Es ist bezeichnend, dass der Boom der sozialen Medien mit einem beispiellosen Aufstieg rechtsextremer Bewegungen und Regierungen weltweit zusammenfällt. Deren Programme sind zwar alles andere als einheitlich, doch haben sie alle gemeinsam, dass sie vorgeben, den Untergang ‚unserer‘ Zivilisation zu verhindern, während sie eine apokalyptische Politik verfolgen, die uns – die Nutzer*innen sozialer Medien – von den katastrophalen Auswirkungen eben dieser Politik ablenkt, wie Bruna Della Torre argumentiert.
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1959 hielt Günther Anders an der Freien Universität Berlin eine Rede, die später als „Die atomare Drohung“ veröffentlicht wurde und in der er die apokalyptischen Auswirkungen der Atombombe auf die Politik analysierte. Ich möchte seinem Beispiel folgen und über einige der Konsequenzen nachdenken, die der Aufstieg der Social-Media-Plattformen seit 2008 für die Politik hat. Dabei geht es weniger darum, die Plattformmedien direkt mit der Atombombe zu vergleichen, sondern vielmehr darum, ihre tiefgreifenden und bislang irreversiblen Auswirkungen auf die Politik zu analysieren.
Diese Thesen sind zwar theoretisch, basieren aber auf einer sehr empirischen und faktischen Realität. Ich forsche seit 2021 über rechte Propaganda in den sozialen Medien. Als Jair Bolsonaro 2018 die Wahlen in Brasilien mit einer sehr erfolgreichen Social-Media-Kampagne gewann und die Cambridge-Analytica-Skandale ans Licht kamen (siehe u.a. die Doku „The Great Hack“), wurde dies zu einem globalen Fall von extremistischer Politik, einem Labor für das, was ich als Plattform-Neofaschismus bezeichne – eine Tendenz, die in neue digitale Technologien gestickt und durch unsere alltäglichen Praktiken genährt wird. Dies hat zu einer neuen Form der technologischen Apokalypse geführt, die keine Bombe ist, aber dennoch Massenmorde verursachen kann, wie in Brasilien während der COVID-19-Pandemie, in Myanmar 2017 und in Indien unter der Regierung von Narendra Modi.
Plattform-Neofaschismus: ein globaler Zustand
Die Krise von 2007/2008 hat unsere (digitale) Welt nachhaltig verändert und eine neue Ära des Monopolkapitalismus eingeläutet. Intellektuelle wie Yanis Varoufakis, Cédric Durand und Jodi Dean gehen so weit, von einem Wandel der Produktionsweise (d.h. einer Veränderung der sozialen und wirtschaftlichen Organisation) vom Kapitalismus zum „Techno-Feudalismus“ zu sprechen. Digitalisierung und Plattformisierung sind nicht nur ein neues ‚Geschäftsmodell‘, wie es das Silicon Valley und seine Pendants predigen, sondern vielmehr eine neue Abschottung der Märkte (einschließlich des Arbeitsmarktes). Die neue Privatisierung dieser Märkte zerstört damit das ihnen innewohnende Wettbewerbsprinzip. Aber nicht nur die Märkte sind betroffen, sondern auch unsere primären Formen der Sozialität, die Kultur, die Bildung, die Presse, die Unterhaltung und vor allem die Politik.
Für viele politische Akteur*innen ist die neue digitale Infrastruktur zu einem wichtigen Gestaltungsinstrument geworden. Dies gilt insbesondere für die Rechte. Parallel zum Boom der sozialen Medien sind weltweit rechte Regierungen in nie gekanntem Ausmaß an die Macht gelangt. Dieser Apparat hat nicht nur die damaligen Randgruppen zusammengeführt, sondern bildet die Basis einer globalisierten neofaschistischen Internationale. Auch wenn sie in den meisten Ländern den Nationalismus propagiert, stellt sie die wichtigste soziale Bewegung (im wahlpolitischen Sinne) ohne Grenzen unserer Zeit dar. Diese Bewegung, die weitgehend von lokalen Versionen einer neuen digitalen Massenpartei organisiert wird, die sich einer allgegenwärtigen und offensiven Propagandamaschinerie bedient, profitiert in hohem Maße von der algorithmischen Logik der sozialen Medien.
