Als während der COVID-19-Pandemie ein Lockdown die Stadtbewohner*innen in ihre Wohnungen zurückwarf, sofern sie welche hatten, ereignete sich in Zagreb ein schweres Erdbeben. Während in den historistischen Altbauten Stuck zu Schutt wurde und rote und gelbe Aufkleber vor der gefährdeten Statik warnten, blieben die sozialistischen Massenwohnungsbauten nahezu unversehrt. Die Kulturhistorikerin Lea Horvat nimmt dies zum Anlass, der Geschichte des Massenwohnungsbaus in Jugoslawien nachzuspüren.
*
Auf der Titelseite der mit 688 Seiten bisher ausführlichsten Globalgeschichte des Massenwohnungsbaus von Miles Glendinning befinden sich die drei „Raketen“ des neoavantgarden Architekten Vjenceslav Richter. Die Wohntürme ruhen auf einem Plateau, scheinbar startklar und ganz dem Weltallfieber der 1960er verpflichtet. Dies ist keine zufällige Entscheidung. Glendinning zählt das sozialistische Jugoslawien zu den „‚Großmächten‘ der Massenwohnarchitektur“. Was hat Jugoslawien in dieser Hinsicht richtig gemacht?
Im Folgenden wird es nicht darum gehen, die Vorherrschaft des jugoslawischen Vorbilds zu etablieren und von anderen Kontexten abzusetzen. Stattdessen möchte ich über feine Unterschiede und das Spektrum des Möglichen innerhalb der Architektur des „gewöhnlichen Modernismus“ nachdenken. Zugleich möchte ich einladen, eine holistische Perspektive einzunehmen, die den Massenwohnungsbau in seiner Komplexität zu verstehen versucht und dabei behutsam und wertschätzend mit seinen ehemaligen, heutigen und zukünftigen Bewohner:innen umgeht. Sich mit dem jugoslawischen Fall zu beschäftigen bedeutet nicht, diese Tiefe auf Kosten von anderen Kontexten zu erzeugen, sondern an einem konkreten Ort einzusteigen.
Dezentralisierung und Selbstverwaltung
Schnell errichtet und für viele Wohnungssuchende gedacht, um die Kriegsschäden auszugleichen und der raschen Urbanisierung Rechnung zu tragen, breitete sich der Massenwohnungsbau nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa rasch aus. Jugoslawien war dabei keine Ausnahme. Im zweiten Weltkrieg wurde etwa 75% des Wohnungsbestands in Jugoslawien beschädigt. Nach provisorischen Lösungen der ersten Stunde, wie der Umverteilung des Wohnraums der privilegierten Klassen, wurden nachhaltigere Lösungen gesucht. Bereits 1947 wurde die Industrialisierung der Bauweise im ersten Fünfjahresplan verankert. Analog zum Aufbau der Schwerindustrie, der wirtschaftlichen Priorität Jugoslawiens zu Beginn des Sozialismus, sollte die neue Architektur aus vorgefertigten Teilen bestehen, die schnell auf der Baustelle montiert werden konnten. Die Serialität, so die Erwartung, würde den Wohnungsbau beschleunigen und vergünstigen sowie dem Fachkräftemangel im Architektur- und Bauwesen entgegenwirken. Die Industrialisierung des Bauens im großen Stil war die logische Konsequenz der Faszination für Maschinenästhetik und Rationalisierung unter modernistisch sozialisierten Architekt:innen. Dennoch zeichnete sich bereits in den späten 1940er Jahren die Besonderheit ab: die Vielfalt der Baukultur in Jugoslawien.
