Tasten, Tippen, Tappen, Wischen, Klicken: Zur Un-/Sichtbarkeit der Arbeit von Fingern

Bildschirmarbeit – so wird gemeinhin Arbeit, die am Computer oder Smartphone verrichtet wird, bezeichnet. Dabei wird ausgeblendet, dass viele Arbeitsprozesse mit den Fingern durchgeführt werden. Die Routinen der Fingerarbeit werden bereits in Werbung und Filmen aufgegriffen und so als Bestandteil des Alltags normalisiert. Die Medienwissenschaftlerin Rebecca Puchta argumentiert, dass die Betrachtung und Sichtbarmachung von Fingerarbeit ein wichtiger Bestandteil der Analyse des gegenwärtigen KI-Kapitalismus ist.

*

Der Automatisierung von Arbeitsprozessen durch digitale Technologien, Datenökonomien und KI-Kapitalismus möchte ich die Automatisierungsprozesse auf der Wahrnehmungsebene anbei stellen. Auf der Ebene der Wahrnehmung lassen sich am Spiel zwischen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten Mechanismen der Normal- und Routinewerdung beobachten. Die Metapher der Unsichtbaren Hand, die Adam Smith in The Wealth of Nations 1776 einführt und auf die Magdalena Taube und Krystian Woznicki in ihrer Beschreibung zum Jahresthema SILENT WORKS verweisen, steht in direktem Zusammenhang mit einem derartigen Spiel von Unsichtbar- und Sichtbarmachung. Dieses Spiel bestimmt unsere Auffassung und Wahrnehmung kapitalistischer Arbeitsverhältnisse.

In seinem Beitrag zum Thema Unsichtbare Hände. Automatismen in Medien-, Technik- und Diskursgeschichte, argumentiert Andreas Wolfsteiner, dass die Metapher der Unsichtbaren Hand als Automatismus zu begreifen ist, da die Wahrnehmung der eigentlichen Tätigkeit der Hand hinter ein Spiel von Sichtbarem und Unsichtbarem tritt. Die Unsichtbare Hand ist nicht nur historischer Denk- und Bezugspunkt, um Überlegungen zum Stand der Ökonomie zu unternehmen, sondern sie dient seither nahezu modellhaft als Bild dafür, verborgene Koordinationskräfte, seien es jene Gottes, des Marktes oder einer Künstlichen Intelligenz, vorstellbar und durch Sichtbarmachung auch begreifbar zu machen—vor unserem inneren Auge, in Erzählungen, Theorien oder in Filmen.

Mikroprozesse sichtbar machen

Um den prekären Status menschlicher Arbeit im gegenwärtigen Kapitalismus zu überwinden, kann sie sichtbarer gemacht werden, mit dem Ziel durch erhöhte Anerkennung durch ihre Entlohnung, Berücksichtigung in Diskursen und der Medienberichterstattung zu bewirken. Ich schlage daher vor die Metapher unter den Bedingungen des KI-Kapitalismus ein weiteres Mal zu betrachten. Dabei soll die Metapher lediglich als Ausgangspunkt dienen, um das Augenmerk auf die einzelnen Glieder der Hand zu legen: die Finger. Beim Tasten, Tippen, Tappen, Wischen, Touchen, Klicken auf Smartphones, Laptops, Tastaturen, Bildschirmen usf. verrichten unsere Finger Arbeit.

In Alfred Dupont Chandler’s The Visible Hand von 1977 wurde durch ein Update der Smith’schen Metapher auf eine Transformation geantwortet, die am ausgehenden 19. Jahrhundert stattfand. Die sichtbare Hand meint die führende Hand von (meist) Managern, die, indem sie Koordinations- und Verteilungsaufgaben am effizientesten übernahmen, auf einen erhöhten Verteilungsbedarf multinational agierender Konzerne und den Ausbau von Infrastrukturen, der diese Verteilungsströme ermöglichte, reagierten. Die Aufmerksamkeit, die dadurch dem Management zukam, steht, unter den Bedingungen von Datenökonomien, den User*innen digitaler Geräte und Diensten zu. Denn Daten verändern die Art wie wir produzieren und konsumieren. Durch den Konsum von Online-(Shopping-, Streaming-, Buchungs-)Diensten werden aus Daten Praktiken und Tätigkeiten zur Produktion von Nutzer*innendaten.

Unter dem Signum immateriell gewordener Arbeit werden derartige Beobachtungen bereits moniert. Was Shoshana Zuboff in Überwachungskapitalismus als behavioralen Mehrwert diskutiert, ist verbunden mit einer Transformation von Produktivkraft, die Philipp Staab in Digitaler Kapitalismus u.a. dort erkennt, wo Konsument*innen zu Produzent*innen werden. Doch wollen wir menschliche Arbeit in die Prozesse der Akkumulation von Wert mehr noch miteinbeziehen, gilt es meines Erachtens die Mikroprozesse der Produktion von Daten einer radikaleren Sichtbarkeit zuzuführen und sie in unser Denken und Handeln zu integrieren. Zwei Beispiele von Fingerarbeit sollen im Folgenden zeigen, wie der Modus des Konsums als Arbeit begriffen werden kann.

