Bis zum Jahr 2050 werden etwa 200 Millionen Menschen aufgrund des Klimawandels ihren Wohnsitz verlieren – ohne die Möglichkeit in ihre Heimat zurückkehren zu können. Im MORE WORLD-Interview reflektiert die in Chennai lebende Wissenschaftlerin Sujatha Byravan die Herausforderungen für globale Zusammenarbeit angesichts dieser bereits seit Dekaden wissenschaftlich erforschten Notlage.
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Sie beschäftigen Sie sich schwerpunktmäßig mit Enteignungen (beispielsweise von Häusern, Arbeitsstellen, Rechten etc.), die im Zusammenhang mit dem Klimawandel stattfinden. Zunächst würde ich Sie gerne bitten, zu erläutern, wo denn der genaue Unterschied liegt zwischen einer Enteignung, die aufgrund des Klimawandels stattfindet, und einer Enteignung, die allgemein aufgrund von Umweltkatastrophen stattfindet. Inwieweit könnte man sagen, dass Katastrophen, die mit dem Klimawandel zusammenhängen, nicht nur eine bestimmte Art von Umweltkatastrophe darstellen, sondern dass sie auch einen Paradigmenwechsel bedeuten, der uns letztlich dazu aufruft, die Folgen von Enteignungen neu zu überdenken?
Die verschiedensten Auswirkungen des Klimawandels, beispielsweise Dürren, Starkniederschläge, der Anstieg des Meeresspiegels, die Zerstörung von Ökosystemen, Hitzewellen etc., sind mittlerweile wohlbekannt. Die örtlichen Auswirkungen unterscheiden sich mehrheitlich kaum von den vor Ort bereits herrschenden Problemen, beispielsweise der Armut oder der Bodenverschlechterung. Der Klimawandel verstärkt jedoch solche Probleme.
Die Armen werden zukünftig ärmer werden, und bestimmte Auswirkungen, beispielsweise Überschwemmungen aufgrund von schlechter Stadtplanung, werden gravierender werden. Landwirtschaftliche Praktiken, die den Boden auslaugen und Gewässer schädigen, werden dazu führen, dass die durch den Klimawandel hervorgerufenen Dürren vom Menschen nicht überlebt werden können. In den meisten Gebieten wird daher zukünftig der Klimawandel das verschlimmern, was durch falsche Entwicklung sowieso bereits Realität ist.
Auf kleineren Inseln oder in tief gelegenen Gebieten in Küstennähe wird der vom Klimawandel hervorgerufene Anstieg des Meeresspiegels jedoch weit drastischere Folgen haben. Bodenabsenkungen können auch hier zu einem Anstieg des Meeresspiegels beitragen. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Arten der Enteignung ist außerdem, dass im Falle der meisten Umweltkatastrophen die Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren können, sobald die Krise abklingt und sich die Dinge wieder beruhigen. Bei einer Reihe von Auswirkungen des Klimawandels wird dies jedoch nicht der Fall sein: Durch den Anstieg des Meeresspiegels können Wohnhäuser, Städte und Dörfer und sogar ganze Nationalstaaten verschwinden.
Um auf bestimmte durch den Klimawandel ausgelöste Bedrohungen, beispielsweise den Anstieg des Meeresspiegels, zu reagieren, bleibt oft nur der Weg, die Heimat zu verlassen und sich woanders neu anzusiedeln. Dies betrifft allerdings mehr als nur einige wenige Menschen: Für Millionen von Menschen, die in tief gelegenen Küstengebieten, Deltaregionen oder auf kleinen Pazifikinseln leben, ist es die einzige Strategie, die ihnen bleibt. Angesicht der neuen Qualität der vom Klimawandel herrührenden Umweltschäden würde mich interessieren, inwieweit eine solche Strategie denn wirklich entscheidend von einer zukunftsorientierten, vorausschauenden Perspektive geprägt ist?
