BürgerInnen des Globalen Norden machen sich meist nicht so viele Gedanken um ihren Pass und ihre Staatsangehörigkeit. Wer auf dem richtigen “Flecken” Erde geboren wurde, kann fast überall hin reisen, Grenzen spielen kaum eine Rolle. Doch was bedeutet es, wenn man im “Gastland” nach 30 Jahren die Staatsangehörigkeit wechselt? Die Berliner Gazette-Autorin Nancy Chapple macht sich Gedanken. Eine Suchbewegung.
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“Ich muss Dir echt gratulieren,” sagte mein langjähriger Kumpel, seines Zeichens Pianist aus Australien. “Du hast etwas vollendet, was ich nie im Leben machen könnte. Du hast einen Teil Deiner Identität für immer weggegeben”, meinte er. “Identität? Nein, das stimmt nicht,” protestierte ich, wenn auch nicht ganz überzeugt. “Ich bin immer noch grauhaarig, immer noch frech.”
Zwischenmenschlichkeit aufm Amt
Die Dame hinter der Theke hatte mich gebeten: “Bitte schauen Sie auf den neuen Pass, ob alles so richtig ist.” In der Tat: Geburtsdatum und –ort wie gehabt, mein ganzes Leben lang. “Nur bei der Staatsangehörigkeit, die ist ja anders geworden!”, lachte ich sie an. Mein Versuch, zwischen uns eine zwischenmenschliche Verbindung aufflackern zu lassen, hat sie mir mit einem knappen Nicken und einem Schulterzucken abgenommen.
Schon bei der Beantragung meines ersten deutschen Passes hatte ich versucht, mit der Beamtin hinter ihrem Schreibtisch ins Gespräch zu kommen. Zuerst tadelte sie mich, und zwar ohne Blickkontakt: “Sie hätten doch von vornherein über das Online-Formular angeben können, dass Sie sowohl Reisepass als auch Personalausweis beantragen wollten. Es steht doch alles auf der Homepage!”, hat sie sich beschwert.
Da habe ich gleich mehr von mir erzählt, als man das hier zulande Fremden gegenüber üblicherweise macht. Nicht weinerlich, nicht bettelnd – aber schon ein Versuch, über zwischenmenschlichen Kontakt meine Wünsche als “Ausnahme” erfüllt zu bekommen: “Ja, ich habe den Termin ändern müssen, schaffen wir es dennoch heute? Ich würde ungern wieder sieben Wochen warten müssen … ich bin nicht gerade staatenlos, da ich ja die Einbürgerungsurkunde habe, aber …”
Unbehaglich staatenlos
Ich kann mein Unbehagen beim Thema Staatenlosigkeit, bzw. meinen Wunsch, zu jeder Zeit Staatsbürger mindestens einer Nation zu sein, nur sehr schwer in Worte fassen. Was wäre, wenn etwas Drastisches passiert? Etwa, wenn ich auf der Durchreise durch ein fremdes Land fälschlicherweise eines schweren Verbrechens beschuldigt würde? Oder wenn ich für meine Stieftochter in einer heiklen Situation an eine politische Instanz appellieren müsste. Wen spreche ich an, wenn ich keine durch einen Ausweis oder Pass gestützte Nationalidentität besitze?
Giorgio Agamben, Philosoph, beschrieb den Hintergrund zu meinem Gefühl der Beklemmung ziemlich gut: “Es gibt keinen autonomen Ort für so etwas wie den ‚Menschen an sich’ in der politischen Ordnung des Nationalstaats. … Der Staat macht aus der Nativität, aus dem Geborensein und der Abstammung das Fundament der Souveränität selbst.”
Die Beamtin entsprach meiner Bitte und wir kamen ins Gespräch. “Ist doch ein mulmiges, ein komisches Gefühl, oder?” sagte sie mit ihrem müden, überarbeiteten Berliner Beamten-Lächeln, “das höre ich immer wieder …”
Gesellschaftliches Schmieröl
Dass ich gegenüber Staatsbediensteten bemühe, in einen, wenn auch flüchtigen, persönlichen Kontakt zu kommen, liegt daran, dass ich weit entfernt von Deutschland sozialisiert wurde.
