Umweltgerechtigkeit? Wie “grüner” Extraktivismus Sesshaftigkeit in der nomadischen Mongolei forciert

Die herrschende Klasse der Mongolei hofft, eines Tages das nächste Saudi-Arabien zu werden, denn Kupfer ist das “neue Öl” im Zeitalter des “grünen Kapitalismus” – und davon hat das Land eine ganze Menge. Die Umwälzungen, die das Land im Zuge des kapititalistischen Raubbaus durchläuft, treffen nicht zuletzt die zahlreichen Nomad*innen, deren bedrohte Existenz zu einem Ausgangspunkt für Kämpfe gegen den ökonomisch-ökologischen Komplex werden kann, wie die Künstlerin und Aktivistin Shuree Sarantuya in ihrem Beitrag zur BG-Textreihe “After Extractivism” zeigt.

*

Die Stadtbewohner*innen werden obdachlos, wohnungslos und staatenlos, während die nicht-sesshaften Bevölkerungsgruppen sich modernisieren, um sich wirtschaftlich abzusichern. Diese Re- und De-Nomadisierung hat viele Gründe, so unterschiedlich wie gewaltsame Urbanisierung, die Verlockungen des Komforts, kapitalismusbedingte Umweltkatastrophen und die Einhegung von Ressourcen. Die “barbarischen” Großstädter*innen beeilen sich, Verträge zu unterzeichnen, ohne die Bedingungen zu lesen. Gleichzeitig verwildern die Armen in den Städten auf Parkplätzen, unter Brücken oder zwischen Autobahnen.

Während eines Schüleraustauschs in Shanghai erkundigte sich eine Kassiererin in einem Supermarkt nach meiner Nationalität. Als ich ihr erklärte, dass ich aus der Mongolei stamme, fragte sie, warum “wir heutzutage plötzlich so viele seien.” Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration “lebt jede*r elfte Mongol*in aus wirtschaftlichen Gründen im Ausland.” Wenn man kann, studiert, lebt und arbeitet man im Ausland, so wie ich das Privileg hatte, dies zu tun. Die immobilen Stadtmongol*innen äußern jedoch ihre Frustration über einen “Pop-up-Jugendprotest” oder gar einen ausgewachsenen “Aufstand” auf Grund der derzeitigen wirtschaftlichen Probleme. Der größte Teil des finanziellen Erfolgs der Mongolei stammt von Unternehmen, die im Bereich “Handel und Dienstleistungen oder im Bergbau und Steinbrüchen” tätig sind. Dennoch kann die gesamte Nation die Kämpfe der jungen Generation nicht verstehen und ist nicht in der Lage, selbst Lösungen zu finden.

Sesshaftigkeit durch Arbeitsextraktivismus

Während der “politischen Unterdrückung” hat die Mongolei fast drei Prozent ihrer Bevölkerung verloren, vor allem buddhistische Mönche. In dieser Zahl nicht enthalten sind diejenigen, die nach China und Russland geflohen sind, vermisst werden oder ihre Identität geändert haben, sowie diejenigen, die in Gulags geschickt wurden. Indem sie ein Satellitenstaat der UdSSR wurde, sicherte sich die Äußere Mongolei (Staat Mongolei) ihre Unabhängigkeit von China, dass sich die Innere Mongolei (Autonome Region Chinas) einverleibte. Offiziell war die Mongolei “nie Teil der Sowjetunion”, dennoch hört man in der Hauptstadt häufig das Wort “wir”, wenn man über Stalins und Putins Russland spricht. Die Repression als Instrument der Sesshaftmachung war bemerkenswert effektiv. In kurzer Zeit schienen sich alle unter dem Versprechen einer modernen Nation zu vereinen. In der zeitgenössischen Sichtweise werden Menschen, die nicht sesshaft sind, als “Mowgli” betrachtet, der von irgendjemandem aus einem Dschungel vor Wildheit und Bestialität gerettet werden müssen. Indem man feststellt, wer nicht geeignet ist, sich zu integrieren, kann die Mehrheit in die Stadt eilen, in der alle gleich sind und einem echten modernen Menschen gleichgestellt sind.

Artwork: Colnate Group (cc by nc)

In der Hauptstadt Ulaanbaatar, die von der UdSSR und der Mongolischen Volksrepublik gemeinsam erbaut wurde, siedeln die Einwohner*innen Schulter an Schulter. In der modernen Metropole – gemischt mit dem sowjetischen “Plattenbau” – sagen die Menschen “wir” und meinen damit die Stadtbewohner, und blicken auf die “die” herab, die in den ausufernden Slums rund um das Stadtzentrum leben. Der “Jurten-Bezirk” ist eine organisch entstandene, sesshafte Siedlung von Nomad*innen, die zwar dauerhaft immobil sein wollen, aber keinen Zugang zu Wohnraum haben. Die Slumbewohner*innen kamen gezwungenermaßen oder freiwillig hierher, weil der Rest des Landes nicht wirklich großstädtisch ist.