Eine Zentralisierung des Massenwohnungsbaus ergab in vielen Kontexten eine verblüffende Serialität. In der DDR entfielen auf den Typ WBS 70 mehr als 40% der Massenwohnungen. Das aus der Tschechoslowakei stammende Architekturkonglomerat Stavoprojekt hatte Mitte der 1950er mehr als 10.000 Beschäftigte und entwickelte in einem hochindustrialisierten Verfahren Plattenbauten. Statt einer vergleichbaren Institution, die damit beauftragt wäre, ein landesweit anwendbares System zu entwerfen, fanden die Versuche einer Industrialisierung der Bauweise an verschiedenen Baustellen in Jugoslawien parallel statt – insbesondere in Ljubljana, Zagreb, Split und Belgrad. Neben den Forschungsinstituten waren es die Bauunternehmen, die zwischen Forschung, Eigenwerbung und Baupraxis balancierten.
Bei dem Ansatz kleine oder gar keine Serien zu bauen, schien der wesentliche Vorteil der Industrialisierung nicht zum Tragen zu kommen. Insofern erscheint der Begriff „Massenwohnungsbau“ geeigneter als „Plattenbau“. Wenn wir Mischtechnologien jedoch offener als unvollständige Industrialisierung betrachten, bietet sich die Möglichkeit, den Wohnungsbau in Jugoslawien jenseits einer starren technischen Kategorisierung zu sehen. So rückt etwa ins Blickfeld, dass k(l)eine Serien und das polyzentrisch organisierte Bauwesen eine architektonische Vielfalt ergaben. Auch das IMS Žeželj, ein in Belgrad entwickeltes, weit verbreitetes Vorfertigungssystem, war so wandelbar, dass solche Bauten optisch nicht sofort als einheitliche Kategorie zu erkennen waren. Alle Massenwohnbauten in Jugoslawien ähneln sich in etwa so wie alle Altbauten der Gründerzeit; sie sind einer bestimmten Zeit verbunden, aber ihre Fassaden und Grundrisse sind häufig nicht identisch.
Die Eckpfeiler des jugoslawischen Sozialismus – Dezentralisierung und Selbstverwaltung – spielten dabei eine zentrale Rolle. Zum intendierten „Absterben des Staates“ passt auch die unauffällige Rolle der Parteispitze in der Bevorzugung einer architektonischen Form. Nikita Chruschtschow wurdeso unverwechselbar mit bescheidenen, fünfstöckigen 1950er-Plattenbauten verbunden, dass diese immer noch unter dem Namen Chruschtschowki bekannt sind. Erich Honecker übergab 1978 zeremoniell und medial intensiv begleitet die einmillionste Wohnung und sechs Jahre später die zweitmillionste Wohnung in Berlin-Mitte. Josip Broz Tito, Jugoslawiens Staatspräsident, hingegen äußerte sich kaum zu seinem architektonischen Geschmack und verzichtete auf eine Selbstinszenierung als wohlwollender Wohnungsgeber.
Umdeutungen des „Mosaikstaats“
Stattdessen wurde der Arbeitgeber zum Hauptverantwortlichen für die Lösung der Wohnungsfrage seiner Angestellten, die seit 1956 zu diesem Zweck 4% vom Gehalt in einen lokal verwalteten Wohnungsfonds einzahlten. Mit Vielfalt und Wohnraum, der nun für immer mehr Menschen erschwinglich wurde, schlich sich auch die Ungleichheit ein. Dies wurde besonders sichtbar im Vergleich zwischen baustarken Sektoren (etwa der Volksarmee oder Bauunternehmen) und bauarmen Sektoren (etwa der Textilindustrie). Auch die Nord(west)-Süd(ost)-Asymmetrie zeigt sich immer wieder: Die größten Baufirmen, die in ganz Jugoslawien tätig waren, hatten ihren Sitz in Slowenien, Kroatien oder Serbien, ebenso die bedeutendsten Architekturzeitschriften. Neben dem von den Arbeitgebern verteilten Wohnraum gab es noch andere Formen, wie den informellen Wohnungsbau, Wohnungen aus Solidaritätsfonds und privat finanzierte Wohnungen. Die finanzielle Selbstverwaltung wurde vor allem seit der wirtschaftlichen Liberalisierung Mitte der 1960er Jahre gefördert, und zwar ausdrücklich mit dem Segen des Haupttheoretikers der Selbstverwaltung in Jugoslawien, Edvard Kardelj.
