Berlin ist für Immigranten weniger ein Tor zum Osten als eins zum Westen, sagt taz-Redakteur Uwe Rada und beschäftigt sich mit dem deutsch-polnischen Grenzgebiet.
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Eigentlich kommt man in Berlin gar nicht drum herum, sich mit Polen und Osteuropa zu beschaeftigen. Obwohl die Berliner seit dem Fall der Mauer lieber in den Westen geschaut haben, hat sich die Stadt doch weitaus mehr aus Richtung Osten veraendert. Mittlerweile leben in Berlin mehr als 130.000 Menschen mit polnischer und etwa 100.000 Menschen mit russischer Muttersprache. Dazu kommen noch die zahlreichen polnischen Pendler und Schwarzarbeiter, die ebenfalls in die Zehntausende gehen. Mit dieser Osterweiterung der Stadt geht auch eine Veraenderung der Alltags- und oekonomischen Kultur einher.
Berlin ist nicht, wie so oft betont, ein >Tor zum Osten< fuer westliches Kapital und Knowhow geworden, sondern ein >Tor zum Westen< fuer Menschen aus Osteuropa, eine Grenzstadt, in der es, wie in allen Grenzstaedten, auch rau zugeht: Berlin ist ein Laboratorium fuer neue Lebensentwuerfe, Unternehmungen und Existenzsicherungen geworden. Das alles einmal aufzuschreiben, habe ich in meinem 2001 erschienenen Buch >Berliner Barbaren. Wie der Osten in den Westen kommt< versucht. Und ich habe selbst begonnen, mich auf diese neue Situation einzulassen, in dem ich 1999 begonnen habe, Polnisch zu lernen. Das kommt mir mittlerweile in meiner Arbeit fuer die taz zugute, fuer die ich seit 1992 als Redakteur arbeite.
Es hat mir aber auch fuer mein neues Buch >Zwischenland. Europaeische Geschichten aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet< geholfen und fuer die Veranstaltungsreihe >Werkstatt Europa
>Werkstatt Europa< haengt mit der Entstehungsgeschichte von >Zwischenland< zusammen. Auf meinen Erkundungen im deutsch-polnischen Grenzgebiet bin ich immer wieder darauf gestossen, dass hier im Zwischenland zwischen Deutschland und Polen, Ost und West, >altem< und >neuem< Europa,
Vergangenheit und Zukunft etwas Neues entsteht. Dass das Grenzgebiet auch ein grosses Labor ist, in dem wichtige Fragen der Zukunft gestellt werden. Zum Beispiel die, wie man in den kuenftigen Peripherien Europas lebt, und die Grenze zweier Staaten nicht als etwas Trennendes empfindet, sondern als etwas, das es zu ueberwinden gilt, um sich gemeinsam auf die Krisensituation einzustellen.
Dazu gehoert meines Erachtens auch die Forderung der deutschen Buergermeister im Grenzgebiet, den Arbeitsmarkt sofort fuer polnische Arbeitnehmer zu oeffnen. Diese und andere Themen sollten in dieser >Werkstatt Europa
Sowohl bei der bisherigen Veranstaltungen der >Werkstatt Europa< als auch bei den Recherchen zu >Zwischenland< habe ich festgestellt, dass in der deutsch-polnischen Grenzregion laengst neue Grenzen entstanden sind, die oft quer zur staatlichen Grenzziehung zwischen Deutschland und Polen verlaufen. So richten zum Beispiel die Goerlitzer alle Hoffnungen auf eine gemeinsame Stadtentwicklung mit Zgorzelec, in Vorpommern schauen die Menschen voller Hoffnung auf die polnische Grossstadt Szczecin und in Frankfurt und Slubice verlaeuft die Grenzziehung inzwischen zwischen den Pionieren von Slubfurt, also Kuenstlern und Studenten, die beide Staedte bereits als einen Stadtraum ergreifen, und denen, die sich noch immer hinter dem vermeintlichen Schutz der Grenze verschanzen.
>Zwischenland< war im Grunde die logische Weiterentwicklung von >Berliner BarbarenZwischenland< auch als Reiseliteratur ueber Staedte und Regionen lesen kann, die sowohl in Berlin als auch in Poznan oder Warschau weitgehend unbekannt sind.
Die Entwicklung der Grenzregion ist eine Entwicklung, die vor allem mit der Oeffnung der Grenzen fuer den visafreien Reiseverkehr 1991 einen grossen Schub erfahren hat. Seitdem sind die Grenzen faktisch offen. Seitdem arbeiten polnische Pendler in Berlin und im grenznahen Raum, seitdem bieten sie – oft illegal – ihre Dienstleistungen an. Ein Grossteil der Osterweiterung und auch der Migration hat also bereits stattgefunden, so dass sich am 1. Mai mit dem Beitritt Polens zur EU nicht allzuviel aendern wird. Ein weiterer Schub wird dann die Gewaehrung der Arbeitnehmerfreizuegigkeit und der Dienstleistungsfreizuegigkeit nach Ablauf der Uebergangsfrist sein, mit der allgemein in zwei Jahren gerechnet wird. Den Beitritt Polens zu Schengen und damit den Wegfall der Grenzkontrollen erwartet man fuer die Zeit zwischen 2007 und 2011.
Wie sich die Grenzregion darueber hinaus entwickeln wird, ist schwer zu beantworten. Immer wieder gibt es Warnungen davor, dass das Zwischenland wirtschaftlich uebersprungen werden kann. Wahrscheinlicher ist aber eine Entwicklung, bei der sich der bisherige Trend einer Herausbildung hoechst unterschiedlicher Raeume verstaerken wird. Frankfurt und Slubice werden aufgrund ihrer Hochschuleinrichtungen Teil eines Netzwerks von Berlin nach Poznan, von Stettin nach Potsdam, von Dresden nach Breslau. Goerlitz und Zgorzelec werden fuer den Tourismus nach Schlesien sehr wichtig. Stettin wird sich als Oberzentrum entwickeln, waehrend andere Regionen, wie zum Beispiel Guben und Gubin oder auch Kuestrin sich selbst ueberlassen bleiben. Dabei gibt es aber immer auch Moeglichkeiten, mit EU-Geldern steuernd einzugreifen. Inwieweit das die polnische Regierung tun wird, ist offen. Es gibt auch Kritiker, die befuerchten, die Regionalmittel aus
Bruessel werden zum groessten Teil nach Ostpolen gehen.
Generell ist die EU-Erweiterung eine Entwicklung, die viele Chancen bringt, aber auch viel von den Menschen fordert, nicht nur in Osteuropa, sondern auch bei uns. Das faengt schon bei der Blickrichtung an. Nur wer sich den neuen Herausforderungen stellt, wird auch von ihnen profitieren koennen.
Das faengt bei der Sprache an und hoert bei dem Akzeptieren unterschiedlicher Mentalitaeten nicht auf. Was fuer mich darueber hinaus sehr wichtig ist: Vor dem Hintergrund neuer Irritationen im deutsch-polnischen Verhaeltnis [Irakkrieg, EU-Verfassung, Zentrum gegen Vertreibungen] ist die Grenzregion als Seismograf fuer die Beziehungen besonders wichtig. Gerade hier, in den Alltagsbegegnungen entstehen die Bilder voneinander, nicht nur in Warschau und Berlin. Auch was die Entwicklung der zivilgesellschaftlichen Kontakte zueinander angeht, koennte die Grenzregion fuer die uebrigen Regionen der beiden Laender ein Vorbild sein. Im Zwischenland ist man manchmal weiter als dort, wo alles geordnet scheint.