Von der Fingerübung zur Fingerarbeit

Krankenkassen wie die TK haben erkannt, dass die Tätigkeit mündiger Patient*innen Fingerarbeit bedarf. Im Sommer 2019 habe ich mit meinem Smartphone im Eingangsbereich der Goethe-Universität auf dem Campus Westend ein Foto von einem Werbeplakat für die TK-App gemacht. Die TK wirbt mit diesem Poster dafür, bürokratische Abläufe zwischen Patient*innen und Krankenkassen zu digitalisieren—und sie somit zu vereinfachen wie auch zu beschleunigen. Durch Synchronisation mit dem Smartphone der Patient*in, das die App jederzeit zugänglich sein lässt, funktioniert der zur Verfügung gestellte Dienst ganz nach dem auf dem Poster beworbenen Motto: „Wenn Papierkram zur Fingerübung wird. Mit der TK-App Anliegen einfach digital erledigen.“

Das Poster zeigt einmal mehr, inwiefern Versicherte durch die, im Versprechen spielerische, Nutzung digitaler Angebote wie der App als mündige Versicherte konstituiert werden. Dass Finger dabei ins Zentrum von Gesundheitssystemen rücken, zeigt auch ein entsprechender Werbetrailer auf der TK-Homepage, der die unterschiedlichen Funktionen der App genauer beschreibt. Noch bevor man den Play-Button des stillstehenden Trailers mit der Maus anklickt, sieht man im Standbild ausschließlich Finger. Zu sehen ist ein montiertes Bild. Es besteht aus drei Versionen desselben Bildes, das mehrmals hintereinander erscheint; mit dem Effekt, dass auf der linken Seite drei Daumen zu sehen sind und auf der rechten Seite drei mal vier Fingerspitzen von Zeigefinger, Mittelfinger, Ringfinger und kleinem Finger. Die Finger rahmen das Smartphone, oder anders: Die Finger halten und stabilisieren das Smartphone, auf welchem die TK-App installiert werden soll.

Die Verwendung des Begriffs Übung lässt die Tätigkeit der Finger nicht das sein, was es ist, schließlich nehmen Versicherte den Krankenkassen bei der Bedienung und Anwendung von Gesundheits-App tatsächlich Arbeit ab—was nicht heißt, dass eHealth-Strategien nicht andere oder gar Mehrarbeit anfallen lässt. Der Begriff Übung jedoch, der sich zunächst einmal auf die Übungs- und Trainingseinheiten beziehen vermag, durch den der routinierte Umgang und ein Können mit der Applikation eingeübt und hergestellt werden soll, stellt sich passgenauer als Arbeit heraus, wenn man die Übung als ständige Performance begreift. Performance erst lässt Patient*innen überhaupt mündig sein und sie als solche begreifen, indem sie als Versicherte stetig in Behandlungs-, Präventiv- und Früherkennungsmaßnahmen eingeschlossen werden, daran aktiv teilnehmen und via Smartphone teilhaben können.

Die Übung also muss umgedeutet werden, was sich unter Bezugnahme auf einen Text von Thomas Lemke unternehmen lässt. Lemke argumentiert, dass unser Alltag heute vom Imperativ des Testens geprägt ist. Dies zeige sich nicht nur am institutionalisierten Bedarf Lebensmittel, Gegenstände, Prozesse, Situationen, Messwerte, Arbeitnehmer*innen und Führungskräfte usw. zu testen, sondern auch im Imperativ sich selbst in seiner Leistungsfähigkeit zu testen. Performance zielt auch darauf ab, Arbeitsfähigkeit und Immunität herzustellen und zu erhalten. Selbst-Tracking-Funktionen, wie sie in den eHealth-Services der Krankenkassen implementiert sind, verdaten unseren Körper, produzieren also Daten über und mit uns, Daten die wir selbst konsumieren.

Raffinieren von Daten durch Zeigefinger

Ein weiteres Beispiel für Fingerarbeit möchte ich anhand eines YouTube-Videos skizzieren. Das Eingangsbild (hier zu sehen)zeigt zwei Angestellte von Booz Allen Hamilton, der US-amerikanischen Beratungsfirma, die als Edward Snowdens ehemaliger Arbeitgeber Bekanntheit erlangt hat. Die Firma begleitet Geheimdienste, staatliche Institutionen und privatwirtschaftliche Akteure dabei, gesammelte Daten verwertbar zu machen; d.h. Daten werden für Menschen als Wissen zugänglich gemacht, werden u.a. in Bilder und Sprache und weitere Texte, ja weitere Daten übersetzt.