Allerdings war der Wohnungsbau kein kapitalistischer freier Markt. Vielmehr handelte es sich um eine „kontrollierte Vielfalt“, der Grenzen gesetzt wurden, oft auch von den Architekt:innen selbst. Ein gutes Beispiel dafür ist Split 3, ein vielgepriesenes Projekt an der adriatischen Küste. Den Wettbewerb für die urbanistische Lösung (1968) gewann ein Team aus Slowenien (Vladimir Mušič, Nives Starc, Marjan Bežan) mit einem Konzept für Wohnstraßen, das stark auf die städtebaulichen und architektonischen Merkmale der Altstadt Bezug nahm. Die Herausarbeitung einzelner Bauten wurde über einen internen Wettbewerb lokalen Architekten anvertraut.
Im frühen Sozialismus deutete der Architekturhistoriker Dušan Grabrijan die pejorative Bezeichnung Jugoslawiens als „Mosaikstaat“ um und betonte stattdessen die regionale Varianz der Bautraditionen. Dies trifft auch auf die sozialistische Wohnarchitektur überraschend gut zu. Zum Bild der Vielfalt haben auch die Bewohner:innen beigetragen, insbesondere nach dem Prozess des individuellen Wohnungserwerbs in den 1990er Jahren, in dessen Verlauf sie für individuelle Renovierungs- und Umbaustrategien verantwortlich gemacht wurden.
Großsiedlungen ohne Gemeinschaftsräume?
Die meisten Bilder und Vorstellungen, die im Zusammenhang mit dem Massenwohnungsbau im Globalen Norden auftauchen, gehen von einer Defizitperspektive aus. Seien es die gewollt tristen Fotos, mit denen Nachrichten über Kriminalität in den betroffenen Siedlungen bebildert werden, oder die zugespitzte Übertragung der US-amerikanischen Ghetto-Imagination auf Plattenbausiedlungen – meist sieht es grau und hoffnungslos aus. Diese Wahrnehmung, die sich im Globalen Norden erstaunlich hartnäckig hält, hat ihren Ursprung in den frühen 1960er Jahren, als sich die westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten vom Plattenbau verabschiedeten. Es kam zu einem diskursiven Domino-Effekt, der auch Jugoslawien erreichte. Insbesondere die linken Denker:innen, die sich für die Ideen um die französische Neue Linke begeistert hatten, warnten plötzlich vor Entfremdung und drohendem Leerstand in Massenwohnsiedlungen.
Im Buch „Die Stadt nach Menschenmaß“ (1987)des Philosophen Rudi Supek finden sich Karikaturen aus dem französischsprachigen Kontext wie etwa Edvard Munchs „Schrei“ vor einem Plattenbau-Hintergrund oder der Wohnungsbau als ein erbarmungsloser Rasenmäher, der eine einheitlich kahle Siedlung mitten in der zerstörten städtischen Vielfalt hinterlässt. In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass diese negative Rhetorik auf die nach wie vor herrschende Wohnungsnot traf; die Nachfrage war ungebrochen, von Leerstand keine Spur. In Jugoslawien klaffte am Ende des Sozialismus eine Lücke zwischen dem Alltag in den Massenwohnsiedlungen und den hypothetischen Zukunftsprojektionen.
