Der Krieg in der Ostukraine wirft nach wie vor viele Fragen auf: Wer hat den Krieg ins Land gebracht? Wer berichtet objektiv und wahrheitsgetreu darüber? All das einzuschätzen, fällt schwer. Umso wichtiger ist die Vielfalt der Stimmen. Der Journalist Nikolai Berdnik, der ursprünglich aus Horliwka kommt, übt scharfe Kritik an der Solidarisierung mit Kriegstreibern.
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Ende November 2015 ist eine Gruppe deutscher Linkspolitiker, darunter die Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko und Wolfgang Gehrcke, über Russland in die „Volksrepublik Donezk“ gereist.
Das deklarierte Ziel der Reise war es, Medikamente ins Kinderkrankenhaus der Stadt Gorlowka zu bringen – eine an sich ehrenwerte Sache, die allerdings zur Desinformation über den Konflikt in der Ostukraine, Diffamierung der ukrainischen Regierung und indirekt auch zur Legitimierung selbsternannter Machthaber in „Neurussland“ missbraucht wurde.
Christiane Reymann, Publizistin und Linken-Politikerin, die ebenfalls zur Delegation gehörte, hat daraufhin einen Bericht veröffentlicht, in dem sie ihre Eindrücke von der Lage in der „Volksrepublik Donezk“ schilderte.
Die Reise nach Gorlowka, schreibt Reymann, sei für sie eine Gelegenheit gewesen, „auch einmal die andere Seite wahrzunehmen“ – aus der Perspektive der Menschen, die in der „Donezker Volksrepublik“ leben. Dieses Streben nach Pluralismus beim Ukraine-Konflikt wäre an sich begrüßenswert. Doch Reymann ist offensichtlich nicht viel daran gelegen, die Zustände im Donbass und die Hintergründe des Geschehens in der Konflikt-Region objektiv zu schildern.
Herrschaft prorussischer Milizen
In ihrer „Reportage“ findet sich kein einziges Wort der Kritik an den „volksrepublikanischen“ Machthabern, die maßgeblich für den Terror im Donbass verantwortlich sind. Auch lässt Christiane Reymann keine Menschen zu Wort kommen, die die Herrschaft prorussischer Milizen in ihrer Region ablehnen. Die Gegenseite des Konflikts ist im Artikel nicht präsent, als würde es sie gar nicht geben.
Glaubt man der Darstellung von Christiane Reymann, hat einzig die ukrainische Regierung Schuld am Leid der Menschen im Donbass. Die „Kiewer Armee“ führe einen Krieg gegen die Zivilisten in Gorlowka, wo es „keine einzige militärische Einrichtung“ gäbe. Dabei bestätigen zahlreiche Augenzeugen, dass prorussische Milizen absichtlich aus den Wohnvierteln der Stadt mit schwerer Artillerie geschossen haben, um die ukrainischen Kräfte zum Gegenfeuer zu provozieren – mit dem Ziel, Hass gegen die Ukraine in der Bevölkerung zu schüren und sich selbst als „Verteidiger“ der Einheimischen darzustellen.
Auch findet Reymann es nicht erwähnenswert, dass die prorussischen Milizen die von der ukrainischen Regierung kontrollierten Städte beschossen haben – man denke nur an den brutalen Beschuss von Mariupol im Januar 2015, bei dem Dutzende Zivilisten getötet und verletzt wurden.
Kampfname „Bes“ – auf Deutsch: „Teufel“
Die Stadt Gorlowka, wo es laut Reymann „keine einzige militärische Einrichtung“ gäbe, war von Anfang an des Konflikts eine Hochburg der von Russland gesteuerten Milizen. Die Separatisten-Kämpfer in dieser Stadt wurden von Igor Besler (Kampfname „Bes“ – auf Deutsch „Teufel“) kommandiert. Es gibt Hinweise darauf, dass es seine Kämpfer waren, die im Juli 2014 den Flug MH17 mit einer aus Russland gelieferten Rakete abgeschossen haben.
„Bes“, dem die Arbeit in russischen Geheimdiensten nachgesagt wird, hat sich im November 2014 nach Russland abgesetzt – wie zuvor schon Igor Girkin (alias Igor Strelkow). Strelkow kam im Frühjahr 2014 mit einer bewaffneten Gruppe aus Russland in den Donbass und besetzte die Stadt Slawjansk, was den Anfang des Krieges in der Region markierte. Heute lebt der Terrorist Igor Strelkow unbehelligt in Russland.