Heute leben halbnomadische Hirten immer noch in der Wildnis und werden zur Sesshaftigkeit gedrängt, weil sie keine modernen Lebensgrundlagen wie ein sicheres Einkommen, Bildung und Gesundheitsversorgung haben. In den letzten zehn Jahren treten immer häufiger extreme Wetterereignisse auf, die das komplexe Ökosystem des Landes stören. “Die Überbeanspruchung der Weideflächen durch Kaschmirziegen” begünstigte die Monoviehhaltung, was zu einer verheerenden Versteppung des Graslandes führte. Der Rest der Welt bot den letzten Nomad*innen der Mongolei nur zwei Möglichkeiten. Entweder immobil durch Eigentum – der Traum eines Einwohners Ulaanbaatars ist es, ein Haus oder eine Wohnung zu besitzen. Oder immobil durch Sicherheit – durch Beschäftigung in Handel und Dienstleistung oder in Bergbau und Steinbruch.

Sesshaftigkeit durch Kupferextraktivismus

Bevor ich die Mongolei verließ, zogen einige meiner Bekannten, die Mitte zwanzig waren, nach Süd Gobi, um in der kürzlich eröffneten Kupfermine “Oyu Tolgoi” zu arbeiten, da es in der Hauptstadt kaum gut bezahlte Arbeitsmöglichkeiten gab. Durch die Arbeit in der Mine erhält der/die Arbeitnehmer*in ein stabiles Einkommen, die Möglichkeit, sich weiterzubilden, tägliche Mahlzeiten und Snacks, eine Betriebswohnung und sogar ein Auto. Da die Umgebung abgesehen von einigen wenigen Städten, anderen Minen, wilden Tieren und nomadischen Hirten mitten im Nirgendwo liegt, ist der Campus der Kupfermine ein wahres Shangri-La. Nach Angaben des größten Anteilseigners “Rio Tinto” ist “Oyu Tolgoi das größte von Menschenhand errichtete Bauwerk in der Mongolei. Es ist auch das größte bekannte Kupfer- und Goldvorkommen der Welt. “ Das ganze Land hofft, eines Tages das nächste Saudi-Arabien zu werden, denn Kupfer ist das “neue Öl” im Zeitalter des “grünen Kapitalismus”. Während die Wohlhabenden der Welt ein umweltfreundliches Leben anstreben, gehen die Entwicklungsländer mit “liquiden” Investoren, die eine “langfristige” Zusammenarbeit versprechen, in einen “soliden” Extraktivismus über. Insbesondere im Bergbau gibt es keine Dauerhaftigkeit, da alle Minen an Altersschwäche zugrunde gehen.

Im Zuge der Covid-19-Pandemie und der Invasion in der Ukraine hat die “Inflation” in der Mongolei einen hohen Tribut an das “Wir” und “Die” in Ulaanbaatar gefordert. Die Mongol*innen des 21.Jahrhunderts sind in Bezug auf Lebensunterhalt, Energie und Pharmazeutika völlig von der Offenheit ihrer beiden Grenzen abhängig. Die Mongolei ist nicht nur reich an Metallen und Mineralien, sondern verfügt auch über “dreiundzwanzigmal” mehr Vieh als die drei Millionen Einwohner*innen. Man könnte sogar sagen, dass das Vieh ein besseres Leben hat als der Mensch, weil zumindest Nahrung und Wasser sicher sind. Dennoch sind die Lebensmittelpreise in der Stadt so hoch, dass man sie sich nicht mehr leisten kann. Im Juni 2022 kostete 1 Liter abgepackte Milch in einem Supermarkt in Ulaanbaatar ca. 1,10 Euro, Deutschland hingegen hat einen günstigeren Preis. Wie kann es in einem Land mit Millionen von Nutztieren zu einer Ernährungsunsicherheit von solch epischem Ausmaß kommen?