Bei vielen Umweltkatastrophen gibt es oft nur eine geringe oder gar keine Vorwarnzeit, die es den Menschen erlauben würde, sich auf das Extremereignis vorzubereiten. Grundsätzlich trifft das auch auf die Auswirkungen des Klimawandels zu, zu denen sowohl sich langsam entwickelnde Katastrophen wie Dürren oder Wüstenbildung als auch Extremereignisse wie Sturmfluten, Überflutungen oder schwere Stürme zählen. Der Anstieg des Meeresspiegels aufgrund des Abschmelzens der Gletscher ist jedoch ein Sonderfall, weil dieser Anstieg fest zu erwarten ist, egal welche Maßnahmen man heute ergreift. Im Ökosystem hat sich bereits eine große Hitze angestaut.
Da das Inlandeis sich bereits in Auflösung befindet, können wir bereits jetzt prognostizieren, dass mehrere kleine Inseln und Deltaregionen zukünftig durch Überflutung unbewohnbar werden. Viele Staaten verstehen mittlerweile, dass bestimmte Teile ihrer Küste sowie tief gelegene Inseln vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht sind. Durch dieses Wissen ist die Welt jedoch in der Lage sich vorzubereiten. Einerseits können Maßnahmen zur Abschwächung der Auswirkungen ergriffen werden. Andererseits können, wo dies die einzige Möglichkeit ist, Maßnahmen zur Umsiedlung von Menschen, Städten und Dörfern in höher gelegene Gegenden geplant werden.
In Ihren Texten benutzen Sie die Begriffe «Klimaexilant» und «Klimamigrant» anstelle des Begriffes «Klimaflüchtling». Damit wollen Sie auch herausstellen, dass es bis heute keinen angemessenen rechtlichen Rahmen für eine Flucht gibt, die vom Klimawandel hervorgerufen wird. Was ist aus Ihrer Sicht der Hauptgrund für dieses Dilemma? Welche Folgen hat dieses Dilemma für die eben diskutierte Strategie, bei der Menschen umziehen müssen und an einem anderen Ort neu angesiedelt werden, wenn dies der einzige Weg ist, um angemessen auf den Klimawandel zu reagieren?
Als die Genfer Flüchtlingskonvention ausgestaltet wurde und in Kraft trat, konnte man noch nicht voraussehen, dass der Klimawandel so große Auswirkungen auf die Bewegung von Menschen haben würde. Die Flüchtlingskonvention schützt Personen vor politischer Verfolgung, aber nicht vor extremen Umwelt- und Klimaereignissen. Sie schützt nur Personen, die «aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung» ihr Land verlassen mussten. Das bedeutet letztlich, dass gerade diejenigen Menschen, die die wenigsten Treibhausgase ausgestoßen haben und in den ärmsten Ländern wohnen, ihre Heimat verlassen müssen und dann nirgendwo haben, wo sie hingehen können. Diese «Boat People» müssen also die Konsequenzen des verschwenderischen Lebensstils und der Emissionen der Reichen tragen.
Im Nachgang zu meiner vorherigen Frage: Könnte es sein, dass das Dilemma der «Klimaflüchtlinge» auf die Leugnung zurückzuführen ist, dass der Klimawandel eigentlich ein mit dem Krieg vergleichbares politisches Problem ist? In der Wissenschaft ist ja der Klimawandel allgemein (und dessen Leugnung) ein etabliertes Thema. Und die Wissenschaft geht ja davon aus, dass der Klimawandel auch zu politischen Konflikten führt; beispielsweise hat sie den Begriff des «Klimakrieges» geprägt. Es gibt schließlich auch Anzeichen dafür, dass der Klimawandel der Grund oder zumindest der Auslöser von Kriegen ist, beispielsweise des anhaltenden Krieges in Syrien. Mit anderen Worten könnte man sagen, dass die aus Flucht und Vertreibung bestehenden Massenbewegungen, die im Zusammenhang mit dem Krieg in Syrien aufgetreten sind, auch als ein konkretes Beispiel für eine durch den Klimawandel ausgelöste Migration angesehen werden können. Ist aus Ihrer Sicht die Leugnung solcher Zusammenhänge ein großes Hindernis für den angemessenen Umgang mit dem Klimawandel?
