25. Mai 2003, frueher Nachmittag: Ich habe kaum geschlafen, jedenfalls nicht genug und mein Zustand wird abgerundet durch einen Kater. Am Tag davor habe ich auf dem Geburtstag eines Freundes Unmengen von Alkohol getrunken, was ungewoehnlich ist fuer mich. Jetzt sitze ich am Abhang des Mauerparks und rede mit Nico.
Ich bin ein wenig benommen, aber total konzentriert, fast wie in Trance. Meine Augen oeffnen sich ganz weit nach Innen und ich beginne von Ullersdorf zu erzaehlen: >Es ist eine wirklich perfekte Kindheit gewesen. Ich haette es mir nicht anders wuenschen koennen. Ich meine, versteh mich nicht falsch, klar kann ich mir vorstellen, in Brasilien geboren zu werden als Kind von schwedischen Eltern und ich kann mir auch vorstellen in Fortaleza oder in Kapstadt aufzuwachsen, aber was ich meine ist: Ich bin einfach dankbar dafuer, in Ullersdorf aufgewachsen zu sein. Dankbar wie man nur dem Leben dankbar sein kann. An Gott glaube ich ja nicht.< Nico sagt nichts, er hoert nur zu. >Es war einfach alles da, was ich haette mir wuenschen koennen. Das Dorf, in dem nicht mehr als 1000 Menschen lebten, liegt in einem Tal. Es ist umgeben von Bergen. Sie sind nicht allzu hoch, aber hoch genug um den Blick zu versperren auf die anderen Doerfer und Taeler. Rings um uns herum ist Natur, es gibt Wiesen und Waelder. Alles so satt und friedlich. Wir hatten ein Grundstueck, auf dem Obstbaeume standen. Im Sommer hat mir das Kirschenpfluecken besonders viel Spass gemacht. Im Winter sind wir immer an irgendeinem Abhang Schlitten gefahren. Ich habe es sogar mal mit Skiern versucht. Wir hatten einen Schaeferhund, der den Schlitten gezogen hat. Davon gibt es sogar noch irgendwo Bilder. Dann gab es da den Fluss. Der war wirklich grandios, weil er an einer Stelle zu einem Wasserfall wurde. Unten war das Wasser so flach, dass man da rumlaufen konnte. Das Ganze war wie ein gigantischer Abenteuerspielplatz. Es ist kaum vorstellbar, aber fuer ein Kind war es die perfekte Idylle.< Ich schaue ins tiefe Himmelblau. Mir ist, als wuerde ich in meine Vergangenheit blicken. Thomas Mann hat einmal gesagt, das Meer ist die ausgelagerte Seele des Menschen, vermutlich liesse sich das Gleiche vom Himmel sagen. Dann sage ich: >Vermutlich idealisiere ich Ullersdorf. Vielleicht mache ich es in meinem Gedaechtnis zu einem unantastbar-reinen Ort des Friedens und der Unberuehrtheit, zu einem Ort, den es nicht gibt. Zumindest nicht mehr. Vor einigen Jahren war ich ja wieder dort und ging an einem Nachmittag spazieren. Auf den ersten Blick fand ich alles recht trostlos, alles so matt und grau. Nichts schien geblieben von der Idylle, nichts war beim Alten. Erst langsam begann ich zu registrieren, dass sich tatsaechlich Einiges seit meinem letzten Aufenthalt, der etliche Jahre zuruecklag, veraendert hatte: Kioske in knalligen, bunt-bloeden Farben standen am Rand der Strasse, die zum Friedhof fuehrt. Und, nebenbei gesagt die einzige Landstrasse ist, die durch das Dorf fuehrt und aussieht wie der Ku´Damm fuer Arme. Nicht, dass dort so viele tolle Geschaefte hingezogen waeren. Es waren vielleicht nur drei, vier, maximal fuenf. Absurd war nur, dass alle im Grunde das gleich Sortiment hatten und das Dorf wirklich nicht so viele Kunden aufbieten kann. Absurd war auch, wie die Dinger aussahen, jedenfalls passten sie ueberhaupt nicht ins Bild, zumindest nicht in mein Bild. Dann kam ich an der Kirche vorbei. Etwas frueher war mir bereits aufgefallen, dass links und rechts freiliegende Flaechen etwas verwuestet aussahen. Als ich die Bruecke passierte, die schraeg gegenueber der Kirche lag, bzw. liegen sollte, wusste ich auch warum. Die Bruecke war nicht mehr da. Dann fiel es mir auch wieder ein, dass die andere Bruecke, an der ich vorbeigegangen war, irgendwie anders aussah, neu. Dann der Schritt hinter die zur Strasse gelegene Haeuserfront: Anstelle von Einfamilienhaeusern standen da dunkelrote Container. Traurige, dunkelrote Container, mit traurigen Gardinen an den Fenstern. Beim Gang zur Schule kam ich sogar an Ackern und Feldern vorbei, wo ganze Container-Siedlungen entstanden waren. Weisst Du<, sage ich schliesslich zu Nico, >ich denke, Ullersdorf ist symptomatisch fuer die Globalisierung.< >Das Gefraessige dieses Prozesses kommt hier so gut zum Ausdruck. Es gibt keinen Halt, keine Grenze. Alles muss sich die Globalisierung einverleiben. Ja, ich personalisiere diesen Prozess jetzt, schliesslich ist er ein Monster. Wie die Flut bricht dieses Monster ueber alles herein. Du verstehst jetzt vielleicht die persoenlichen Motive, mich mit diesem Thema beruflich auseinander zu setzen. Es ist halt alles sehr schmerzlich. Umso schmerzlicher als dass ich denke, dass wir Kontrapunkte brauchen. Das Weltsystem kann und darf nicht ohne Gegenpol sein. Von dem Anderen kann man immer lernen, es stellt einen essentiellen Reibungspunkt dar. Ohne diesen Reibungspunkt sind wir verloren. Guck Dir Afrika an. Dort funktioniert selbst Zeit anders. Menschen haben einfach ein anderes Empfinden dafuer. Das sind Menschen, von denen wir lernen koennen. Auch in Polen gibt es noch solche Zonen. Zonen, die noch nicht Teil des westlich-kapitalistischen Systems sind. Zumindest gab es sie mal. Ich war ja schon laenger nicht mehr dort.< Zumindest gab es sie mal, denke ich. Ich war ja schon laenger nicht mehr dort. Dann gucke ich wieder in den Himmel. Mir ist noch immer ein bisschen delirioes zumute. Als wuerde ich noch traeumen.