Wie Cathy O‘Neil argumentiert, sind Algorithmen zu den neuen Waffen der mathematischen (und massenhaften) Zerstörung geworden. So wie die Zerstörung Hiroshimas eine potentielle Bedrohung für jeden Ort der Welt war, ist der Plattform-Neofaschismus eine globale Realität; der politische Neofaschismus Brasiliens, der Vereinigten Staaten von Amerika und Indiens wird mit dem Aufstieg der sozialen Medien zu einer sehr wahrscheinlichen Möglichkeit für andere Demokratien der Welt.
Politik ‚passiert‘ nicht in den sozialen Medien, die sozielen Medien sind Politik
Soziale Medien sind nicht nur ein Werkzeug, sondern ein Monopol. So wie die Atombombe keine Möglichkeit des Friedens, sondern dessen Unmöglichkeit ist, sind die sozialen Medien keine Möglichkeit der Demokratie, sondern ihr zerstörerischster Faktor. Ihre angeblich fortschrittlichen Auswirkungen auf die Politik werden von ihrer erosiven Wirkung bei weitem übertroffen. Soziale Medien sind keine ‚reine Technologie‘. Sie sind eine Technologie, die in eine Plattformlogik eingebettet ist, die die Form unserer gegenwärtigen Sozialität diktiert, auch wenn uns vorgegaukelt wird, wir säßen ‚am Steuer‘, weil wir die Inhalte produzieren. Obwohl es plausibel klingt, ist es irreführend zu sagen, dass soziale Medien in unserer politischen Situation existieren. Diese Aussage muss auf den Kopf gestellt werden, um wahr zu sein: Unsere politische Situation existiert in den sozialen Medien.
Da die politische Situation heute in hohem Maße durch die Existenz von Social Media bestimmt und definiert wird – was den öffentlichen Raum und die politische Debatte, unsere Interaktions- und Subjektivierungsformen, die Art und Weise, wie wir uns informieren (insbesondere die jüngeren Generationen, wie wir gerade an der erfolgreichen AfD-Kampagne auf Tik Tok sehen), und die Art und Weise, wie wir Politik machen, umfasst –, müssen wir erkennen, dass politische Handlungen und Entwicklungen innerhalb von Social Media-Plattformen stattfinden und nicht umgekehrt. Das Problem ist nicht Twitter oder Elon Musk allein, sondern die politisch-ökonomischen Verhältnisse als solche.
Wie Joseph Vogl in „Kapital und Ressentiment“ (2021) feststellt, ist eines der Hauptmerkmale des digitalen Kapitalismus der Wegfall der Vermittlungsfunktion des Staates und staatlicher Institutionen in vielen Bereichen. Der aktuelle Plattformapparat hat den erotischen Traum des Anarchokapitalismus verwirklicht. Kryptowährungen eliminieren die Rolle staatlicher Finanzregulierung, Arbeitsplattformen umgehen das Arbeitsrecht und soziale Netzwerke verzichten auf jede demokratische Kontrolle der politischen Debatte. Die angeblich fortschrittlichste Technologie unserer Zeit ist nichts anderes als ein digitaler Wilder Westen, eine Mahagonny-Geschichte, in der die Politik von den Stärksten, Schnellsten und Mächtigsten gemacht wird und die Verlierer*innen einmal mehr die Subalternen, die Autochthonen, die Natur sind.
Nicht Werkzeug, sondern Feind: Freunde und Feinde
Obwohl immer wieder betont wird, dass die sozialen Medien alle Grenzen überwinden, führen sie zu mehr sozialen und politischen Spaltungen als jede andere Technologie zuvor, denn sie sind nicht nur eine Technologie, sondern vielmehr ein digital gesteuertes Monopol auf unsere Formen der Politik. Günther Anders hat in seinen „Thesen zum Atomzeitalter“ festgestellt, dass die Atombombe Gewalt und Hass trennt und den Krieg unpersönlich macht. Da die Ziele des künstlich erzeugten Hasses und die Ziele der militärischen Angriffe völlig verschieden sind, wird der Krieg geistig schizophren.