Derzeit arbeiten viele Wissenschaftler an Ursachenzuschreibungen. Eine solche Zuschreibung versucht abzuschätzen, in welchem Umfang ein Extremereignis auf den Klimawandel zurückzuführen ist. Eine solche Modellbildung funktioniert für manche Ereignisse besser als für andere. Am Beispiel der durch den Klimawandel ausgelösten Migration ist es beispielsweise schwer nachvollziehbar, inwieweit Armut und Gewalt zur Migration geführt haben und bis zu welchem Grad der Klimawandel die Ursache war. Dies hat im internationalen Verhandlungsprozess zu Spannungen und Meinungsverschiedenheiten geführt.
Es ist oft schwierig, den Bereich Entwicklung vom Bereich Anpassung zu trennen. Das hat dazu geführt, dass einigen Ländern Mittel aus Anpassungsfonds vorenthalten wurden. Wir sollten uns aber fragen, wie Anpassungsprojekte, die wie ganz normale positive entwicklungspolitische Maßnahmen aussehen, trotzdem finanziert oder unterstützt werden können. Und wir sollten uns dabei nicht von der Tatsache entmutigen lassen, dass das Ineinandergreifen von Entwicklungs- und Anpassungsmaßnahmen ausgesprochen problematisch sein kann. Das Problematische daran zeigt sich beispielsweise im Fall von extremen Überflutungsereignissen. Gebiete, die zur Überschwemmung bereit stehen und Entwässerungskanäle in Straßen und Einkaufszentren zu verwandeln mag als Entwicklungsmaßnahme sinnvoll erscheinen, als Anpassungsmaßnahme jedoch nicht. Daher sollten wir uns immer fragen, wie Maßnahmen, die sowohl Anpassung als auch Entwicklung zum Ziel haben, die Lage tatsächlich verbessern können.
Die Leugnung des Klimawandels ist möglich, weil es diese ineinandergreifende Verflechtung zwischen den sozialen und natürlichen Systemen gibt, die unseren Planeten umgestalten. Menschen, die die Auswirkungen des Klimawandels leugnen, sind vielleicht eine kleine Minderheit, aber sie können bei einflussreichen Menschen doch so viele Zweifel säen, dass diese letztlich inaktiv bleiben.
Sie plädieren für Anpassungen an den Klimawandel, die sich nicht nur auf einen speziellen Bereich der Folgen des Klimawandels beschränken. Sie befürworten stattdessen einen mehrdimensionalen Ansatz, der die eben angesprochenen komplexen Zusammenhänge berücksichtigt. Sie verbinden in Ihrem Konzept daher soziale und wirtschaftliche sowie logistische und ethische Themen und außerdem die innenpolitische und internationale sowie die lokale und globale Politik. Wie haben Sie sich diese bahnbrechende Perspektive erarbeitet?
Als ich den Klimawandel und den Anstieg des Meeresspiegels zu erforschen begann, arbeitete ich für eine internationale Organisation im Bereich Umwelt und Entwicklung. Ich hatte den Eindruck, dass der Klimawandel selbst zwar geleugnet wurde – und das wird er ja heute noch von vielen Menschen –, aber dass unabhängig von jeder Leugnung die sichtbaren Auswirkungen vor allem auf die Ärmsten äußerst gravierend sein würden. Meine Erfahrungen mit Entwicklungsprojekten hatten mir auch wertvolle Einsichten für den Umgang mit dem Klimawandel geliefert. Es geht in beiden Bereichen darum, die Rolle zu verstehen, die einflussreiche Interessengruppen und die Netzwerke der Eliten bei der Gestaltung der Agenda spielen. Außerdem glaube ich, dass es darauf ankommt, bei der Betrachtung der möglichen Auswirkungen einer Maßnahme das Hauptaugenmerk vor allem auf diejenigen Menschen zu richten, die am stärksten gefährdet sind.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Eine Arbeitsgruppe des Weltklimarats IPCC, einem Organ der Vereinten Nationen, befasst sich mit der Frage der Anfälligkeit für Klimaänderungen und mit der Frage, wie sich die Menschen an den Klimawandel anpassen können. Diese Arbeitsgruppe hat sich auch mit der Frage beschäftigt, wie man die Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel in die Entwicklungspolitik einbeziehen könnte. Fragen, die behandelt wurden, waren beispielsweise: Wie könnte eine emissionsarme Entwicklung aussehen? Wie könnte eine gegen Klimarisiken resistente Entwicklung aussehen?
