Tommy will Ingenieur werden. Und das geht besser, wenn man vorher noch ein bisschen Krieg gespielt und frueh aufzustehen gelernt hat. Zumindest, wenn es nach seinen Eltern geht. Wenn es nach Tommy geht, geht das mit dem Disziplinlernen so: Man wird UN-Soldat und “Runter geht’s ins Jugoland / Schnappst dir dort ein Weib / Rein mit deinem dicken, fetten, grossen Schwanz / Bis sie schliesslich schreit.”
>Tommy< tritt im Studio der Schaubuehne auf. Die Bestuhlung ist im Carrée angeordnet, man sitzt sich recht nah gegenueber, Wohnzimmerintimitaet. Aus den ersten Publikumsreihen springen die Darsteller nacheinander auf, treten in die Mitte, geben ihre Wortmeldung ab, um anschliessend bis zum naechsten Auftritt wieder im Plenum zu verschwinden.
Sind wir nicht alle ein bisschen Blauhelmsoldat? Bei YouTube zeigt die Schaubuehne Passantenbefragungen zum Thema, auch, was eigentlich die Aufgaben von Blauhelmen seien. Die Antworten lauten etwa >die sind fuer den Frieden und graben Brunnen< oder schlicht und ehrlich >keine Ahnung<. Tommy graebt keine Brunnen, zeigt >denen da unten< auch nicht, >wo es lang geht<, sondern wird von Heckenschuetzen beschossen, muss wegen der strikten Neutralitaetsorder tatenlos zusehen, wie Zivilisten zur Provokation direkt am Zaun des UN-Camps hingerichtet oder Massaker zielgerichtet unter solchen Zivilisten angerichtet werden, die von der Schutztruppe medizinisch versorgt worden sind. Irgendwann bekommt Tommy deswegen >ein ganz klein bisschen Probleme mit der Potenz< und erwidert das Feuer. Kurz vor Antritt der Heimreise stirbt Tommys Freund Niels bei einem Angriff auf das Camp. Zu Hause schlaegt Tommy nur wohlwollendes Unverstaendnis entgegen, sowohl fuer den Verlust, als auch das Getoetethaben. Tommy rastet aus und schlaegt einen Vordraengler in der Pizzabude zusammen. So wird das dann auch nichts mehr mit der Offiziersschule, da bleibt nur noch die Rueckkehr zur Schutztruppe als einfacher Soldat.
Wenn die Theorie von der Friedenssicherung unter Wahrung der Neutralitaet in der Praxis zur Absurditaet geraet, erst nach drei Warnungen zurueckschiessen zu duerfen, wenn alle schon tot sind, oder dass gewisse Graeueltaten erst durch die Anwesenheit der UN-Truppen provoziert zu werden scheinen, fragt man sich nach dem Sinn von UN-Einsaetzen. Das Stueck tut das aber nicht. Es bleibt beim Thema des traumatisierten Kriegsheimkehrers stecken, der sich im Zivilleben nicht mehr zurecht findet und deshalb paradoxerweise in den Krieg zuruecksehnt. Das ist aber nun ausreichend bearbeitet, angefangen von Remarques >Der Weg zurueck< bis hin zu diversen Vietnam-Veteranen-Verfilmungen.
Form-/Inhalt-Frage: Wie sehr besteht ein Theaterstück aus einer wie auch immer nach erzählbaren Geschichte? Und wie sehr sollte die Inszenierung in Betracht gezogen werden? Ich war nach dem Stück über den Ausgang desselben schon ein wenig uninspiriert, warum, da bin ich mir nicht sicher, aber ich war begeistert von der Inszenierung im Carree in der intimnen Studiosituation!