Den Kontakt mit Fremden aufzunehmen, sich in Warteschlangen, an Bushaltestellen, vor dem Supermarktregal kurz auszutauschen – das macht man in meiner “Heimat”, in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist vielleicht eine Art gesellschaftliches Schmieröl.
Seit Jahrzehnten erklären mir Deutsche: “Ihr drüben seid zwar freundlich, aber das ist so oberflächlich!” Dass ich den US-amerikanischen Umgangsstil erklären, verteidigen bzw. entschuldigen muss, ist allerdings viel harmloser, als die US-amerikanische Außenpolitik, die neueste Invasion, die Kriegsmaschinerie erklären, verteidigen bzw. entschuldigen zu müssen. Das kann ich nämlich nicht. Persönlich schicke ich keine Bomber los, halte keine Unschuldigen in Guantanamo fest.
Man hat unter Umständen ein mentales Bild von dem feierlichen Anlass, wenn Menschen die US-amerikanische Staatsbürgerschaft annehmen: Eine gemischte Gruppe – im Alter und von den Ethnien her – spricht einen Eid vor der Stars & Stripes-Fahne. Man ist aufgeregt, Tränen fließen, hinterher gibt es viele Umarmungen.
Am Rathaus Schöneberg, im Amtsbüro war es allerdings nicht sehr feierlich: Die Beamtin reichte mir ein etwas abgenutztes laminiertes Kärtchen mit dem Eid darauf, den ich ihr phrasenweise nachzusagen hatte: “Ich gelobe, dass ich als deutsche Staatsangehörige / das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik achten / und alles unterlassen werde, was dem deutschen Staat schaden könnte.” Eid geleistet. Bin ich nun Deutsche? Was bedeutet das überhaupt?
“Deutsch sein”, was heißt das schon?
Der Economist schrieb zur Neuveröffentlichung von Hitlers Mein Kampf, dass die Deutschen, d.h. zumindest die “Westdeutschen”, als “post-national” bezeichnet werden können: Die Fahne würde selten gehisst, die Nationalhymne kaum laut gebrüllt. Stattdessen, so ihre Analyse, fühlte man sich entweder “subnational” (z.B. als Schwabe oder Bayer) oder “supranational” als gute Europäer.
Es gibt natürlich auch Pegida, AfD und Co., die eine ziemlich genaue Vorstellung davon haben, wer und was “deutsch” ist. Der Komiker Jan Böhmermann greift das in seinem neuesten Musikvideo Be deutsch auf. Repräsentieren diejenigen, die “Wir sind das Volk!” brüllen tatsächlich die deutsche Identität? Der Clip gibt eine ziemlich klare Antwort: “Deutsch” heißt heute multikulturell, europäisch, reasonable sein. Und vor allem: Stolz darauf zu sein, nicht stolz zu sein.
Mit diesem Mangel an übertriebenen Nationalismus komme ich und kam ich schon immer gut klar. Berlinerin, Wahl-Europäerin, Lieber-Nicht-Amerikanerin – das sind alle Identitäten, mit denen ich auf Anhieb etwas anfangen kann. Aber jetzt Deutsche?
Die Deutschen selbst wurden in einer YouGov-Umfrage gefragt, welche Personen bzw. Sachen sie mit Deutschland assoziieren. Die Antworten: VW, Goethe, Angela Merkel, Nationalhymne, Nationales Fußballteam, Willy Brandt, Hitler.
Die neue Beziehung
Was bedeuten mir, der “Neu-Deutschen”, diese Schlagworte? Ich bin hier zwar nicht aufgewachsen, habe aber doch mein Leben als selbstbestimmte Erwachsene hier verbracht. VW – dominiert Wolfsburg, wenn ich durchfahre, jahrelang dominierte zahlenmäßig der Golf die Straßen. Goethe – ich lese gerne die deutschen Klassiker, aber Faust hat mich über die Jahrzehnte nicht so angesprochen wie Kleist, Kafka, Bernhard.