Die Frage, wie Gesellschaften diesen Wandel schaffen können, ist wichtig und nicht einfach zu beantworten. Auf jeden Fall müsste der Konsum drastisch reduziert werden. Für einen echten Wandel sind «transformative Veränderungen» („transformative change“) notwendig, obwohl bei diesem Begriff bereits die Gefahr besteht, dass er zum Klischee verkommt. Die Grundvoraussetzung für einen tiefgreifenden Wandel ist jedoch, dass wir die wirtschaftliche Religion des Kapitalismus infrage stellen. Manche Leute sagen ja, man solle das geologische Zeitalter, in dem die Erde vom Homo sapiens bestimmt wurde und wird, statt «Anthropozän» lieber «Kapitalozän» nennen.
Sie haben einmal geschrieben, dass Ägypten, Guyana, Vietnam und Bangladesch diejenigen Länder sein werden, die am tiefgreifendsten in eine staatliche Krise geraten werden. Sie glauben aber auch, dass es aufgrund des durch den Klimawandel ausgelösten Anstiegs des Meeresspiegels im Falle einiger kleiner Inseln im Pazifik nicht nur zu einer Destabilisierung und Auflösung des Staates, sondern zu einer kompletten Vernichtung des Landes kommen wird. Welche konkreten politischen Maßnahmen würden Sie für Fälle empfehlen, in denen ganze Bevölkerungen aus einem Land wegziehen und sich woanders neu ansiedeln müssen?
Man muss sich darauf vorbereiten, dass Menschen kleine Inseln und tief gelegene Küstengebiete verlassen müssen. Bereits jetzt verlassen Menschen die pazifischen Inseln. Es gibt eine Reihe von Veränderungen, die jetzt durchgeführt werden müssen. Im Bereich Migration müssen regionale Vereinbarungen abgeschlossen werden, beispielsweise in Südasien oder im südlichen Afrika. Außerdem werden regionale arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Maßnahmen in den Bereichen Ausbildung und Qualifizierung benötigt, die bereits im Voraus für die Menschen geplant werden müssen, die zukünftig aus den gefährdeten Gebieten wegziehen werden.
Daneben sollte man darüber nachdenken, in den am meisten gefährdeten Gebieten, beispielsweise auf den kleinen Inseln, solche Maßnahmen zügig und rechtzeitig vor Ort und im Voraus umzusetzen. Für die in diesen Regionen gelegenem Länder könnte dieser Prozess dadurch angestoßen werden, dass sie die am meisten gefährdeten Menschen bereits jetzt als Teil ihrer normalen, legalen Einwanderung einplanen. Ob dies so umgesetzt wird, ist aber fraglich. Innerhalb der Nansen-Initiative findet jedoch derzeit eine Diskussion darüber statt, wie man mit der aufgrund des Klimawandels stattfindenden grenzüberschreitenden Migration umgehen kann.
Die Nansen-Initiative ist ein «von unten nach oben gerichteter und von Staaten initiierter Konsultationsprozess, in den zahlreiche Interessengruppen einbezogen werden». Es gibt ja im Bereich der internationalen Klimaverhandlungen eine Strömung, die sich «Verluste und Schäden» (Loss and Damage – L&D) nennt und sich von den Bereichen Klimaschutz und Klimaanpassung unterscheidet. Dieser Ansatz soll für Situationen verwendet werden, in denen eine Anpassung nicht möglich ist, da die Möglichkeiten einer Anpassung letztlich auch begrenzt sind. Das L&D-Konzept umfasst sowohl wirtschaftliche als auch nichtwirtschaftliche Verluste. Die Strömung, die sich mit „Verlusten und Schäden» befasst, sollte eigentlich gestärkt werden, verliert sich aber derzeit in den Details und entwickelt nicht genügend Zugkraft, weil die reicheren Nationen Widerstand leisten. Sie befürchten, dass sie, wenn sie die Verantwortung für Emissionen übernehmen, dann letztlich auch dafür haften und Entschädigungen zahlen müssen.