Die sozialen Medien haben die Rolle übernommen, den Hass zu organisieren (Incel-Communities, neofaschistische digitale Bewegungen, Pro-Waffen- und Pro-Kriegs-Organisationen) und die Opfer des Hasses mit dem militärischen oder paramilitärischen Angriff auf sie in Verbindung zu bringen. Der Hass in den sozialen Medien ist das aktuelle Gesicht des nuklearen Zeitalters. Seine algorithmische Logik passt wie die Faust aufs Auge zur faschistischen Dynamik von In- und Out-Gruppen. Sie verhindert, dass die Gesellschaft als Ganzes erkennt, dass mit der Atombombe und der Klimakrise „jede Unterscheidung zwischen nah und fern, zwischen Nachbarn und Fremden hinfällig geworden ist“ und dass wir nicht nur in dieser Generation, sondern auch in den kommenden Generationen durch eine Vernichtungsdrohung verbunden sind, die unsere gesamte Ko-Existenz bestimmt.
Triggern, Klicken und Engagieren als Ersatz für politisches Handeln
Die Möglichkeit, eine Bombe zu zünden und ihre Auswirkungen nicht zu sehen, die zeitliche und räumliche Trennung zwischen einer Aktion und ihren Folgen, ist die hyper-postmoderne Version der als Arbeit getarnten Aktion im Faschismus. Hinter der Idee des ‚Befolgens von Befehlen‘ verbirgt sich laut Anders die Befreiung der Arbeiter*innen von der Verantwortung für ihr eigenes Handeln, für das sie „einfach nicht schuldig gemacht werden können“. Klicken ist wie Triggern. Wenn die virtuelle Umgebung Menschen, die sonst von der Politik ausgeschlossen sind, tatsächlich das Gefühl politischer Teilhabe geben kann, so trennt sie auch Handlung und Folge in Raum und Zeit. Das Drücken eines Knopfes und das Drücken einer Taste sind ähnliche Tätigkeiten, die im zweiten Fall durch die virtuelle Natur der Handlung den Anschein erwecken, dass ihre Folgen nicht wahr sind.
Dies gilt für Klick-Farmen, die dazu dienen, Fake News zu verbreiten und rechtsextreme Regierungen populär zu machen, und für die Bildung von ‚In-Groups‘, die sich gegen Frauen, rassialisierte Personen, LGBTQIA+ Menschen und Ausländer*innen richten, bis hin zur Provokation von Femiziden, Queercides und sogar Genoziden. Was früher bedeutete, politisch kritisch und involviert, also engagiert zu sein, ist heute ein Ausdruck, der unsere Teilnahme an einem Apparat bezeichnet, der im Kern politisch ist, dessen Politik aber durch einen technologischen Schleier verdeckt wird. So wird das Handeln durch ein Engagement ersetzt, das jegliches wirkliche Handeln ausschließt und gleichzeitig eine Form der Politik hervorbringt, die zwischen Klicks und ihren letztendlichen Folgen verborgen ist.
Wie Anders über die Atombombe sagte: „Das ist also unsere absurde Situation: In dem Augenblick, in dem wir zur ungeheuerlichsten Handlung fähig geworden sind, zur Zerstörung der Welt, scheinen die ‚Handlungen‘ verschwunden zu sein. Da sich die bloße Existenz unserer Produkte bereits als Handlung erweist, ist die triviale Frage, wie wir unsere Produkte für eine Handlung einsetzen sollen, geradezu betrügerisch, denn sie verschleiert die Tatsache, dass die Produkte durch ihre bloße Existenz bereits gehandelt haben.“ Bis Ende 2024 wird die Hälfte aller Interaktionen im Internet durch und mit Bots stattfinden. Soll das unsere Zukunft sein?
Scroll-Zeit und Antiapokalyptik
Während der Klimawandel die Endzeit amplifiziert und forciert und unsere Gegenwart in vielerlei Hinsicht zum letzten Zeitalter macht, hält uns das Verscrollen der Zeit in der leeren Temporalität der Social-Media-Plattformen gefangen und macht uns zunehmend unfähig zu erkennen, was wir als Gesellschaft produziert haben, und auf das zu hören, was Anders „die stumme Stimme unserer Produkte“ nannte. Das Zeitalter der Information wird zum Zeitalter der Ignoranz, und unsere Situation als „umgekehrte Utopist*innen“ geht einher mit dem Verlust unserer Fähigkeit, echte Utopist*innen zu sein. Um dieser Situation zu entkommen, müssen wir uns zunächst ohne Angst vor der Antwort fragen, ob es in diesem Apparat und in dieser Situation überhaupt eine Möglichkeit der Emanzipation gibt. Anti-Apokalyptiker*in zu sein bedeutet, die Konsequenzen dessen, was wir getan haben und weiterhin tun, fürchten zu können, um der nächsten Generationen willen, wie Anders sagt.