Frau Merkel als “Mutti der Nation”? – nie so empfunden. Nationalhymne – keine emotionale Beziehung; musikalisch war mir die Hymne der DDR lieber. Fußball: Ich kenne einige Namen aus dem nationalen Fußballteam; ich erinnere mich gut an die Euphorie auf den Berliner Straßen erst Monate nach dem Mauerfall, an die Fanmeile 2006, an den Empfang des Teams nach ihrem Sieg in Brasilien. Willy Brandt ist meinen beiden norddeutschen Ehemännern von Bedeutung gewesen. Und dann gibt’s Hitler.
Ja, ich verbinde eine Menge mit jedem dieser Punkte – seitdem ich hier lebe, wächst meine Verbindung dazu. Es ist zwar nicht meine eigene kulturelle Truhe – aber eine mit sehr vielen persönlichen Resonanzen. Und nun?
Stolz sein? Nur ab und an
Ehrlich gesagt ist es nicht das, was mir Deutschland gegeben und die USA genommen hat: die Staatsbürgerschaft. Selten hat man die Gelegenheit, darüber vertieft nachzudenken, da man ohne eigenes Tun hineingeboren wird. Sie regelt die Beziehung zwischen Einzelnen und dem Staat. Wann sage ich jetzt “wir”? Wann sage ich “ihr”?
Der Duden definiert “Staatsangehörigkeit” als die “juristische Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat”. Oftmals werden auch “die Rechte und Pflichten eines Bürgers” betont. Nun: die Ämter der Stadt Berlin kennen mich: Seit fast 30 Jahren bin ich hier angemeldet, reiche Steuererklärungen ein. Ich stehe im Grundbuch als Wohnungseigentümerin.
Darf ich es mir aussuchen? Nicht, dass ich abwechselnd Deutsche und Amerikanerin sein will – das habe ich jetzt endgültig geklärt. Aber darf ich entscheiden, wann ich stolz bin, Deutsche zu sein – und wann nicht?
Hier wäre so ein Fall. Eine Freundin aus Chicago schrieb mir: “I’ve thought of you in reading how generous Berlin is being in providing for Middle East refugees.” Und obwohl ich gleich im Augenblick ihrer Bewunderung wusste – so einseitig positiv ist diese Willkommensheißung nicht, Gegenstimmen allerlei Couleur gibt es – hat ihre Äußerung mich gerührt.
Aber jetzt, wo sich die Diskussion immer weiter von den leidenden Kriegsflüchtlingen entfernt und immer tiefer in den Schlammsümpfen deutscher Landespolitik landet – jetzt würde ich gerne wieder auf Distanz gehen.
Anm. d. Red.: Die Fotos stammen von Mark Nye, lordtyler, DiMiTRi und Peter Thoeny, sie stehen unter einer Creative-Commons-Lizenz.
Wunderbar geschrieben. Danke!
Ich finde es ganz in Ordnung, dass die Deutschen mit dem nationalen Mumpitz es nicht so ernst nehmen. Natürlich wäre das für Neueingebürgerte besser, Zeremonien und Rituale zu haben. Vielleicht so ein “morgendliches” Gegenstück zum Großen Zapfenstreich, irgendwas Feierliches mit Altniederländischem Dankgebet, Posaunenchor usw. Jedenfalls ein lustiges Projekt sich darüber Gedanken zu machen wie eine würdige Einbürgerungszeremonie oder Neubürgertaufe aussehen kann.
Ich wäre stolz darauf nicht einen unkultivierten Menschen wie Donald Trump zur Wahl gestellt zu bekommen, wobei die Konkurrenz ja nicht viel liebreizender ist. Die Flüchtlingspolitik ist nur das Lindern des Leidens anderer, das taugt nicht zur Rührung. “Generous” zweifellos, schlimm eher wie sich andere Staaten in der Situation verhalten.
klasse .. die Frage nach der Deutschen Identität so veranschaulicht.. ich habe viel geschmunzelt und mich selbst befragt .. jetzt gebe ich den Artikel aber fix weiter, damit auch andere ihn lesen
Klasse, liebe Nancy! Deine Outside-in-Beobachtungen waren immer scharf. Dein Artikel an der Schnittstelle ist es auch. Nun bin ich gespannt auf gelegentliche Äusserungen zur Inside-out-Perspektive. Bestimmt hochinteressant in einer Zeit, wo die USA versuchen, die gleiche Erfahrung zu machen wie die Deutschen 1933 – in aller Unschuld. Es bleibt spannend.