In ihren Texten denken Sie auch über die ethischen Folgen für die Weltgemeinschaft nach. Welche Rolle spielen die Machtstrukturen des globalen Systems für die ethische Diskussion, sowohl in Bezug auf die Geschichte der Industrialisierung als auch in Bezug auf den aktuellen Entwicklungsstand (etwa im Sinne des Human Development Index) der entsprechenden Staaten?
Die ursprünglich von mir und Sudhir Chella Rajan ausgearbeitete Idee war eine Idealvorstellung davon, wie sich die internationale Politik entwickeln müsste, um auf effektive Weise mit dem Thema «Klimaexilanten und Klimamigranten» umzugehen. Dieses Konzept war schon auch als Provokation gedacht, es bot jedoch auch eine Antwort auf wichtige Fragen der Klimagerechtigkeit und stellte auch Möglichkeiten zur Durchführung effektiver Maßnahmen vor, die heute und in Zukunft umgesetzt werden könnten.
Dass es tatsächlich zu einer Einwanderung in diejenigen Länder kommt, die am stärksten Treibhausgase ausgestoßen haben, weil diese Länder aufgrund ihrer Geschichte dazu verpflichtet sind, wie wir in unserem Artikel in der Zeitschrift Ethics & International Affairs vorgeschlagen haben, erscheint aus politischen Gründen eher unwahrscheinlich. Trotzdem sind solche Vorschläge notwendig, um die Menschen zum Nachdenken über mögliche Lösungen für die Klimaprobleme anzuregen. Und solche Lösungen müssen eben die jeweilige Anfälligkeit von Menschen für Klimaprobleme und auch ethische Fragen berücksichtigen. Die Machtstrukturen der Welt verändern sich jedoch und sind dynamisch. Der «Green New Deal» ist wahrscheinlich der einzige Text, in dem die USA – zumindest in knapper Form – ihre historische Verantwortung akzeptiert haben.
Überall in der Welt sind Kinder derzeit dabei, die Erwachsenen durch ihre Proteste damit zu konfrontieren, dass die Erwachsenen es bis jetzt versäumt haben, etwas gegen die Erderwärmung zu tun. An einigen Orten, beispielsweise in Deutschland und Großbritannien, aber auch an anderen Orten, werden derzeit Modelle entwickelt, wie man sich vom Stromnetz verabschieden kann und wie man die örtliche Bevölkerung durch neue wirtschaftliche Modelle unterstützen kann. Nachhaltige landwirtschaftliche Praktiken, die auf der Direktsaat (eine Ackerbaumethode ohne Bodenbearbeitung vor der Saat) und dem Verzicht auf chemische Stoffe basieren, führen zu einer Anreicherung des Bodens und stellen auch einen Widerstand gegen die mächtigen Lobbys der chemischen Industrie dar. Via Campesina, der Kampf von Kleinbauern um Ernährungssouveränität, hat sich zu einer transnationalen Bewegung entwickelt. Wir sollten darüber nachdenken, wie wir die von diesen Volksbewegungen erzielten Erfolge ausbauen und darauf aufbauen können. Dies wird ja auch getan. Das Problem, das wir jedoch auf der Erde haben, ist, dass sich die transnationalen, nationalen und lokalen Bewegungen langsam entwickeln – die Erde dagegen erwärmt sich schnell.
Um die Frage nach der Rolle der Weltgemeinschaft erneut aufzugreifen: Neben ethischen Fragestellungen gibt es ja auch das dringliche Thema der Beziehungen, die staatliche Akteure innerhalb des Weltsystems zueinander haben; diese Beziehungen basieren ja nicht auf Kooperation, sondern auf Wettbewerb – die Staaten sind Rivalen. Andererseits können wir die ethischen Herausforderungen nur meistern, wenn wir die grenzüberschreitende Zusammenarbeit praktisch im Weltmaßstab betreiben. Wenn Sie sich die ersten zwei Jahrzehnte unseres neuen Jahrhunderts anschauen – wohl der Moment, in dem die Menschheit sich unumstößlich bewusst wurde, dass der Klimawandel wirklich existiert –, können Sie eine veränderte Einstellung oder ein verändertes Verhalten bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit feststellen?
