Was ist Berlin und was war es? Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki schaut zurück auf sein Berlin mit besetzten Häusern, aktivistischen Kunstprojekten und Vernissagen von Künstlern, die um Mitternacht die Bilder von den Wänden reißen ließen. Ein Berlin, in dem er sich beim Brötchen holen verlaufen hat und das heute so ganz anders ist: Hauptsache neu, protzig, billig, kommerziell. Was bleibt, ist die Gewalt und der Lärm am ersten Mai und Silvester, die Berlin zu Tinnitus City verwandeln.
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Als ich zu Beginn der 1990er Jahre im Alter von 20 Jahren erstmals Tokio betrete und dort nach und nach zu leben beginne, bin ich neu in der Welt des Unübersichtlichen und Überdimensionalen. Neu in der Welt dessen, was sich als das Ohrenbetäubende und Abstrakt-Globale wohl nur in einer richtigen Großstadt manifestiert. Und doch habe ich die Gewalt, die von einem solchen Ort ausgeht, bereits früher zu spüren bekommen.
Meine Kindheit verbrachte ich in den 1970er Jahren in Ullersdorf. In der darauf folgenden Dekade zog ich zunächst nach Bad Pyrmont und dann in das Chaostage–Scorpions–Niedersachsenstadion–Maschsee & Mövenpick-Hannover. In meinem Umfeld wussten alle: Die Musik spielt nicht hier, sondern in Berlin. Der Sound dieser geteilten Stadt speiste sich aus zahlreichen Quellen. Die wohl wichtigsten waren Begehren und Angst. Es war die perfekte Mischung, um mich in Unruhe und in Bewegung zu versetzen; um mich gen Osten über nächtliche Bundesbahnen und den Eisernen Vorhang hinweg zu führen.
Anzukommen und sich aufzuhalten in Berlin – das war die Erfahrung “einer Abwesenheit von Aufenthalt” (Maurice Blanchot). Man war in einer Stadt, in der alle wie auf Alcatraz ihren Gefängnis-Routinen nachzugehen schienen und sich zugleich so ungebunden wie auf einer Durchreise verhielten. Man war (Dauer-)Tourist und (Teilzeit-)Knacki zugleich. Der “Jailhouse-Rock”, der hier gespielt wurde, hallte noch lange nach in meinen Ohren.
West-Berlin bündelte die sonische Energie von explosiven Live-Konzerten (Bands wie No Means No in Studenten-Aulas), Sprechchören auf Demonstrationen, dem endlos scheinenden Tunnelrauschen der U2 und der Gewalt im öffentlichen Raum: Besetzte Häuser; aktivistische Kunstprojekte; Nazis nachts in der U-Bahn; Schlägereien; Übergriffe. Mehr noch als unvorhergesehene Einzelaktionen, ließ das Erwartbare den Adrenalinspiegel kippen: angemeldete Anti-Fa-Demonstrationen mit anschließenden Straßenschlachten; erster Mai in Kreuzberg.
Blood Sugar Sex Magic
Als die Mauer fiel, ging ich öfter nach Berlin und blieb für ein, zwei, drei Wochen. Charlottenburg, Nehringstraße, Film- und Fernsehproduktion für FAB, Blood Sugar Sex Magic (das Album), eine hübsche Blondine, die in Helge Schneider verliebt war und später mit einem Nordsee-ist-Mordsee-Charakter (lange, rote Haare) zusammenkam. Dann: Prenzlauer Berg, Dunckerstraße, Pastor-Performances von Leumund Cult, Hip Hop-Konzerte im Eimer, Panterra und ihr Sohn Rocky, Dead Chickens, Techno im Untergeschoss des Tacheles, unser Festival “Abschied vom Blumenhemd” im S0 36.
Immer, wenn ich morgens in den S-Bahnhof Schönhauser Allee herunter ging, um dort Brötchen zu holen, verlief ich mich im Bahnhofsgebäude. Es hatte keine intakte Architektur, sah zerbombt aus, wie eine Ruine: in sich zusammengefallen, ohne Anhaltspunkte für die Navigation. Keine Schilder, keine Ecken. Der Bäcker reichte seine Produkte über einen provisorischen Tresen.
Dann eine Ausstellungseröffnung von Jim Avignon: “Ist es dafür nicht ein wenig zu spät? Es ist bald Mitternacht!” höre ich mich noch sagen. Keine herkömmliche Vernissage. Die ganze Galerie, irgendwo im Ostteil der Stadt, war mit Avignons Bildern vollgehängt. Kein Zentimeter war frei geblieben. Punkt Mitternacht dann der Startschuss. Alle sprangen auf und machten sich an die Wände, rissen die Bilder ab. All you can eat-Style. Bis nichts mehr hing. Musik wurde lauter. Wir tanzten auf den Tischen.