Allerdings war der historische Diskurs um den Massenwohnungsbau deutlich vielschichtiger. So finden sich innerhalb einer Gruppe verschiedene Positionierungen, etwa unter Sozialwissenschaftler:innen im Spätsozialismus. Neben Rudi Supek verfasste auch die Soziologin Dušica Seferagić eine Generalabsage an den Massenwohnungsbau, den sie als irreparabel mit Entfremdung und Gemeinschaftsdefiziten verbunden sah und befürwortete stattdessen Einfamilienhäuser. Ihr Kollege Ognjen Čaldarović hingegen rief zu Geduld auf und argumentierte, dass bestimmte Aspekte der Gemeinschaft erst nach und nach entstehen würden. Statt zerstörte oder mangelhafte Gemeinschaftsräume als Scheitern von Großsiedlungen zu verbuchen, sei es umso wichtiger, diese Infrastruktur zu reparieren und konsequent zu erhalten. Zugleich kritisierte er den Gemeinschaftsbegriff, der sich an einem Dorf orientieren würde, als nostalgisch und aus der Zeit gefallen. Die Ethnologin Dunja Rihtman-Auguštin ging noch einen Schritt weiter und war bereits 1980 überzeugt, dass die ersten Lebenszeichen einer Lokalidentität und einer aufkommenden urbanen Kultur bereits sichtbar seien; man müsse sie nur wahrnehmen: „Vor unseren Augen werden noch unvollendete Baustellen zu Boccia-, Schlittschuh- und Eislaufbahnen, zu Wiesen und Fußballplätzen, aus Balkonen werden vielfältigste Abstellräume oder Zimmer, oder sie werden zum Schauplatz des nachbarlichen Wettbewerbs in der Bepflanzung und im Anbau von Zierpflanzen“.
Bereits diese Beispiele und die neomarxistischen Auslegungen der Sozialwissenschaftler:innen aus Zagreb zeigen, dass der interpretative Spielraum im Spätsozialismus bedeutend war. Im jugoslawischen Fall waren diese Debatten besonders heftig und finden sich in einem Spektrum, das von Frauenzeitschriften bis zur Philosophie reicht. Sie alle machen den Massenwohnungsbau aus.
Alles kann auch anders kommen
Schließlich lohnt es sich, für neue Interpretationen offen zu bleiben und wahrzunehmen, wenn sich Schwächen in Stärken verwandeln können und aktuelle Prioritäten sowie ästhetische und soziale Werte die Dinge anders erscheinen lassen. Die spärliche bis nichtexistierende Serialität kann man als eine unvollständige Industrialisierung lesen. Gleichzeitig kann sie als eine unerwartete Stärke interpretiert werden, da sie eine gestalterische Vielfalt ermöglichte. Eine kompromisslose Urbanität war das ultimative Ziel der modernistischen Stadt- und Architekturexpert:innen, welche die „Ruralisierung“ der Stadt kritisierten und über Gemüsegärten und Tierhaltung in neuen Siedlungen spotteten. Zentralheizung, Stromanschluss und fließendes Wasser zählten zu den wichtigsten Versprechen des Massenwohnungsbaus, auch wenn nicht immer alles direkt verfügbar war. Allerdings entpuppten sie sich während der Belagerung Sarajevos, in der kriegsbedingt unzuverlässigen Infrastruktur, als fragil. Der Rückgriff auf verpönte traditionelle Kompetenzen, sei es der Gemüseanbau, die Holzheizung oder manuelle Waschmethoden, war lebensrettend und zeigte die Schwachstellen eines kompromisslosen, selbstsicheren Modernismus als Einwegstraße auf.
Im März 2020 befand sich Zagreb in einer Ausnahmesituation. Mitten im pandemiebedingten Lockdown ereignete sich ein schweres Erdbeben. Während in den historistischen Altbauten Stuck zu Schutt wurde und rote und gelbe Aufkleber vor der gefährdeten Statik warnten, blieben die sozialistischen Massenwohnungsbauten nahezu unversehrt. Das lag nicht zuletzt an den Bauvorschriften, die nach dem verheerenden Erdbeben in Skopje 1963 erlassen wurden und die Gebäude erdbebensicherer machen sollten. Auch vor dem Erdbeben konnten sich die Massenwohnungsbauten in Neu-Zagreb auf dem lokalen Wohnungsmarkt behaupten, nach dem Erdbeben wurde das Baujahr zum Sicherheitssiegel.
Das Neue lässt das Alte in neuem Licht erscheinen, wir verändern uns und mit uns der Massenwohnungsbau. Beharren wir nicht auf einem engen Repertoire von Stereotypen, die längst überholt sind.