Vom kolonialen zum kolonisierten, vom feudalen zum sozialistischen, vom nomadischen zum kapitalistischen Land – die Mongolei des 20. und 21. Jahrhunderts ist in ständiger Verspätung und Eile. Auch die jungen Erwachsenen in der Mongolei hatten nur zwei Alternativen – entweder in ein anderes Land umzuziehen oder zu warten, bis die westliche “Moderne” sie eingeholt hat. Die Kupfermine ist ein “Tempel” der Hoffnungen und Träume derjenigen, die die Mongolei nicht verlassen konnten. Die Metall- und Mineralerze sind unter der Erdkruste verborgen und wurden von den Nomad*innen jahrhundertelang ignoriert oder vergessen. Als sie einmal innehielten und ihr Land betrachteten, sahen sie nur Reichtum und Reichtümer, die von jemandem abgebaut werden mussten.

“Re-Wilding” nach dem Extraktivismus

In Chloe Zhaos Film “Nomad Land” aus dem Jahr 2020 (nach dem gleichnamigen Buch von Jessica Bruder) können wir den Übergang des Westens von “der festen zur flüssigen Moderne” erleben, der zu einer armutsbedingten Re-Nomadisierung der sesshaften Menschen führt. Re-Nomaden sind nur wohnungslos, nicht obdachlos, weil sie Zugang zu Mobilität und zu beweglichem Wohnraum haben. Für die Menschen im Osten ist erschwinglicher Wohnraum in dicht besiedelten Metropolen, die sich gewaltsam ausbreiten, ein Problem. In Peking leben Menschen in alten Luftschutzbunkern, in Südkorea gibt es winzige “Gosiwon”-Wohnungen und in Japan “Doya-gai”-Slumunterkünfte für Männer. Während die Nomad*innen sich beeilen, ihre Zelthäuser in Brand zu stecken, ist der Rest Ostasiens in städtischen Siedlungen eingepfercht und hat keine Möglichkeit, sich wieder zu verwildern.

Für Nomad*innen ist die Heimat das Land, und ein Haus ist nicht mehr als ein Unterschlupf – “eine Jurte oder ein Tipi”. Während die teilweise verstädterte Mongolei damit beschäftigt ist, den Anschluss an die Moderne und ihre neuesten Entwicklungen zu finden, sieht niemand die Warnzeichen der Zukunft. Wegen der Eile haben die Nomad*nnen einen Wandel durchgemacht. Einige wurden zu “Techno-Nomad*innen”. Diese neuen Nomad*innen sind mit den neuesten Geräten ausgestattet, leben autark mit sauberer Energie und sind unabhängig vom Netz, ohne von dem Rest der Welt abgetrennt zu sein. Darüber hinaus ist die Entstehung der “Techno-Nomad*innen” ein direktes Ergebnis der Abnormalität der territorialen Extreme, wie Größe, Klima und Landschaft, die das Land davor bewahrt, sich an eine völlig unnatürliche Umgebung anzupassen.

Heute winken wirtschaftlich unterlegene, aber ressourcenreiche Länder mit der Hand, um die alten sesshaften Nationen einzuladen, die ihre Ressourcen erschöpft haben und dadurch sie wohlhabend wurden. Die Ausbreitung der Monokulturen in den Ländern der so genannten Dritten Welt bedeutete die Abschaffung der Sicherheit zwischen den Generationen. Territorien werden unter dem Gesichtspunkt der Sesshaftigkeit genutzt, entsorgt und re-habilitiert. Diese Eindimensionalität projiziert eine Mono-Zivilisation, die ihre primären Ressourcen aus parasitärem Extraktivismus bezieht. Das anglo-australische Unternehmen “Rio Tinto ist in fünfunddreißig Ländern tätig” – von Diamanten bis Aluminium, von Südafrika bis Kanada. Die meisten seiner Minen und Schmelzwerke beschäftigen ethnische Minderheiten, Ureinwohner*innen, Aborigines und Nomad*innen. Für diese Menschen bedeutet eine stabile Wirtschaft, dass sie Anspruch auf ihre Landrechte haben, dass sie ihr kulturelles Erbe oder die Tierwelt bewahren, dass sie die Jugend oder die abgewanderte Bevölkerung zurückgewinnen und dass sie in ihren Gemeinschaften langfristig sicher sind. Während die endgültige Sesshaftwerdung der Nomad*innen abgeschlossen ist, erlebt der Rest der Welt gleichzeitig ein erzwungenes und freiwilliges Nomad*innentum. Wann sagen wir den Menschen, die gerade die letzten zwei Generationen mit der Urbanisierung verbracht haben, dass dies eine Sackgasse ist und wir umkehren müssen?

Anm.d.Red.: Dieser Text ist ein Beitrag zur Textreihe “After Extractivism” der Berliner Gazette; die englische Version ist auf hier verfügbar. Weitere Inhalte finden Sie auf der englischsprachigen “After Extractivism”-Website. Werfen Sie einen Blick darauf: https://after-extractivism.berlinergazette.de

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..