Inhalt-/Diskurs-Frage: Wie wichtig ist es, dass ein Stück, neuen Boden betritt – auch wenn es wie hier nur um das Ende geht? Ist es da nicht vielleicht von Interesse, dass ein neues Thema – hier der UNO-Einsatz – in die Diskurstradition des Soldatenheimkehrertraumas gestellt wird? Geht es hier vielleicht nicht genau darum, sich in besagten Diskurs einzuschreiben und aus ihm heraus einen neuen Blickwinkel zu eröffnen? Leider hat mich am Ende ein wenig die Konzentration verlassen, aber ich meine, dass die spezifische Absurdität des UNO-Einsatzes als Kriegseinsatz [Krieg ist Frieden und Frieden ist Krieg wie man von Carl Schmitt ableiten könnte] auch einen neuen Heimkehrermythos, eine neue Heimkehrerprblematik aufwirft – oder?
Form-/Inhalt: Theater ist immer auf der einen Seite Stück, auf der anderen Seite dessen Inszenierung. In diesem Fall: Inszenierung im Carrée netter Einfall, ansonsten Stück zu schwach als dass Inszenierung es retten könnte. Die Carrée-Sache trägt dann doch nicht das ganze Stück.
Inhalt-/Diskurs: Mir ging es nicht nur um das Ende, sondern das ganze Stück, wenn ich sage, es nutzt seine Chance, neuen Boden zu betreten, nicht. Genau das wäre schön gewesen, die Soldatenheimkehrersache auf die UN-Einsatz-Sache zu erweitern. Die Richtung funktioniert in diesem Stück aber nur andersrum, das Absurde der UN-Einsätze führt zu einer “neuen” Facette des Heimkehrer-Traumas, aber sollte dieses neue Heimkehrertrauma nicht auch wiederum auf die Frage nach Sinn, Zweck und Möglichkeiten von UN-Einsätzen hinweisen? Das tat das Stück für mich nicht.
Inhalt-/Diskurs: Aber um wessen Ansprüche geht es? Kann es gehen? Wenn das Stück in erster Linie den Anspruch zu haben scheint, sich in besagten Diskurs einzuschreiben und eine neue Facette darin zu beleuchten, dann ist dies doch eine Leistung, die es zu würdigen gilt. Man kann seine Hoffnungen und Erwartungen artikulieren – nur warum eigentlich? für wen tut man das? Es geht ja nicht darum, was ein Kulturprodukt nicht ist, sondern was es ist. Die Kulturkritik tut sich grundsätzlich schwer damit, was eine Sache ist. Zu oft geht es um Erwartungen.
??? Wenn die Aussage des Stücks wäre, dass Erwin aus Wanne-Eickel auch gerne mal Bundeskanzler wäre, dann wäre mir das auch neu, weil ich Erwin aus Wanne-Eickel nicht kenne, aber wäre das dann eine Erkenntnis, die ich zu würdigen hätte?
Wozu mache ich denn Theater (oder sonst jedwede “Kultur”), wenn nicht, um einen Diskurs anzustoßen oder bereichern zu wollen? Da muss ich mich dann schon fragen, womit ich die Leute erreichen kann, was also ihre Erwartungen sind, ja klar.
MICH, und für niemand anderen kann ich sprechen, ist es keinen Diskurs wert, dass UN-Soldaten genauso Traumen erleiden können wie alle anderen Soldaten. Wieso sollten sie auch nicht? Deshalb die Anführungsstriche bei “‘neue’ Facette”.
Interessant fände ich höchstens, dass das ja der Theorie der “Friedenssicherung” irgendwie zuwider läuft, denn DAS unterscheidet, UN-Soldaten von “regulären”: in einem fremden Krieg intervenieren zu sollen, aber dann bitte doch wieder nichts tun zu sollen, weil man ja neutral bleiben muss. Ist dann vielleicht der Schluss möglich, dass “Friedenseinsätze” ein absurdes Moment in sich tragen?
Ich wusste nicht, dass du Vertreter des l’art pour l’art bist. Klar haben die jedes Recht jedes Stück mit jeder Aussage aufzuführen, aber ich, und auch das kann natürlich jeder anders sehen, fände es schon cool, wenn es mir was zu sagen hätte, wenn ich es mir ansehen soll.
