Ein Quadratmeter Tafel pro Minute

Studium Generale? In Zeiten des Bachelor-Studiums scheint dieser Begriff ein letztes Relikt aus den Tagen humanistischer Bildungsideale zu sein. Einfach mal gucken, was an anderen Fakultäten passiert – das dachte sich ein Geisteswissenschaftler als er das Wagnis einging, sich als Gasthörer in eine Vorlesung mit dem Titel “Mathematik für PhysikerInnen” zu setzen. Nun weiß er auch, wo seine Semesterbeiträge landen: auf der Tafel. Berliner Gazette-Autor Alexander Krex über seine Beobachtungen.

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Zehn Minuten nach zwölf betritt Dr. Ivan Izmetiev den Saal. Sein Kopf, mit freundlichem Gesicht und runder Brille, sitzt auf einem schlanken Körper. Der Kragen seines blauen Hemdes guckt unter einem grauen Westover hervor. Herr Izmetiev ordnet Kreidestückchen und feuchtet gelbe Tafellappen an. Um 12.14 Uhr steht er kerzengerade hinter dem Katheder, sein Blick ist dem Auditorium zugewandt. Er schaut auf einen Hörsaal mit 250 Sitzen, verteilt auf zehn steil angeordneten Reihen. Ganz hinten im Saal, auf einem der Klappsitze aus hellem Holz, sieht er mich. Ich habe Angst.

Der Saal mit dem Namen “MA 005” befindet sich in der Technischen Universität Berlin. Die Vorlesung, die dort 12.15 Uhr beginnt, heißt “Mathematik für PhysikerInnen”. An diesem Freitag haben sich etwa 220 Personen eingefunden, um sich höherer Mathematik zu widmen. Ich werde nichts davon verstehen. Ich bin Geisteswissenschaftler und gehöre nicht hier her. Viel schlimmer: Es beschleicht mich das Gefühl, dass man mir das anmerkt. Was, wenn Izmetiev wahllos Studenten aufruft? Ich habe Angst!

Verständnis für drei Sätze

Um 12.16 Uhr spricht Izmetiev den ersten Satz seiner Vorlesung. Er sagt ihn leise in das große Mikrofon, das an einem schwarzen Band um seinen Hals hängt. Die Stimme ist hell, fast kindlich mit russischem Akzent: “Könnte mir mal bitte jemand helfen, der so” – der Dozent deutet auf eine der drei Tafeln hinter sich – “groß ist?”

Schon ist ein hoch gewachsener junger Mann aus der dritten Reihe zur Stelle und zieht die Tafel, die außerhalb der Reichweite Izmetievs hängt, ein Stück nach unten. Unter lautem Beifall seiner Kommilitonen nimmt er wieder Platz. Izmetievs erster Satz (das werde ich 90 Minuten später feststellen), ist einer von dreien, deren Bedeutung mir nicht verborgen bleiben. Die anderen beiden werden lauten: “Das war’s für heute. Schönes Wochenende.”

Sechs Minuten nach Vorlesungsbeginn ist meine Angst verflogen. Derart schnell hat Izmetiev eine der Tafeln mit Formeln, Annahmen und Koordinatensystemen vollgeschrieben, dass ihm nicht einmal die Zeit bleibt, sich umzusehen. Die Interaktion mit der Hörerschaft beschränkt sich auf das Kommentieren seiner Rechenschritte. Ein Beispiel: “In diesem Fall ist diese Funktion f in Null stetig auf dem gesamten Definitionsbereich.”

Im Wimbledon-Hörsaal

Nach der Vorlesung wird mir die angehende Physikerin Hannah Krok verraten, dass man nur nach intensiver Vorbereitung verstehen könne, was da vorne an der Tafel passiert. Sie kenne allerdings niemanden, der das tue. “Deshalb schreiben ja alle mit, um es vielleicht zu Hause zu begreifen”, sagt sie. Und begreifen muss es jeder irgendwann, denn der Kurs ist obligatorisch für PhysikerInnen.

Jede der drei Tafeln misst etwa 1,5 mal 5 Meter, macht insgesamt 7,5 Quadratmeter. Das heißt, Izmetiev hat pro Minute mehr als einen Quadratmeter grüne Tafel mit kreideweißen Symbolen, Linien und Kurven versehen. In diesem Tempo geht es weiter. Weil die meisten Studenten mitschreiben, erinnern ihre Kopfbewegungen an die von Wimbledon-Zuschauern, nur in der Vertikalen: Tafel, Karopapier, Tafel, Karopapier. Ich zähle drei Köpfe, die sich nicht in diesem Rhythmus bewegen: einer gehört dem Mann mit Zopf, der schläft, die anderen beiden gehören meinen Nachbarn zur Linken, die ihr Karopapier nutzen, um Schiffe zu versenken.

Um 12.28 die erste Zwischenfrage: “Was bedeutet denn das a in dem Graph?” Die Antwort des Dozenten wird mit allgemeiner Unruhe quittiert: “Das a gehört schon zur nächsten Aufgabe.” Zur besseren Übersicht, zieht Izmetiev ab jetzt Trennlinien zwischen den Aufgaben. Um selbst den Überblick zu behalten, lehnt er seinen Oberkörper weit zurück, während er schreibt. In dieser orthopädisch ungünstigen Haltung verbleibt er oft minutenlang.

Tafelwischen ist nichts für Mathematiker

Die ersten Personen verlassen “MA 005”. Die Uhr zeigt 13.34. Als die blaue Metalltür mit dem Nichtrauchersymbol zufällt, ist Izmetiev gerade mit dem Intervallschachtelungsprinzip beschäftigt. “Ich werde das jetzt nicht beweisen”, sagt er, “zu kompliziert.” Auch ohne die Beweisführung hat er bis zum Ende der Vorlesung um 13.46 Uhr acht Tafeln und damit etwa 60 Quadratmeter beschrieben.

“Das war’s für heute. Schönes Wochenende.” Izmetiev nimmt sich das Mikrofon ab. Ich bleibe noch fünf Minuten sitzen, bis er den Raum verlassen hat. Die Tafeln wischt Dr. Ivan Izmetiev nicht ab. Ich bin kein Mathematiker, aber das verstehe ich.

7 Kommentare zu “Ein Quadratmeter Tafel pro Minute

  1. Ich hatte schon in der Schule immer bei sehr umfangreichem Formelzauberwerk an der Tafel Angst, das sich der Lehrer womöglich verschrieben hat und auf der Stelle mittels Stichflamme in Luft auflöst! Verdammtes Hexenwerk, schwarze Magie, Scheiterhaufen würdige Kunst!

  2. Ich find Matheformel gut, wenn sie von sexy Outlaws wie Matt Damon gelöst werden. Ich frage mich bei diesen Mathegenies aber auch immer: Wie viel verstehen die tatsächlich von dem, was die da machen?

  3. “Kopfbewegungen an die von Wimbledon-Zuschauern, nur in der Vertikalen” — das ist well put!

  4. @Shondra: Das schöne ist, dass man alles verstehen kann. Im Gegensatz zu Geisteswissenschaften wo es eben nicht nur richtig und falsch gibt.

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