Nationalstaaten, Konzerne und überhaupt alle Menschen müssen sowohl in kleinem als auch in großem Maßstab Veränderungen herbeiführen. Alle Nationalstaaten sind Mitglied in der ein oder anderen zwischenstaatlichen Gruppe, beispielsweise der G7 oder der G77. Manchmal kooperieren Nationalstaaten auch auf regionaler Basis. Diese Beziehungen haben sich im Vergleich zu früher jedoch verändert und sind Teil einer sich verändernden Dynamik. Selbst transnationale Konzerne denken mittlerweile über eine Welt nach, in der ihre Angestellten, die Umwelt und ethische Fragestellungen eine große Bedeutung haben. Eine Gruppe von Großkonzernen, einschließlich von Apple, Pepsi und Walmart, hat kürzlich, im August 2019, eine entsprechende Erklärung in diesem Sinne abgegeben. Wir wissen natürlich nicht, wie ernst sie dies gemeint haben, aber solche Veränderungen sind das Ergebnis politischen und sozialen Drucks und der zunehmenden Umweltprobleme. Wir sollten die Macht von Volksbewegungen nicht unterschätzen. Solche Bewegungen müssen aufrechterhalten und gestärkt werden. Außerdem müssen sie weiter ein Augenmerk auf die gefährdetsten Menschen legen. Solche Veränderungen sind schwierig.
Sie beschäftigen sich seit zwei Jahrzehnten mit dem Thema der vom Klimawandel ausgelösten Migration und Umsiedlung. Seit Sie angefangen haben, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, was hat sich auf der Ebene der Bedrohungsszenarien, der nationalen und internationalen Politik und beim zivilgesellschaftlichen Engagement am stärksten geändert?
Als wir in den frühen 2000er-Jahren mit diesem Thema an die Öffentlichkeit gegangen sind, taten die Mainstream-Medien beim Thema Klimawandel so, als könnte man bei diesem Thema in vielerlei Hinsicht geteilter Meinung sein. Unser Vorschlag, dass man sich bereits jetzt auf zukünftig auftretende Klimaexilanten und Klimamigranten vorbereiten sollte, wurde vielerorts als Witz abgetan. Heute gibt es auf jeden Fall ein höheres Bewusstsein für das Thema Klimawandel und Migration. Neuerdings gibt es Initiativen, die nach einer regionalen Lösung für Migration suchen, beispielsweise die Nansen-Initiative. Zusammenschlüsse von Rechtsanwälten, Wissenschaftlern, Denkfabriken und Aktivisten, die sich mit Rechten beschäftigen, haben auch das Problem diskutiert, dass Klimaexilanten über keinerlei Rechte verfügen. Es hat aber in dieser Frage keine große Bewegung gegeben. Leider gibt es für den rechtlichen Status von Klimaexilanten und Klimamigranten immer noch keine Lösung.
Anm. d. Red.: Sujatha Byravan war Keynote-Speakerin bei der Berliner Gazette-Konferenz MORE WORLD, die vom 10. bis 12. Oktober im ZK/U Berlin stattfand und mit Workshops, Performances und Diskussionen der folgenden Frage nachging: Wie können wir grenzüberschreitend zusammenarbeiten, um dem Klimawandel entgegenzutreten? Eine umfassende Dokumentation der Konferenz mit Projekten, Audios und Videos finden Sie in Kürze hier. Die Interviewfragen stellte die Berliner Gazette-Redaktion im Rahmen der MORE WORLD-Initiative. Ins Deutsche übersetzt von Anna und Edward Viesel. Das Foto oben stammt von Hiroyuki Takeda und steht unter einer CC-Lizenz (CC BY-ND 2.0)
Ein Kommentar zu “Steigende Meeresspiegel: Wie bereitet man sich auf Klima bedingte Migrationen vor?”