Und: Wozu brauchen wir Kulturkritik, wenn sie die Dinge immer einfach nähme, wie sie sind? Was soll sie dann zu sagen haben??
ich denke, man muss sich als Kulturkritiker zuerst fragen, was das Kulturprodukt will – das gewöhnliche Publikum tut dies nicht: Es geht mit Erwartungen in eine Sache rein, und wird nicht selten enttäuscht; häufig arbeiten Kulturproduzenten genau mit dieser Prämisse, weil sie das Publikum aus der Reserve locken wollen.
Als Kulturkritiker muss ich mich fragen, was ein Kulturprodukt will, damit meine ich nicht, was ein Autor (Urheber des Kulturprodukts will), sondern was es als ästhetisches Geflecht zwischen urhebern, Ausführenden, Rezipienten und Kritiker, Medien, PR-Mangern so ansstellt: welche Gestalt es annimmt und wozu es sich auf diese Weise verhält. Die Gestalt, die es hat, ist ohne diesen Kontext nicht denkbar. Dieser Kontext lässt sich auch als Diskurs beschreiben.
Hier, bei >Tommy< haben wir unter anderem den Soldaten-Heimkehrer-Diskurs und den Kriegs-Diskurs als mächtiges Gegenwartsdispositiv, ohne das wiederum unser Realitätsmodell kaum denkbar wäre. Theater hat den Anspruch vorherrschende Realitätsmodelle zu kommentieren, kritisieren und/oder zu dekonstruieren. Ich finde es okay zu sagen: "Tommy" als Stück hat mich nicht überzeugt, und es ist auch interessant dafür Gründe zu hören. Mich persönlich hat diese Art der häufig ins >Schulmeisterliche< und >Noten verteilende< gehenden Kulturkritik nie interessiert. Mir ist wichtig, etwas herauszuarbeiten. Nicht nur, weil da Leute lange Zeit geschuftet haben (was ist ihre Leistung?), sondern, weil da eben etwas Gestalt annimmt, und das müssen wir erfassen suchen, WEIL ES SONST UNSICHTBAR BLEIBT. Ich denke, auf der Form/Inhalt-Ebene lässt sich da einiges Interessante beobachten, festmachen, dass ich an dieser Stelle, freilich vor dem Hintergrund einer postumen, mehrfach vermittelten Perspektive zum Besten geben möchte. In Stichworten: Bühne als Quarree: eine mischung aus boxring und tribunal - aber: auf augenhöhe des publikums, womit die grenze zwischen publikum und performer aufgehoben wird. -> partizipation -> umkehrung der vorzeichen einer medialen inszenierung = verschiebung im realitätsmodell
Schauspieler in multiplen rollen ohne kostümwechsel: eine mischung aus versuchsaufbau, “als ob” und reinszenierung, die sich als reinszenierung zu erkennen gibt, also nicht vortäuscht, sondern nachstellt. -> offenlegung von aus der medialen inszenierung ausgeblendetem (UNO-Soldaten sind keine (negativen/positiven) Medienstars; der UNO-Krieg ein nicht medialisierter) -> partzipation (publikum wird zum mitdenken/imaginieren herausgefordert) = verschiebung im realitätsmodell
Die mehrfachen Verschiebungen im [vorherrschenden] Realitätsmodell führen zu einem Erlebnis, das Gedanken und Diskussionen auslöst [wie diese hier], das neugrieg macht [ich will mehr über die UNO-Sache wissen], das wach macht, sprich: Bewusstsein herstellt. Wenn ein Kulturprodukt das schafft, bin ich dankbar und möchte es würdigen. Als Kulturkritiker habe ich die gesellschaftliche Position, um dies zu tun.
Was die Inszenierung (Setting, Schauspieler) meiner Meinung nach leistet, habe ich hervorgehoben. DA BLEIBT ALSO NICHTS UNSICHTBAR. Dann habe ich mir erlaubt anzumerken, was mir auf der anderen Seite, vor allem auf Seiten des Stücks, fehlt, was die Inszenierung nicht wettzumachen vermag.
Wenn Du das für “schulmeisterlich” hälst, steht dir das frei.
Ich halte deinen Ansatz für relativistisch und an dem vorbei, was Aufgabe von Kulturkritik ist.