Prenzlauer Bronx
Als Schröder Kanzler wurde, zog ich nach Berlin. Die Stadt: eine Baustelle. Prenzlauer Berg war “Prenzlauer Bronx” (Marius Babias), aus einer verschobenen Comic-Perspektive zumindest. Und heute, wiederum zehn Jahre später, wir schreiben das Jahr 2010, ist Berlin nicht mehr wieder zu erkennen. Allenfalls im Westen hier und da Ecken, die noch so sind wie früher.
Ich fühle mich hier nicht so vor den Kopf gestoßen wie in Tokio, wo ich beim Wiedersehen nach zehn Jahren Absenz den graduellen Wandel als Einschnitt erlebe. Von Tokio aus betrachtet, also mit der nötigen Distanz und Vergleichsebene, zeichnen sich die Veränderungen des sich ständig verändernden Berlin klarer ab: Die Stadt ist hässlicher geworden. Hauptsache neu, protzig, billig, kommerziell. Allein die Fassaden im Prenzlauer Berg: lieblose Oberflächen, hässliche Farben. Überwiegend zumindest. Und die kleinen, feinen Kinos von austauschbaren Multiplexen verdrängt. Warum müssen sich ausgerechnet Brotfabrik und Kino Central bekriegen? Gibt es den Filmpalast noch?
Wenigstens eines ist beim Alten geblieben: Berlin strotzt noch immer vor Gewalt. Nicht nachts in den U-Bahnen. Auch nicht auf den Straßen. Aber doch direkt vor unserer Haustür. Stichwort: Erster Mai. Die Kreuzung Eberswalder Straße verwandelt sich in ein Schlachtfeld. Schlimmer noch Silvester.
Straßenschlachten an Silvester
Ich kann mich ohnehin nicht auf das verordnete Zwangsamüsement freuen. Ich will mich nicht verabredetet “gehen lassen” müssen, wenn sich alle unter Hochdruck gehen lassen. Es zumindest versuchen. Und während drinnen um jeden Preis gefeiert wird, herrscht draußen Krieg. Die weltweit hohen Ausgaben für Silvesterknaller wirken in Berlin wie Investitionen in Munition, Waffen und weiteres Kriegswerkzeug. Straßen- und Häuserkampf ab 22 Uhr. Ausfall des Verkehrsnetzwerks. Verletzte. Tote. Verwüstungen. Und viele reizüberflutete Ohren. Sachlich formuliert.
Silvester 2008: Kurz nach Mitternacht sind wir auf der Karl Marx Allee, auf dem Weg in den Prenzlauer Berg. Die weiträumige Allee ist in Nebelschwaden gehüllt. Der Nebel wird von Blitzen durchzogen. Es knallt: überall, pausenlos. Wir versuchen einen gangbaren Weg im Gedränge der Knaller-Trupps auszumachen. Meine Augen finden keine Ruhe, meine sind Ohren ungeschützt. Ich habe die Ohropax zu Hause gelassen, um mein Frühwarnsystem nicht zu deaktivieren: ich will die Bedrohung so früh wie möglich hören. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sieht man die Knaller-Trupps auch auf den Dächern. Sie schießen von oben nach unten auf die Straße, auf Autos und Passanten. Ich blicke schnell hinter mich an der Fassade entlang und hoch; kann aufgeregt hantierende Gestalten erblicken.
Es gibt keinen gangbaren Weg durch dieses Kampfgebiet.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, plagen mich merkwürdige Kopfschmerzen. Schwindelgefühl. Kreislaufstörungen. Ohrensausen. Zwei Tage später gehe ich zum Arzt. Diagnose: Tinnitus.
Schon letzte Woche dachte ich: Toll, das jemand mal anders als gewohnt über unsere zarten Ohren schreibt.
Ich wäre damals gern dabei gewesen. Berlin ist jetzt nicght mehr so cool wie damals! Kommt in der Textreihe auch etwas zu diesen Ultralschall-Störgeräten aus England: http://de.wikipedia.org/wiki/The_Mosquito.?? das passt ja auch da rein!
Es wird zu selten anspruchsvoll über Tinnitus geschrieben.
Ich finde es unglaublich, dass man sich zu Silvester in Berlin einen Tinnitus holen kann – allerdings sollte man um kurz nach 12 einfach nicht draußen sein…
Hierzu auch ein Kommentar von mir: Was hat es mit dieseen Ohr-Texten auf sich? Wird Berliner Gazette von Ohropax gesponsert? hihi Fand ich ja trotzdem mal wieeder aufschlussreich und sehr gut geschriebn.