigen, war nicht unsere einzige Motivation. Wir wollten die Diskussion auf eine Meta-Ebene bringen und darüber nachdenken, welche Wissensstrukturen es möglich machen, einen ozeanischen Raum als eine zusammenhängende Region für Investitionen, Studien, Theorien usw. zu entwerfen. Erinnern wir uns daran, dass es erhebliche Probleme der Mobilität bei dieser Süd-Südverbindung gibt – das macht es schwierig, ganz bestimmte Beispiele des Austauschs auszumachen, besonders nach der Ära des Sklavenhandels.

Der South Atlantic ist eben nicht zu einem wichtigen Ort geworden, anders als der (Nord-) Atlantik- oder der Indische Ozean. Wir wollten erforschen, warum und Orte zeigen, an denen der Wunsch nach Einheit und Verbindung zusammenbrach und wie dies geschah, oder auch Orte zeigen, die niemals Realität wurden. Ein wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang ist das Bildungssystem im Globalen Norden, das noch immer in der Ära des Kalten Krieges verhaftet ist oder älteren Formen der imperialen Wissensproduktion folgt und das uns beharrlich erzählt, dass Afrika und Lateinamerika eine andere Geschichte haben. Eine Geschichte, die man mit “unserer” nicht vergleichen könne. Wie können wir diese Muster des Denkens und Wissens rückgängig machen und anfangen, endlich einen neuen Blick einzunehmen? Und was wird passieren, wenn wir das tun?

Zusammengenommen stellen Joey und ich den Global South Atlantic als etwas vor, das man aus einer bifokalen Perspektive erforschen muss. Es ist sowohl eine geografische Region als auch auch eine Vision, eine Vorstellung von einem Ort der Gerechtigkeit und Gleichheit, erträumt von den vielen Mitgliedern des Globalen Südens, wenn sie von der Idee der Atlantischen Charta sprechen. Eine Vision, die noch nicht Realität geworden ist – und auch die Gründe dafür sollten aufgedeckt, erforscht und hoffentlich verändert werden.

Anm. d. Red.: Das Buch “The Global South Atlantic” herausgegeben von Kerry Bystrom and Joseph R. Slaughter ist bei Fordham University Press erschienen. Das Foto stammt von Yanning Van de Wouwer und steht unter CC-Lizenz.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.