Die Zeigefinger der beiden Datenanalysten spielen in dem Bild eine zentrale Rolle. Das Bild zeigt, inwiefern Infrastruktur- und Datenexpert*innen ihre Indexfinger nutzen, um im beiderseitigen Austausch über die Datenvisualisierung Aufmerksamkeit auf einzelne Datenpunkte zu lenken. Indem die Experten den Finger ähnlich eines Laserpointers zum Einsatz bringen, lenkt der Zeigefinger die Blicke derjenigen, die auf den Bildschirm blicken. Die Betrachter*innen sind so gesehen auch im klassischen Sinne Zuschauer*innen, die auf ihren externen Bildschirmen Bilder konsumieren. Der Finger navigiert den Konsum dieser komplexen Darstellungen und lenkt die Richtung, wie und wann einzelne Elemente der komplexen Visualisierung berücksichtigt werden.

Auf diese Weise werden Daten der kapitalistischen Wertschöpfung durch Kommunikation und mithilfe des Zeigefingers als Kommunikationsmittel überhaupt zugänglich gemacht. Sie werden mithilfe des scheinbar beiläufigen und doch täglich ausgeführten Akts des Zeigens auf und des Berührens von Bildschirmen als Rohstoff raffiniert. Diese Beobachtung lässt sich etwa an Nick Srnicek’s Ausführungen in Plattform-Kapitalismus binden, wo herausgestellt wird, dass Daten nicht gleich Wissen und Wert bedeuten, sondern zunächst bearbeitet, analysiert und schließlich kommuniziert werden müssen. Um Daten zu konsumieren, müssen wir sie kommunizieren. Diese kommunikative Arbeit wird mitunter durch den Zeigefinger angeleitet.

Es macht einen Unterschied, Fingerarbeit zu denken

Nicht erst digitale (digitus, lat. (Zeige-)Finger) Medientechnologien machen Fingerarbeit sichtbarer. Für als immateriell begriffene Bildungs- und Wissensarbeit ist der Finger zentrales Arbeitsinstrument. Sei es, dass der Finger im Buch die Unterbrechung der Lektüre markiert, sei es, dass der Finger beim Lesen und Lernen einer Sprache und Schrift hilft, nicht in der Zeile zu verrutschen oder sei es, dass der Finger zum Zählen genutzt wird.

Der Cambridge-Analytica Whistleblower Christopher Wylie argumentiert in Mindf*ck, dass „[j]eder Scroll, jede Bewegung, jeder Like“ von Facebook aufgezeichnet wird und das Soziale Netzwerk gerade dadurch zu einer Überwachungsmaschinerie werden lässt. Diese Tätigkeiten werden mit unseren Fingern ausgeführt.

Gegenwärtig macht die Covid-19-Pandemie Fingerarbeit sichtbarer. Im Auftrag der Reinheit, Sauberkeit und Hygiene werden beispielhaft Menschen vorm Eintritt in ein Geschäft mit Handklickern gezählt. Terminbuchungen für Schwimmbäder, Bibliotheken, Kinos, Museen via Online-Ticketsystemen führen wir routiniert durch. Genauso ist der Umstand von Zuhause aus zu arbeiten und in die Tasten zu hauen normal geworden, was jedoch auch schon vor der Pandemie mit dem wieder und wiederversendeten GIF der schnellsten Katze, die auf den Laptop schreiben kann, lustig stilisiert wurde.

Jeder einzelne unserer Finger muss als Körperteil gedacht und analysiert werden, durch welchen die Transformation von Arbeitspraktiken und -gewohnheiten parallel zu einer Transformation des Kapitalismus kenntlich wird. Die diese Transformation begleitenden in Erscheinung oder in den Hintergrund tretenden Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten von Fingerarbeit können hierfür als zentrale Denkraster angewandt werden, um schließlich die sich ebenfalls in der Transformation befindlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse einer kritischen Analyse zu unterziehen.

Anhand des Aufeinandertreffens von Un- und Sichtbarkeiten können meines Erachtens nach Wahrnehmungslogiken erörtert werden, die wichtig sind, um Selbstverständlichkeiten und Automatismen in unserem Alltag zu begreifen, die unser Handeln bestimmen. Diese Perspektive ist wichtig und erlaubt es folglich, Aufmerksamkeitsökonomien, gerichtete und gelenkte Wahrnehmungslogiken zu erkennen, die unser Verständnis von Arbeit und entlohnter Arbeit prägen. Diese Verhältnisse herauszustellen und sie durch Beschreibung allein etwa sichtbarer zu machen genauso wie sie zu benennen und zu diskutieren, ermöglicht eine kritische Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Bedingungen menschlicher Arbeit.

Anm. d. Red.: Die Autorin wird als Workshop-Gast bei der Jahreskonferenz der Berliner Gazette mit dem Titel SILENT WORKS zugegen sein, die vom 12. bis 14. November im Haus der Statistik stattfinden wird. Alle Infos zum Programm und zu Anmeldemöglichkeiten finden Sie hier.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.