Wer den Krieg in die Ostukraine gebracht hat
Doch Christiane Reymann schreibt nicht, wer den Krieg in die Ostukraine gebracht hat. Auch verliert sie kein einziges Wort darüber, dass Russland die Milizen im Donbass – auch in Gorlowka – ausgiebig mit Kriegsgerät und Kämpfern versorgt. Dass Russland die „Volksrepubliken“ militärisch unterstützt, ist dabei eine erwiesene Tatsache.
Im Internet gibt es reichlich Videomaterial, das es bestätigt. Dieses Video aus Gorlowka zeigt zum Beispiel Kämpfer auf Transportpanzern, die gar keinen Hehl daraus machen, dass sie aus Russland angereist sind. Auch dieses und jenes Video wurden in der benachbarten Stadt Jenakijewo aufgenommen, die ebenfalls von Separatisten kontrolliert wird.
Doch nach der Darstellung von Christiane Reymann sind die ukrainischen Truppen die eigentlichen – und auch die einzigen – Kriegstreiber. Im ganzen Bericht findet sich nur ein einziger vager Hinweis darauf, dass es auch die andere Seite in diesem Krieg gibt: „Die OSZE-Beobachtermission stellt regelmäßig Verstöße gegen den Waffenstillstand durch beide Seiten fest“.
Das Heimatmuseum in Donezk
Dabei geht sie in ihrer „Reportage“ so weit, die ukrainischen Truppen mit dem IS gleichzusetzen. Im Bericht kommt der ehemalige Direktor des Donezker Heimatmuseums zu Wort, der der ukrainischen Armee die mutwillige Zerstörung des Museums unterstellt. „In Syrien zerstört der IS die Artefakte, bei uns die ukrainische Armee“, sagt er. Diese Aussage wird von Reymann ganz unkritisch übernommen.
Das Heimatmuseum in Donezk wurde während der Kämpfe im Sommer 2014 tatsächlich schwer durch Artilleriebeschuss beschädigt. Doch dafür, dass die ukrainische Armee es zu verantworten hat oder dass sie gar eine „mutwillige Vernichtung“ des Museums anstrebte, gibt es keine Beweise – anders als für die Zerstörung von Kunstobjekten durch prorussische Milizen.
Im Sommer 2014 haben die Kämpfer der „Volksrepublik“ das Gelände des renommierten Donezker Art-Zentrums „Isoljazija“ besetzt und die Installation „Make Up!“ von Pascale Marthine Tayou in die Luft gejagt. Hier findet man eine Videoaufnahme dieser Zerstörungsaktion. Und der Donezker Maler Sergej Sacharow verbrachte für seine Protestkunst mehrere Wochen in der Separatisten-Gefangenschaft, wo er gefoltert wurde.
Verfolgung von Andersdenkenden
Jemandem, der objektiv über die Zustände im Donbass berichten will, sollte es bekannt sein, dass es die Separatisten waren, die den Terror in diese Region gebracht hatten – und zwar noch bevor die Kämpfe eskalierten. Verfolgung von Andersdenkenden, Entführungen von proukrainischen Aktivisten, Folterungen und Enteignungen waren in der Ostukraine seit Beginn des „russischen Frühlings“ an der Tagesordnung.
International bekannt wurde der Fall von Wolodymyr Rybak, einem oppositionellen Abgeordneten des Stadtrats von Gorlowka. Rybak ließ sich von den selbsternannten Herrschern den Mund nicht verbieten und lehnte sich gegen diese auf. Daraufhin wurde er im April 2014 entführt, gefoltert und auf eine bestialische Art ermordet.
Es gibt Hinweise darauf, dass dieses Verbrechen von den Anführern prorussischer Milizen Ihor Besler und Igor Strelkow organisiert wurde. Auch der Fall der ukrainischen Aktivistin Irina Dowgan hat international Aufsehen erregt. Sie wurde im August 2014 auf offener Straße in Donezk an den Pranger gestellt und stundenlang von Passanten misshandelt.
Schuss in den Rücken
Nicht nur Beschießungen waren der Grund dafür, dass, wie Reymann zu Recht schreibt, ein Drittel der Einwohner die Stadt verließ. Es war auch die von Anhängern „Neurusslands“ geschaffene Atmosphäre von Angst und Terror, die die Menschen ins Exil trieb. Viele von ihnen übersiedelten übrigens nicht etwa in die weniger umkämpften Städte der „Volksrepubliken“ oder nach Russland, sondern in die von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teile des Landes.
Um ihre „Reportage“ abzurunden, erzählt Reymann zum Schluss vom Tod der Krankenschwester Wiktoria Bondar. Die Frau sei Anfang Dezember nahe der Stadt angeblich „von ukrainischer Seite aus mit einem Schuss in den Rücken durch einen Scharfschützen ermordet“ worden. Laut Berichten örtlicher Medien sei die Mutter zweier Kinder im Landstreifen zwischen den Stellungen ukrainischer Truppen und prorussischer Milizen ums Leben gekommen.
Die Obduktion habe gezeigt, dass sie an Schussverletzungen starb – in keinem der Berichte war aber von einem Scharfschützen die Rede. Der Tod einer Zivilistin ist in jedem Fall eine Tragödie – doch die Ermordung einer Frau durch einen ukrainischen Scharfschützen hat natürlich eine ganz andere Wirkung auf die Leser als der Tod durch zufällige Kugeln oder Splitter.
Was „Neurussland“ betrifft
Halbwahrheiten, Manipulationen und Verdrehungen von Tatsachen in der Darstellung des Konflikts in der Ostukraine sind typisch für jenen reaktionären und proputinschen Teil der deutschen Linken, zu dem auch Christiane Reymann, Andrej Hunko und Wolfgang Gehrcke gehören. Ihre Gesinnungsgenossen verteufeln die ukrainische Regierung als „Kiewer Junta“. Kriegsverbrecher in den „Volksrepubliken“ werden zugleich zu „Antifaschisten“ und „Antiimperialisten“ hochstilisiert.
Was „Neurussland“ betrifft, so sind viele Linken-Politiker auf dem rechten Auge vollkommen blind und schauen notorisch darüber hinweg, dass die „volksrepublikanischen“ Milizen von Anfang an von Rechtsextremen, Nationalbolschewisten und offenen Neonazis infiltriert waren. (Mit faschistoiden Einheiten in „Neurussland“ setzt sich die Recherche des ukrainischen linken Aktivisten Kyrylo Tkachenko auseinander.)
Gerne solidarisiert sich dieser Teil der Linken mit den Machthabern und Milizen in den „Volksrepubliken“. Andrej Hunko und Wolfgang Gehrcke pflegen besten Kontakt zu den Separatisten-Führern in Donezk und posieren mit ihnen für gemeinsame Erinnerungsfotos.
Unwissenheit mit Kriegstreibern
Vor kurzem ging es sogar weiter: In diesem Januar wurde auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz der Zeitung „Junge Welt“ Alexej Markow, einer der Kommandeure der berüchtigten Separatisten-Brigade „Prisrak“ („Gespenst“), per Video-Chat zugeschaltet.
In einer Videobotschaft begrüßte Markow die Konferenz-Teilnehmer, unter denen auch die Spitzenpolitiker der Linkspartei Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht waren, „von der Frontlinie des Kampfes gegen den Faschismus der Gegenwart“ in der Ukraine. Die Zuhörer im Saal haben sich mit ihm solidarisiert – und in einem Porträt, das Ende Dezember 2015 in der „Jungen Welt“ erschien, wird der aus Russland stammende Kämpfer gar als „Humanist im Flecktarn“ gefeiert.
Es mag durchaus sein, dass sich manche Linke aus Unwissenheit mit Kriegstreibern in den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk solidarisieren und tatsächlich meinen, „Antifaschisten“ und „Antiimperialisten“ zu unterstützen. Doch es ist kaum vorstellbar, dass dieser Wissensmangel auch unter Politikern der Linkspartei, „Junge Welt“-Reportern oder Veranstaltern der Rosa-Luxemburg-Konferenz besteht.
Ihre Solidarisierung mit Kriegstreibern in „Neurussland“ ist vielmehr ein ganz bewusstes Handeln, das letztendlich dem putinschen Imperialismus in die Hände spielt – und keinesfalls zum Ende des Terrors in den Donbasser „Volksrepubliken“ beiträgt.
Danke, endlich mal ein kritischer Artikel hier auf der Gazette zum Thema Ukraine!